Alexander Kierdorf, Uta Hassler. Denkmale des Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit der Industriekultur. TÖ¼bingen und Berlin: Wasmuth, 2000. 316 S. (gebunden), ISBN 978-3-8030-0604-2.
Reviewed by Martin Schmidt (Rheinisches Industriemuseum Euskirchen, Tuchfabrik Mueller)
Published on H-Museum (July, 2002)
Eigentlich ueberfaellig war ein solcher Band schon seit einiger Zeit. Denn die Diskussion ueber den Umgang mit dem industriellen Erbe ist keine neue Debatte, und Schlagworte wie "Umbau statt Abriss" toenen nicht erst in den letzten Jahren durch die Feuilletons. Wie der hier vorzustellende Band zeigt, hat die Auseinandersetzung mit diesem Teil des historisch-kulturellen Erbes bereits eine ueber 200jaehrige Tradition. Und immer wieder sind in dieser Zeit Fragen nach dem technischen oder industriellen Denkmal gestellt worden. Was ist unter einem solchen zu verstehen? Wie soll damit umgegangen werden?
Mit dem vom Lehrstuhl fuer Denkmalpflege und Bauforschung der Universitaet Dortmund herausgegeben Band legen Alexander Kierdorf und Uta Hassler nicht etwa eine neuerliche Zusammenstellung mehr oder weniger bedeutender Industrieanlagen vor, sondern moechten "eine differenzierte Geschichte der Denkmalpflege" (S.6) bezogen auf die Hinterlassenschaften der industriellen Tradition anbieten. Es geht den Autoren um die Entfaltung der entsprechenden theoretischen Grundlagen einer von ihnen durchaus auch kritisch beurteilten Fachrichtung. Wer das grossformatige Werk jedoch in der Erwartung eines weiteren opulenten Bildbandes der Kathedralen der Industriekultur zur Hand nimmt, wird enttaeuscht werden. Zwar ist das ueber 300 Seiten starke Buch mit mehr als150 Abbildungen in schwarz/weiss reich bebildert; doch verfolgen Kierdorf und Hassler ein anderes Ziel. Es wird nicht etwa ein Katalog moeglicher Formen von Erhaltung, Nutzung und Zerstoerung von Industriekultur angestrebt, vielmehr illustrieren und belegen die Plakate, Zeichnungen, Grafiken oder auch die eindrucksvollen historischen Fotografien die Reflexion der Autoren.
Kierdorf und Hassler stuetzen sich bei ihrer Arbeit auf die Ergebnisse eines dreijaehrigen Forschungsprojektes, welches das Ministerium fuer Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen seit 1992 finanzierte. Dass Uta Hassler in den als programmatische Einleitung zu verstehenden Bemerkungen "Vom Kultobjekt zur Ressource" daher einen "gewissen Schwerpunkt bei der Auswahl der Materialien im Raum zwischen Rhein und Ruhr" konstatiert, braucht nicht zu irritieren. Sollte es diesen ueber den aus der Sache durch aus begruendbaren tatsaechlich geben, wirkt er sich bei der Lektuere des Buches nicht negativ aus. Denn dass sich NRW mit seiner hohen Dichte an bedeutenden Industrieanlagen fuer eine solche Studie hervorragend eignet, hat unlaengst ja Axel Foehl mit seinem Band "Bauten der Industrie und Technik in Nordrhein-Westfalen" (Berlin 2000) belegt.
