Wilma und Georg Iggers. Zwei Seiten der Geschichte: Lebensbericht aus unruhigen Zeiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002. 320 S. + 15 Abb. EUR 25.00 (cloth), ISBN 978-3-525-36265-5.
Reviewed by Marcus Pyka (Abteilung fuer Juedische Geschichte und Kultur des Historischen Seminars der Ludwig-Maximilians-Universitaet Muenchen)
Published on H-German (October, 2004)
Wissenschaftler-Memoiren koennen ein sehr trockenes Genre sein. Wenn sie lediglich eine zu Text geronnene Publikationsliste bieten etwa. Oder wenn sie eine einzige blosse Abfolge von absolvierten Konferenzen und Lehrveranstaltungen darstellen. Oder eine Liste von Kolleginnen und Kollegen, die entweder vergessen sind oder aber auf Grund von Ruecksichten doch nur als Namen mit Werkverzeichnis auftauchen. Interessanter wird ein solcher Lebensbericht, wenn der oder die Autoren eine Rolle in der Gesellschaft gespielt haben und dies in den Erinnerungen reflektieren. Das zwanzigste Jahrhundert hat bekanntlich viele Biographien in einer Weise gepraegt, der sich auch die Bewohner vermeintlicher Elfenbeintuerme nicht entziehen konnten. Dies gilt ebenso fuer nicht wenige Historiker. Und selbst wer nicht das Schicksal eines Marc Bloch oder eines Simon Dubnow geteilt hat, sondern "nur" Emigration oder Repressalien erleiden musste, blieb kaum in seiner wissenschaftlichen Arbeit von diesen Erfahrungen unbeeinflusst. Das hier vorzustellende Buch stammt aus der Feder zweier Wissenschaftler mit solchem biographischen Hintergrund. Und in seinen staerksten Partien reflektiert es genau diesen Erfahrungshintergrund, schildert es die Konsequenzen, die beide hieraus gezogen haben, sowie die sich daraus ergebenden Wirkungen.
Die Literaturwissenschaftlerin Wilma Iggers, geb. Abeles, und ihr Mann, der langjaehrige Professor fuer European Intellectual History in Buffalo (New York), Georg Iggers, wurden beide in den 1920er Jahren in Mitteleuropa geboren: sie als Tochter einer wohlhabenden Paechter-Familie in der Naehe der tschechoslowakischen Stadt Eger (dem heutigen Cheb), er als Sohn eines eher gluecklosen Kaufmanns in Hamburg. Der juedische Hintergrund beider Familien war durchaus vorhanden, wurde aber in der Rueckschau verstaerkt bewusst fuehlbar, als mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und seinen Ausstrahlungen auch ihre jeweilige Umgebung darauf reagierte.
Unabhaengig von einander emigrierten sie mit ihren engsten Angehoerigen 1938 nach Amerika, Wilma nach Kanada, Georg in die USA. Beide gingen in den 1940er Jahren an die Universitaet in Chicago, wo sie unter anderem bei Arnold Bergstraesser studierten. Fuer Georg jedoch war der Theologe James Luther Adams von groesserer Bedeutung; dieser naemlich habe fuer ihn das Ideal verkoerpert "eines Gelehrten, der Wissenschaft mit aktivem sozialen Engagement verbindet" (S. 91). Und diesem Ideal folgen die weiteren Seiten dieser bemerkenswerten Doppel-Autobiographie, wie sie sich in der Folge entwickelt. Mit einer gewichtigen Einschraenkung: Denn wohl noch wichtiger als Ideale und Geistesgroessen wurde fuer jeden der beiden, dass sie hier in Chicago einander kennengelernt haben. Zwar ist auch das weitere Buch in abwechselnde Text-Stuecke von "Georg" respektive "Wilma" untergliedert; die vorliegende Darstellung folgt zu einem ueberwiegenden Teil aus Georgs Perspektive. Das vorherrschende Pronomen ist freilich das "wir" (und wer jemals das Ehepaar Iggers gemeinsam erlebt hat, kann erahnen, dass es sich hierbei nicht um eine galante Floskel handelt).
