Margareth Lanzinger. Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten. Innichen 1700-1900. Wien: BÖ¶hlau Verlag, 2003. 384 S. EUR 39.00 (gebunden), ISBN 978-3-205-99371-1.
Reviewed by Maria Heidegger (Universität Innsbruck)
Published on HABSBURG (July, 2003)
Heirat als Schlüsselmoment des ländlichen Lebens
Heirat als Schlüsselmoment des ländlichen Lebens
Bekanntlich stellt eine Eheschließung einen in mehrfacher Hinsicht komplexen sozialen Vorgang dar. Am punktuellen Ereignis der Heirat--so Margareth Lanzinger--laufen unterschiedliche Fäden zusammen, hier treffen Vorstellungen und Interessen aufeinander, Aktionsradien und Machtpositionen von Frauen und Männern, Familien, Gemeinde und Verwandtschaft werden erkennbar. Aus diesem Grund ist die Heirat für Historiker und Historikerinnen, die hier ansetzen, um eine besonders "dichte" Mikroanalyse (ländlichen) Lebens durchzuführen, ein besonders glückliches Ereignis.
Die Autorin des hier anzuzeigenden Buches versteht es auf der Grundlage umfassender Archivrecherchen ausgezeichnet, diesen "Schlüsselmoment" zum Anhaltspunkt ihrer Studie auszugestalten. Vergleichbare Forschungsansätze finden sich beispielsweise bei Hans Medick, der Heirat als "Dreh- und Angelpunkt eines bei Arm und Reich höchst unterschiedlichen Verlaufs der Ressourcenaufteilung zwischen älterer und jüngerer Generation" charakterisiert und bei David Sabean, der unter anderem Neuarrangements von Besitz auf der Grundlage von Heiratskontrakten in Neckarhausen untersucht.[1]
Zweifellos kann nun Margareth Lanzingers Studie mit diesen Pionierarbeiten historisch-anthropologischer Mikrohistorie verglichen werden. Auch hier umfasst der mikrohistorische Blick in einer Langzeitperspektive über zwei Jahrhunderte (1700-1900) mehrere Generationen. Die 1999 in Wien als Dissertation eingereichte Studie über die im Rahmen der sozialen Praktiken Heiraten und Erben ausgehandelten Interessen, Strategien und Handlungsweisen von Frauen und Männern ist im lokalen Kontext des Marktes Innichen im südtirolischen Pustertal angesiedelt.
Das auch äußerlich sehr ansprechend gestaltete Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt umreißt die Autorin die "Schnittpunkte" ihrer wissenschaftlichen Annäherung: Geschlechtergeschichte, Historische Anthropologie und Mikrogeschichte, wiederholt ertragreich miteinander kombinierte Perspektiven, werden pointiert in ihrer Nützlichkeit für das konkrete Forschungsunternehmen skizziert. Hervorzuheben ist dabei das von Gadi Algazi vertretene Konzept der strukturierten Handlungsrepertoires und Handlungsoptionen, um situationsgebundene und individuelle Heirats- und Erbpraktiken zu rekonstruieren.
Der zweite Abschnitt bietet vorab eine Annäherung an den Untersuchungsraum und bettet, ausgehend von einem Spitznamen für die Innichner Bevölkerung (die "Suppenburger"), das Thema Heirat sowohl in einen lokalpolitischen Kontext als auch in einen größeren politischen und sozioökonomischen Rahmen ein. Beschrieben wird auf dieser Etappe die lokale Praxis im Kontext mit dem Bürgerrecht im Markt Innichen und seine sozialen Konsequenzen sowie die Folgen für die Institutionen Heirat und Familie. Zur Debatte steht die Verzahnung zwischen Bürgerrecht und Heiratsmustern, denn der Bürgerstatus allein stattete Männer nicht mit der vollen Rechtsfähigkeit aus, sie mussten auch verheiratet sein.
