Herman Freudenberger. Lost Momentum. Austrian Economic Development 1750s-1830s. Wien, KÖ¶ln, Weimar: BÖ¶hlau Verlag, 2003. 301 S. EUR 45.00 (gebunden), ISBN 978-3-205-77061-9.
Reviewed by Michael Pammer (Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Linz)
Published on HABSBURG (September, 2003)
Lost Momentum?
Lost Momentum?
Es ist zu einem Gemeinplatz in der wirtschaftshistorischen Literatur geworden, dass die Habsburgermonarchie zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Entwicklungsstand und allgemeine Voraussetzungen für die weitere Entwicklung ähnlich den deutschen Ländern aufgewiesen habe. Im Lauf des 19. Jahrhunderts sei diese nicht ungünstige Position verspielt worden, bis zum Ersten Weltkrieg war jedenfalls das Deutsche Reich wirtschaftlich bei weitem erfolgreicher geworden, der Schwung, den das Habsburgerreich unter Maria Theresia und ihren drei Nachfolgern gezeigt hatte, war in der zweiten Jahrhunderthälfte dahin. Der Titel des Bandes bezieht sich auf diese Entwicklung, obwohl im Buch selbst im Wesentlichen nur die erste, die erfolgreiche Phase behandelt wird.
Herman Freudenberger hat sich in seiner jahrzehntelangen Arbeit als Professor an der Tulane University in New Orleans intensiv mit verschiedensten Aspekten der frühen Industrialisierung in der Habsburgermonarchie beschäftigt. Unter seinen Arbeiten sind Untersuchungen über Industrie-, Verkehrs- und Finanzunternehmen, über die Rolle des Staates in der Wirtschaft, vor allem aber über die Bedeutung von Unternehmerpersönlichkeiten. Alle diese Themen prägen auch den vorliegenden Band, der in einem einleitenden Kapitel die Bedeutung der Landwirtschaft im Kontext der Gesamtwirtschaft und in den zwei umfangreicheren Hauptteilen die Rolle des Staates in der österreichischen Wirtschaft und die Unternehmer als treibende Kräfte der Entwicklung behandelt.
Besonders griffig und lesbar sind dabei die unternehmergeschichtlichen Teile ausgefallen. Freudenberger verfolgt hier einen biografischen Ansatz und präsentiert ausgewählte Unternehmerpersönlichkeiten, die jeweils für einen Typus von Unternehmern in der frühen Industrialisierung stehen: Personen, die aus dem Gewerbe kamen und durch zügige Erweiterung ihrer Betriebe in andere Größenordnungen vordrangen; Handelsleute, die teils räumlich konzentriert, teils im Verlag eine eigene Produktion aufzogen; Bankiers, die nicht nur Industrie- und Verkehrsunternehmen finanzierten, sondern sich auch an deren Gründung maßgeblich beteiligten; Angehörige von konfessionellen Minderheiten, Juden, Griechen und Reformierte, die trotz weiterhin bestehender Benachteiligungen erfolgreich als Industrielle tätig waren; Adelspersonen, die ihre beträchtlichen Kapitalien zu Verbesserungen ihrer Wirtschaft bis hin zur Ansiedlung industrieller Unternehmungen nutzten; und zu guter Letzt ein Kaiser, Franz Stephan, der sich erfolgreich als Geschäftsmann im großen Stil betätigte.
Hier trifft man auf Persönlichkeiten wie Johann Liebieg und Johann Joseph Leitenberger, die noch aus dem Gewerbe kamen, auf die Bankiers Johann Fries, Salomon Mayer Rothschild und Georg Simon Sina und auf Adelige wie Johann Joseph Waldstein und Joseph Johann Schwarzenberg, um nur einige der Namen zu nennen. Über etliche von ihnen wie Waldstein oder Schwarzenberg hat Freudenberger bereits ausführlich publiziert, ebenso über wichtige Kapitel der frühen Industrialisierung, etwa die Brünner Textilindustrie, die hier ebenfalls besprochen wird. Der Vorzug dieser Darstellung liegt darin, dass der Autor die verschiedenen Wege zu einer Tätigkeit als Unternehmer, die Rolle der einzelnen Persönlichkeit, aber auch die biografischen Zufälle, die das Ergebnis mitbestimmten, deutlich macht.