Der akademische Lebensweg verschlug sie beide 1950 in die Suedstaaten, nach Little Rock in Arkansas, um dort an einem afroamerikanischen College zu lehren: Wohlgemerkt als Weisse, ungeachtet des damit verbundenen Misstrauens seitens der Mehrheit der weissen Bevölkerung wie auch weisser Kollegen. Eine solche Ausnahmerolle haette bereits fuer einiges Interesse ausgereicht. Umso mehr gilt dies fuer ihre Bemuehungen um die Aufhebung der Rassentrennungs-Gesetze. Den Erfolg dieser Bemuehungen konnte langfristig nicht einmal der erstmalige Einsatz der Nationalgarde in Little Rock 1957 verhindern. Ihr grosses Engagement in der Buergerrechtsbewegung sollten die Iggers auch spaeter in New Orleans und schliesslich in Buffalo fortsetzen. Diese Teile enthalten zweifellos die spannendsten und beeindruckendsten Passagen des Doppelwerkes.
Fuer den deutschen Rahmen mag es hingegen wichtiger sein, beider Involvierung in die verschiedenen Versuche wissenschaftlicher Kontakte ueber den Eisernen Vorhang hinweg zu verfolgen. Insbesondere die Geschichtswissenschaft, ihre Vertreter und ihre politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in beiden deutschen Staaten stehen hierbei im Mittelpunkt der Erinnerungen. Die westdeutsche Seite bleibt dabei leider etwas blass (abgesehen von bemerkenswerten Einzelaspekten wie etwa den Reaktionen von Walter Hubatsch und Thomas Nipperdey auf Iggers' grosse Studie zur Geschichtsauffassung des deutschen Historismus [S. 253-256]). Lebendiger sind dagegen die Schilderungen von DDR-Fachvertretern wie Werner Berthold und Wolfgang Kuettler gelungen, um nur zwei zu nennen. Bei der Darstellung dieser ostdeutschen Kollegen und ihrer Lebens- und Arbeitswelt gelingt es Georg Iggers (wie seiner Frau im Falle ihrer tschechischen Freunde), die Atmosphaere der Zeit einzufangen. Gerade das Kapitel ueber "Drueben" schafft es, darueber hinaus auch ein differenziert-kritisches Bild des geschilderten Kontextes zu vermitteln.
Zu den Vorzuegen des Buches gehoert allgemein, dass beide Autoren gerade die politischen und gesellschaftlichen Umstaende ihrer jeweiligen Lebensabschnitte bewusst wahrgenommen und reflektiert haben. So stellt sich dann beispielsweise bei aller Erleichterung die Emigration aus dem weiteren NS-Machtbereich nach Amerika nicht als eine simple Erfolgsstory in ein gelobtes Land ohne Antisemitismus dar. Gleichzeitig vermeiden sie platte Gleichsetzungen, so sehr auch einige Rassentrennungs-Vorschriften etwa in oeffentlichen Verkehrsmitteln an aehnliche Regelungen im Deutschland der 1930er Jahre erinnern mochten.
Mitunter moechte man sich (gerade als nachgeborene Leser, fuer die das Buch ausdruecklich auch geschrieben ist) eine deutlichere Einbindung dieses Kontextes und seiner Bedeutung wuenschen; so laesst sich die Rolle, die Chicagos Universitaet in den 1940er Jahren gespielt hat, nur erahnen, und bloss der ganz am Rande erfolgte Hinweis auf die Schriften des seinerzeit in Illinois lehrenden Leo Strauss erinnert daran, dass der eine oder andere von Wilmas und Georgs Kommilitonen sich nicht zeitlebens fuer Demokratisierung und Buergerrechte engagiert haben mag, sondern heute im Lager der Neokonservativen zu finden ist. Wenngleich derlei Kontextualisierungen die Grenzen einer klassischen Autobiographie vielleicht ueberschreiten wuerden--einige wenige kommentierende Kurzinformationen waeren schlichtweg ein Dienst am Leser gewesen. Denn zumindest im deutschen Kontext ist die Kenntnis eines Seder-Abends wohl immer noch nicht als selbstverstaendlich vorauszusetzen. Hier waere das Lektorat des Verlags gefordert gewesen, das auch bei der Betreuung des Textes (zumal der thematischen Buendelung) gleichfalls das ein oder andere Mal haette eingreifen duerfen. Das Register koennte ebenfalls zuverlaessiger sein. Ungeachtet solcher Kleinigkeiten eher praktischer Natur haben Wilma und Georg Iggers mit ihrem beeindruckenden "Lebensbericht" ein Buch geschrieben, das weit mehr als bloss "zwei Seiten" der europaeischen und amerikanischen Geschichte in der zweiten Haelfte des 20. Jahrhunderts schildert.
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Marcus Pyka. Review of Iggers, Wilma und Georg, Zwei Seiten der Geschichte: Lebensbericht aus unruhigen Zeiten.
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