Lanzinger erarbeitet anhand von exemplarisch herausgegriffenen Quellenbeispielen die lokale Praxis bei Bürgereinkäufen, Differenzierungen in der Tarifgestaltung, Aufnahmebereitschaft von Seiten der lokalen Entscheidungsträger und Momente der Integration. Im Testfall Illegitimität werden ständisch-bürgerliche Ordnungsvorstellungen, eng verflochten mit katholisch-kirchlichen Inhalten, untersucht. Die Illegitimitätsraten in Innichen waren relativ niedrig und lagen im 19. Jahrhundert bei knapp 6%--bei spätem Heiratsalter und hoher Anzahl zeitlebens Lediger. Lanzinger begründet dieses Muster mit der weitgehend erfolgreichen Durchsetzung einer besonders rigiden Sexualmoral sowie mit einem ausgeprägten und stark internalisierten Katholizismus. Niederlassung und Bürgerrecht--damit werden zunächst männliche Aktionsfelder dargestellt.
Frauen waren aus der politischen Dimension des Bürgerrechts ausgeschlossen. Als interessantes Zwischenergebnis von Lanzingers Studie ist die positive Kehrseite dieses Ausschlusses festzuhalten: Frauen konnten sich zumindest vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen leichter als Männer irgendwo anders niederlassen--das bedeutet "möglicherweise einen größeren Spielraum in ihrer Mobilität" (S. 82).
"Äcker kälbern nicht"--dieses Sprichwort meint, dass Ackerboden nicht beliebig vermehrbar ist und möglichst nicht verkauft werden sollte. Im dritten Abschnitt ihrer Arbeit erörtert Lanzinger das durch dieses Sprichwort komprimierte dörfliche Wissen, bewährte Arbeitweisen und Handlungsstrategien inklusive der darin verpackten didaktisch-moralischen Anleitungen im lokalen Kontext. Grundsätzliche Vorsicht gegenüber und zögerliche Rezeption von Neuerungen im Zuge der Agrarreform, um hier nur ein Beispiel herauszugreifen, machten aus der Perspektive subsistenzwirtschaftlich orientierten Haushaltens durchaus Sinn - es handelt sich um dörfliches "Insiderwissen", um Vertrauen auf überliefertes Erfahrungswissen und nicht um irrationalen Konservatismus, wie er Tirolern gern unterstellt wird.
An diese Gedanken anschließend folgt eine Diskussion der lokalen Ordnungen bzw. Fragen nach Zweck und Formen kommunalen Managements von gemeinsamen Nutzungsflächen. Quellengrundlage sind hier die Protokolle der Gemeinde-Abhaltungen aus dem Zeitraum 1858 bis 1910. Die ausgedehnte zeitliche Perspektive erlaubt Lanzinger dabei, massive Veränderungen in diesem Zeitraum wahrzunehmen. Bezüglich der gemeindlichen Organisation der Ressourcennutzung und Aufteilung der Lasten und Nutzen auf alle Partizipanten am Beispiel der Alpendeputierten stellt die Autorin in einem Vergleich zwischen den 1850-60er Jahren und den 1880er Jahren fest, dass aus einer Aufgabe, die ursprünglich alle Männer irgendwann ausüben sollten, ein Amt wurde, das die Hauptinteressenten wahrnahmen. Das Turnussystem verschwand, es kam zu einer Konzentration von Zuständigkeiten in immer weniger Händen. Und da das dörfliche Handwerk aufgrund industrieller Konkurrenz einen Niedergang erlebte und außerdem im regionalen Umfeld keine Industrialisierung folgte, waren das die Hände einiger weniger tonangebender Bauern und Wirtsleute.
Pointiert charakterisiert die Autorin das lokale Ressourcenmanagement der Innichner mit dörflichen Vorstellungen von "Gerechtigkeit" und Begriffen wie Partizipation, Rotation, Aufteilung von Lasten, Abgeltung von Belastungen und Mehrarbeit im Dienst der Allgemeinheit und Kontrolle. Hinzu kam eine rigide Abschließung nach außen und eine strikte Trennung von "fremd" und "eigen".