Wegen des methodischen Ansatzes einer "Fachgeschichte im historischen, kulturellen, oekonomischen und politischen Kontext" (S. 6) gehen die Autoren nicht streng chronologisch vor, sondern gliedern ihr Buch in acht Themenbereiche, deren Ueberschriften bereits den ambitionierten Vorstoss einer Gesamtschau auf das Thema verdeutlichen:
I. Ansichten von Industrie im 19. Jahrhundert
II. Zwischen Heimatschutz und Technikgeschichte: Das Technische Kulturdenkmal
III. Die Industrie des 20. Jahrhunderts: Macht, Triumph und Zerstoerung
IV. Die Entdeckung des industriellen Erbes: Industriearchaeologie als Forschungsidee
V. Ein neues Geschichtsbild: Industriekultur, Alltag und demokratische Identitaet
VI. Die langsame Annaeherung an das Industriedenkmal
VII. Die Entstehung und Wandel der Erhaltungskonzepte
VIII. Perspektiven: Deindustrialisierung und das Ideal ressourcenschonenden Wirtschaftens
Wird in den "Ansichten der Industrie" zunaechst der Blick auf die "unterschiedlich entwickelte Wahrnehmungsfaehigkeit und -absicht" (S. 13) des 19. Jahrhunderts gelenkt und somit die Basis der spaeteren Diskussionen skizziert, widmet sich das Kapitel "Zwischen Heimatschutz und Technikgeschichte" einer ersten Phase des Geschichtsbewusstseins zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist der dort ausgefuehrte Hinweis auf die Debatte zwischen Oskar von Miller (Initiator des Deutschen Museums Muenchen) und dem Berliner Professor fuer Maschinenbau, Alois Riedler, der bereits damals forderte, die gesamten wirtschaftlichen Verhaeltnisse und der damit verbunden sozialen Strukturen museal darzustellen - eine Haltung, der sich erst das spaete 20. Jahrhundert mit Erfolg annahm. Doch nicht nur die Musealisierung von Technik à la Muenchen nach dem stuermischen Aufbau der Industriegesellschaft ist Thema. Sehr ausfuehrlich schildert Kierdorf, der fuer die ersten sieben Kapitel des Bandes verantwortlich zeichnet, die Entwicklung der Inventarisierung und strukturierte Aufnahme der "technischen Kulturdenkmale", ohne dabei die Probleme mit den Definitionen des Begriffes zu verleugnen. Ein Kern seiner Ausfuehrungen ist die Theoriebildung der 20er Jahre, die zumindest im Westen der Republik bis in die 50er und 60er Jahre Bestand hatte. Er beschraenkt sich dabei im Uebrigen nicht allein auf die deutsche Perspektive (Ost und West) sondern verweist auf den europaeischen Kontext.
Das dritte Kapitel wird von einer Darstellung ueber die Bewertung der "neuen" Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts eingeleitet. Namen wie der des Architekten Peter Behrens oder des Journalisten Friedrich Naumann sowie Organisationen und Kooperationen wie die Heimatschutzbewegung, der Werkbund oder die Arts-and-Crafts-Bewegung bestimmen die Diskussion ueber Funktion und Wirkung von Industriebauten. Eine Erklaerung fuer dieses im Zusammenhang des Buches ueberraschende architekturtheoretische Kapitel liefert Kierdorf in dessen letzten Abschnitt selbst: "Ohne die Beschaeftigung mit diesen Entwicklungen und die Analyse der neunen Perspektiven sind weder die sich wandelnden Einstellungen zu Industrie und Technik noch der sich unter den Bedingungen von Bevoelkerungs- und Staedtewachstums, Wirtschaftskrisen, Zerstoerung und Mangel veraendernde Umgang mit Industriebauten in dieser Zeit zu verstehen. [...] Wer den Stellenwert der oft ideologisch-pragmatisch gemeinten Industriearchitektur nicht kennt, dem ist auch ihre zeitgenoessische wie moderne Rezeptionsgeschichte nicht verstaendlich. Hier liegen bewusst geschaffene Wurzeln fuer das architektonisch gepraegte Bild vom Industriedenkmal" (S. 94).
Erst das vierte Kapitel widmet er sich wieder dem eigentlichen Thema des Bandes. Hier ist die Ueberschrift ,Die Entdeckung des industriellen Erbes: Industriearchaeologie als Forschungsidee' Programm. Kierdorf spuert den "Wurzeln" und den "Interessen" dieses Beschaeftigungsfeldes nach. Seit den 50er Jahren wurde mit der in England angeregten Auseinandersetzung ueber das materielle Erbe der juengeren Vergangenheit das in Deutschland nach wie vor vorherrschende Paradigma "der im wesentlichen vorindustriell, gestalterisch und konstruktionsgeschichtlich festgelegten Beschaeftigung mit Denkmalen historischer Technik" (S. 107) durchbrochen. Es verwundert daher nicht, dass Kierdorf in eigenen Abschnitten zunaechst das Beispiel England und dann die "erste[n] industriearchaeologischen Aktivitaeten in Deutschland" vorstellt. Doch auch hier begnuegt er sich nicht mit einem eingeschraenkten Blickwinkel. Ein zwar kurzer, aber dennoch aufschlussreicher Abschnitt oeffnet die Perspektive auf die internationale Buehne, auf Kongresse und den Austausch der Fachwelt und deren Implikationen auf die Debatte.