Während auf diese Weise die Unternehmergeschichte aus der mikroökonomischen Perspektive zu einer durchaus fesselnden Darstellung geführt hat, unterlässt es der Autor, dieselben Fragen aus der Gegenrichtung anzusehen: Welche verhältnismäßige Bedeutung hatten die verschiedenen Typen von Unternehmern in der Gesamtwirtschaft beziehungsweise im Zusammenhang der gesamten gewerblich-industriellen Produktion? Waren etwa die Angehörigen des Hochadels, die als solche unter den Industriellen wohl besonders auffallen, auch nach den wirtschaftlichen Daten eine besonders wichtige Gruppe? Welche biografischen Verläufe kennzeichneten die frühe Industrialisierung in besonderer Weise, wenn man mit der späteren Entwicklung vergleicht? Diese Fragen bleiben offen.
Freudenbergers Schwerpunktsetzung in der Unternehmergeschichte hat ihren Grund in einer expliziten, wenn auch knappen Bezugnahme des Autors auf Schumpeters Überlegungen über die entscheidende Rolle des innovativen Unternehmers im wirtschaftlichen Entwicklungsprozess. Das Umfeld, in dem diese Unternehmer tätig waren, beschreibt der Autor in zweierlei Hinsicht, nämlich einerseits hinsichtlich der politischen Entwicklungen, andererseits im Hinblick auf die Situation in der Landwirtschaft (ein weiterer relevanter Punkt wäre etwa die demographische Entwicklung, die hier kein Thema ist).
Die Darstellung der Politik beschränkt sich nicht nur auf die Wirtschaftspolitik, sondern diskutiert auch Fragen wie die Bildungspolitik, die mit der allgemeinen Alphabetisierung zu einer beträchtlichen Veränderung in der Qualifikation der Bevölkerung führte, ein Prozess, der allerdings in dem von Freudenberger behandelten Zeitraum noch nicht abgeschlossen war. Hauptthemen sind aber doch Steuern, Währung, Infrastruktur, allgemeine Rechtsgrundsätze und auch die Kameralistik als Lehrfach in Österreich.
Zwei Thesen des Autors sind hervorzuheben: Erstens sein mehrfacher Hinweis auf die Tendenz der österreichischen Gesetzgebung, prinzipiell gleiche Normen für alle gelten zu lassen, was auch in der franziszeischen Zeit gelte. Diese These steht im Einklang mit dem generell durchaus vorhandenen Modernisierungswillen und der Fortführung aufklärerischer Prinzipien durch die franziszeische Regierung auch in der Sozialpolitik, ein Punkt, der neben der reaktionären Verfassungspolitik dieser Epoche und der wenig beeindruckenden Person des Kaisers oft übersehen wird.
Die zweite These betrifft die von Freudenberger konstatierte Neigung des Staates zur übermäßigen Intervention in der Wirtschaft, worin der Autor einen der wesentlichen Gründe für den vergleichsweise bescheidenen Erfolg der österreichischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert sieht. Diese These begründet Freudenberger allerdings nicht ausreichend. Die zitierten Stimmen der Zeitgenossen, die eine unerhörte Steuerbelastung, eine Überregulierung durch den Staat und ähnliches beklagen, sind für sich genommen wenig erhellend, da man solche Äußerungen wohl für die meisten Länder und zu jeder Zeit sammeln könnte. Hier müssten doch die wirtschaftlichen Auswirkungen einzelner Regelungen konkretisiert und quantifiziert werden, um einen verhältnismäßigen Nachteil der österreichischen Unternehmen gegenüber ihren deutschen Konkurrenten erkennen zu können.