Nutzungsrechte gingen mit Hausbesitz einher. Haus und Hof spielen denn auch die Schlüsselrollen im vierten Abschnitt. Als Einstieg dient der Verfasserin ein lokal sehr verbreitetes Hochzeitsritual, wonach das Brautpaar vor versperrter Tür des künftigen Heims um Einlass bitten musste. Am Schnittpunkt Heirat waren Zuständigkeitsbereiche im Haus und Hof neu zu definieren und Machtkonstellationen abzuklären, Vereinbarungen waren zu treffen. Die Autorin diskutiert die Sozialräume Haus, "Haushalt", Hof zunächst in ihrer Bedeutung als Bindeglieder zwischen der kommunalen und familialen Sphäre - wiederum konsequent auf lokaler Quellenbasis. Ihre Interpretation von Quellenbegriffen wie "Verhausen" und "Erhausen" erklärt auf diese Weise ein Denken in Hauskategorien, bei dem Wachstum als weit weniger wichtig angesehen wurde, als das Bestehende zu erhalten.
Die detaillierte Rekonstruktion von Besitzgeschichten ganzer und geteilter Häuser über einen langen Zeitraum erlaubt ein interessantes Ergebnis: Offenbar waren die Innichner im 18. Jahrhundert verglichen mit dem 19. Jahrhundert unabhängig vom sozialen Status innerhalb des Ortes weit mobiler, eine Art "Stammsitzdenken" scheint erst im Lauf der Zeit an Bedeutung gewonnen zu haben. Als Indikatoren dienen Lanzinger unter anderem Haus- und Hofnamen.
Das Anerbenmodell wird mittels eines familienorientierten Ansatzes kritisch auf seine praktische Handhabung durchleuchtet, wobei konkrete Vorgangsweisen in ausgewählten Familien des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht werden. Auf diese Weise verdichtet sich auch für Innichen der Eindruck, dass sich die Situation im 19. Jahrhundert in Richtung auf eine strikter gehandhabte Erbfolge, zunehmende Immobilität des Besitzens und geringere Flexibilität verhärtete.[2]
"Liebesgeschichten" und "Heiratssachen" betitelt Lanzinger den fünften und letzten Abschnitt ihres Buches. Die zugkräftige Überschrift irritiert, denn von Liebe ist in dieser sehr sachlich-nüchternen Bearbeitung des Themenbereichs eher wenig die Rede. Die "Kategorie" Liebe wird am ehesten im Kontext der Widerstände gegen obrigkeitliche Ehehindernisse thematisiert. Detailliert und quellennah werden vielfältige Arrangements zwischen Eheleuten und zwischen den Generationen beschrieben. Die Quellen--Heiratsverträge--zeigen, "was in welcher konkreten Konstellationen als regelungsbedürftig erschienen ist und in welcher Form unterschiedliche Ausgangssituationen und geschlechtsspezifische Muster dabei zum Ausdruck kamen" (S. 277).
Einen noch tieferen Einblick in Motivationen und Problemhorizonte eröffnen allerdings die Dispensansuchen, die im Falle einer beabsichtigten Eheschließung innerhalb der Schwägerschaft oder Verwandtschaft gestellt werden mussten. Lanzinger versucht eine geschlechtsspezifische Interpretation exemplarischer Dispensgeschichten. Zuletzt wird noch die Entstehung von Paarbeziehungen innerhalb der Verwandtschaft, zwischen Berg und Tal sowie innerhalb des kleinräumigen nachbarlichen Umfelds diskutiert --wobei Lanzingers Resultate unter anderem quellenbedingt partiell bleiben müssen.
Die Autorin beabsichtigt mit ihrer Arbeit Dichotomien zu durchbrechen: zum einen im Hinblick auf eine dichotomische Sicht des Geschlechterverhältnisses, zum anderen hinsichtlich der Dichotomie zwischen Wandel und Kontinuitäten bzw. "modern" versus "rückständig". Beide Begriffspaare sind relationale Begriffspaare, die stets im Nebeneinander zu denken sind. Dies werde, so Lanzinger, offensichtlich, wenn man den Blick auf die Rechte und Möglichkeiten von Frauen und auf die Veränderungen von Geschlechternormen im Zug der Modernisierung lenkt.