Beschaeftigte sich das gerade angesprochene Kapitel auch mit der Industriearchaeologie und in diesem Zusammenhang mit der Denkmalpflege, die bereits in den 70er und 80er Jahren zunehmend die Inventarisierung von architektonischer Hinterlassenschaft des Industriezeitalters und deren Bewertung als Denkmale uebernommen hatte (S. 114), verweisst das nun folgende auf die Notwendigkeit der Kontextualisierung. Nach Kierdorf benoetigt insbesondere die Denkmalpflege einen "Bezugsrahmen, eine Vorstellung von historischer Entwicklung und Bedeutung der Industrialisierung und der Industriegesellschaft" (S. 145), um arbeiten zu koennen. Erst diese sei die Grundlage "fuer das Verstaendnis, die Erforschung und den Erhalt der baulichen Zeugnisse" (ebd.). Unumgaenglich, so lehrt das Buch, ist daher zudem die Kopplung mit den Nachbardisziplinen der Sozial- und Wirschaftsgeschichte. Gelingt es Kierdorf den Zusammenhang mit letzteren ueberzeugend zu transportieren, ist die Verknuepfung zur Kunstgeschichte eher verwirrend dargestellt. Auch wenn er zu recht formuliert, "es mag gewagt erscheinen, unter dem schillernden Begriff der Industriekultur Kunst- und Baugeschichte, Alltags- und Sozialgeschichtsforschung und die Bewertung der Geschichtswerkstaetten [...] zu verknuepfen" (S. 164), ist dies doch ein hoch interessanter Ansatz. Bereits als ein Vorgriff auf folgende Kapitel koennte der Abschnitt ,Alltagskultur und Museum' verstanden werden. Allerdings ist es hier Absicht, den Wandel in der Praesentation zu erlaeutern: "Fuer die museale Konzeption steht oft der assoziative Wert eines einzelnen Objektes im Vordergrund, seine direkte Aussagekraft; es verdinglicht, komprimiert einen Kontext" (S. 158). Bereits in diesem Abschnitt deutet Kierdorf das Dilema an, was sich aus der Standortwahl der in den spaeten 70er und 80er Jahren gegruendeten neuen Museen zur "Industriekultur", zur "Sozialgeschichte" oder zur "Arbeit" ergab; denn nicht immer war diese Verbindung fuer die Erhaltung der Denkmale foerderlich.
Eher aus der Praxis des Denkmalpflegers argumentiert Kierdorf im vorletzten Kapitel aus seiner Feder (VI). Hier beruehrt er Themen wie "Stadtsanierung und Denkmalschutz", "Definition und Begruendung" sowie die Probleme und den Wandel bei "Inventarisierung und Auswahl" und der dafuer noetigen "Bewertungskriterien". Wer hier allerdings Antworten sucht, wird diese nur mittelbar finden. Zwar wird auf die heute gueltigen Verfahren und Ansaetze verwiesen, der Autor bleibt jedoch seinem fachgeschichtlichen Ansatz treu.