Welchen Beitrag zum Verständnis des Hauptthemas lost momentum liefern nun all diese Ausführungen? Eine schlüssige Erklärung ist schwer auszumachen. Sicherlich meint Freudenberger nicht, dass es im weiteren Gang der Entwicklung an Unternehmerpersönlichkeiten gefehlt hätte und deshalb die österreichische Wirtschaft ins Hintertreffen geraten musste. Was die hier beschriebene Rolle des Staates, vor allem aber die Bedingungen in der Landwirtschaft betrifft, ist überhaupt schwer zu verstehen, warum die österreichische Wirtschaft um 1800 vergleichsweise erfolgreich, um 1900 hingegen verhältnismäßig schwach war, da vieles an den nachteiligen Bedingungen, die Freudenberger für die frühe Phase beschreibt, im Lauf der Zeit verschwand.
So hebt der Autor zu Recht hervor, dass der Staatsbankrott 1811 und die auch in den folgenden Jahren weitergehende Währungskrise die Wirtschaft stark belasteten und einen der wesentlichen Gründe für die schwächere Entwicklung bis in die dreißiger Jahre bilden. Offensichtlich waren die Rahmenbedingungen in dieser Hinsicht in der zweiten Jahrhunderthälfte weitaus günstiger.
Ganz unerklärlich wird nach Freudenbergers Darstellung die Entwicklung in der Landwirtschaft: Die Landwirtschaft um 1800 erscheint in diesem Buch in einem äußerst düsteren Licht: Die Einkommen der Bauern seien durch konfiskatorische Abgaben und Steuern extrem niedrig gewesen, und die Produktivität habe durch die Robotverpflichtungen gelitten. Hier wirkt sich die offenkundige Aversion des Autors gegen allgemeinere quantitative Abschätzungen aus: Hier müsste doch dargelegt werden, wie viel von der landwirtschaftlichen Produktion in den Eigenverbrauch ging, wie viel vermarktet wurde, wie hoch tatsächlich der Anteil an Steuern und Abgaben war und welchen Anteil speziell die Robotleistungen am gesamten Arbeitsausmaß in der Landwirtschaft hatten. Eine solche Abschätzung findet man hier, von vereinzelten teilweise offenkundig übertriebenen Angaben von Zeitgenossen abgesehen, nicht.
Die geringe Produktivität der Robot wurde in der Agrargeschichtsschreibung meist als Grund für die große wirtschaftliche Bedeutung der Grundentlastung angeführt. Anstelle von Robotleistungen, die mit geringer Motivation, weil für fremde Rechnung geleistet wurden, hätten die Bauern nach 1848 auf eigene Rechnung und damit produktiver gearbeitet. Diese Annahme ist aber keineswegs unbestritten geblieben: Selbst wenn man eine geringere Produktivität einer Stunde Robot, verglichen mit einer Stunde Arbeit auf eigene Rechnung des Bauern, akzeptiert, sei, so John Komlos, der gesamtwirtschaftliche Effekt vermutlich nicht besonders groß gewesen, vor allem deshalb, weil die Robot nur einen geringen Teil der gesamten Arbeitszeit ausmachte.[1]
Wie dem auch sei, wesentlich ist im hier gegebenen Zusammenhang, dass vor dem Hintergrund des düsteren Bilds von der Landwirtschaft um 1800 die von Freudenberger hervorgehobenen geringen Produktionszuwächse im Agrarbereich nach 1848 umso unverständlicher werden. Die Aufhebung der Grundherrschaften mit Robotansprüchen und lokalen Gewerbe- und Handelsmonopolen hätte doch eigentlich nach Freudenbergers Prämissen die Produktivität in der Landwirtschaft sogar in besonderem Maß erhöhen und der Wirtschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte zusätzlichen Schwung verleihen müssen.
So ergeben die einzelnen, für sich mit Gewinn zu lesenden Teile dieses Bandes zusammengenommen kein einheitliches und bruchloses Bild, und die Frage nach dem lost momentum bleibt eigentlich unbeantwortet.
Anmerkung:
[1]. John Komlos, The Habsburg Monarchy as a Customs Union: Economic Development in Austria-Hungary in the 19th Century (Princeton: Princeton University Press, 1983), deutsch Die Habsburgermonarchie als Zollunion. Die Wirtschaftsentwicklung Österreich-Ungarns im 19. Jahrhundert (Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1986).
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Citation:
Michael Pammer. Review of Freudenberger, Herman, Lost Momentum. Austrian Economic Development 1750s-1830s.
HABSBURG, H-Net Reviews.
September, 2003.
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