Umgekehrt stelle sich die Frage nach den geschlechtsspezifischen Implikationen eines im Dorf vorherrschenden Denkens in Kontinuitäten und "altem Herkommen", ein Denken in Kategorien von Ordnung und Stabilität (S. 15). Ein solches Denken basierte beispielsweise, so die Autorin, auf einem von vielen Frauen und Männern mitgetragenen Verzicht auf Ehe und Familie. Um dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt sich eine mikrohistorische Rekonstruktion von Beziehungsnetzen und Interaktionen, wobei der Blick mehrere Generationen umfasst--eine Perspektive, die sich den historischen Akteurinnen und Akteuren allerdings so nicht bot.
Kontexte werden möglichst umfassend rekonstruiert, soll heißen, "dass ein Thema von verschiedenen Seiten her, jeweils einen anderen Fokus einkreisend, erarbeitet wird" (S. 17). Sozioökonomische Fragestellungen zur Praxis des Erbens, Heiratens und "Hausens", zum Umgang mit Besitz, Kapital und Zinsen etc. kommen dabei bevorzugt zum Einsatz, die auf der Quellenbasis schwer zu rekonstruierenden emotionalen Beziehungsqualitäten innerhalb der besprochenen Sozialräume werden dagegen kaum berücksichtigt.
Zusammenfassend gibt es zumindest drei gute Gründe, diesem Buch und seiner Autorin breite Rezeption zu wünschen. Erstens lässt die Arbeit keine Zweifel an den Vorteilen und Möglichkeiten einer mikrohistorischen Forschungsperspektive, die es erlaubt, auch Variationen individuellen und familiären Handelns wahrzunehmen. Familiäre und verwandtschaftliche Beziehungsnetzwerke eröffneten ein Set von historischen Handlungsräumen und -optionen. Margareth Lanzingers Umsetzung umfangreicher Quellenrecherchen (Matrikelbücher im Stiftsarchiv Innichen, Dispensansuchen und Konsistorialakten im Diözesanarchiv Brixen, Sitzungsprotokolle im Gemeindearchiv Innichen sowie Verfachbücher im Tiroler Landesarchiv Innsbruck) ist gelungen--und gut zu lesen. Insgesamt überzeugt auch die Auswahl der Fallbeispiele--wobei weniger manchmal vielleicht mehr gewesen wäre.
Zweitens erweitert Lanzingers Studie das Spektrum der klassischen Familiengeschichtsforschung, indem das Ehepaar, oft als Handlungseinheit wahrgenommen, konsequent und stärker als bisher in Frauen und Männer aufgesplittet wird--eine Perspektive, die angesichts der in Tirol gültigen zivilrechtlichen Grundlagen der Ehe (eheliche Gütertrennung) ohnehin unverzichtbar ist. Darüber hinaus werden die vielfältigen Beziehungen der Eheleute mit den soziokulturellen und lokalpolitischen Umfeldern--insbesondere Gemeinde und Verwandtschaft--in der Rekonstruktion konkreter Heiraten berücksichtigt. Das so entstehende Bild ist überaus differenziert. Drittens regt dieses Buch dazu an, Mikrostudien selbst weiter zu betreiben, einige Fäden wiederaufzunehmen, das Netz noch dichter zu spinnen. Margareth Lanzinger liefert dafür reichlich Impulse und lockt in das Archiv.
Anmerkungen:
[1]. Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996), S. 327; David Warren Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen: 1700-1870 (Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1990), S. 198-201.
[2]. Ähnliche Ergebnisse erzielen Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrücker Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650-1860 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 110 Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994, 2. Aufl. 1997) sowie Michaela Hohkamp, "Wer will erben? Überlegungen zur Erbpraxis in geschlechtsspezifischer Perspektive in der Herrschaft Triberg von 1654-1806", Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (Historische Zeitschrift Beihefte NF 18, München: Oldenbourg, 1995), S. 327-341.
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Citation:
Maria Heidegger. Review of Lanzinger, Margareth, Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten. Innichen 1700-1900.
HABSBURG, H-Net Reviews.
July, 2003.
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