Die letzten beiden Kapitel des Bandes setzen sich mit dem Wandel der Erhaltungskonzepte auseinander: Kapitel VII eher aus historischer Sicht, das achte - von Uta Hassler geschriebene - eher perspektivisch, d.h. zukunftsorientiert. Der kritische Ansatz Kierdorfs - insbesondere auch zu Museumsprojekten und ihrer aus seiner Sicht das Denkmal oft eher angreifenden Wirkung - ist diskussionswuerdig, in Bezug auf die Industriekultur und die Darstellung der Alltagsgeschichte in Museen der 70er Jahre jedoch richtig (vgl. S. 243). Seine aus den Ausfuehrungen zum "Industriedenkmal als Ruine" zu erahnende Haltung duerfte ebenfalls auf Kritik stossen. Es koennte dennoch der Eindruck eines salomonischen Richters entstehen, wenn Kierdorf formuliert, "die Vielzahl der Erhaltungskonzepte sollte es erleichtern, bei jedem Objekt die Ziele und Moeglichkeiten individuell festzulegen" (S. 240). Liest man jedoch weiter, wird der Autor als Anwalt des "authentischen Geschichtszeugnisses", wie Denkmale seit Georg Dehio definiert werden, sichtbar. Und als solcher formuliert der Denkmalpfleger Kierdorf: "Der Denkmalschutz koennte [...] manchmal unter dem Einfluss von Machbarkeits- und Verwertungsdogmen versucht sein, seiner vielleicht wichtigsten und letzten Aufgabe zu entkommen: Anwalt gerade des nicht Nutzbaren, des Ueberfluessigen, des momentan Ungeliebten und Abgelehnten zu sein" (ebd.).
Ute Hassler verlaesst den historischen Ansatz des Buches. Die Motivation zu diesem abschliessende Kapitel findet sich auf Seite 265: "Im letzten Jahrzehnt konnten [...] extrem kontraere Haltungen gegenueber den Zeugnissen des Industriezeitalters entstehen: ihre rigorose Ablehnung als ideelle und materielle Belastung erhoffter (aber unrealistischer) zukuenftiger Entwicklungen einerseits und der Wille, historische Strukturen vor allem als Belege einer verschwindenden industriellen Welt sichtbar zu erhalten, andererseits. Pragmatische Kompromisse einzelner "Bildstoecke" in neue Baugebieten eingefuehrter Industrierelikte und hochambitionierte, aber oft ueberinszenierte Umbauloesungen historischer Industriebauten sind sichtbare Ergebnisse dieser gesellschaftlichen Ambivalenz." Hassler verlangt daher eine Neubewertung der materiellen Ueberreste und zwar ideell und materiell. Oekologisches Denken im Sinne Michael Petzets Wort von der "Umwelttherapie" kraenkelnder Staedte durch Denkmalschutz ist genauso Thema wie Industriemoderne und Landschaft als Loesung des Gegensatzes von Industrie und Natur. Und auch die Steuerung von Entwicklung durch die Einbeziehung der Industrierelikte - des Wandels ohne neues flaechenverschlingenden Wachstums - werden behandelt und durch aus kritisch gesehen ("IBA EmscherPark" an Ruhr und Emscher, Londoner Docklands, Textilstadt Lowell etc.). Schlussendlich betont Hassler, dass die Nutzung der ihr am Herzen liegenden Objekte eine nachhaltige und ressourcenschonende Form laengst erzeugter Ressourcen darstellt.
Jedes Kapitel wird ergaenzt durch eine Quellentextsammlung aus einerseits verdienstvoll zusammengetragener oft nur schwer zugaenglicher Texte und wohl bekannter Traktate. Diese Meilensteine stammen von bekannten Namen wie Conrad Matschoss, Rainer Slotta oder Ákos Paulinyi. Es begegnen dem Leser jedoch auch Auszuege aus Schriften von Karl Friedrich Schinkel oder Guenter Wallraff. Jeder Autor wird mit einer kurzen Bemerkung zur Person vorgestellt, die auch der breiten Oeffentlichkeit zumindest einen erste Hilfe geben, wer sich aus welcher Profession heraus aeussert.
Begriffe wie "Denkmale historischer Technik", "Industriekultur" und "Industriearchaeologie" werden erlaeutert ohne definiert zu werden. Wer griffige Definitionen und deutliche Standpunkte sucht, sei auf die Quellentexte verwiesen. Zwischen Denkmalen, Architektur- und Geschichtstheorie und fachhistorischer Historiographie bleibt der Band kein trockenes akademisches Machwerk, vielmehr ist es den Autoren elegant gelungen, wissenschaftlichen Anspruch und lebendige Lektuere zu verbinden. Ein den Band erschliessendes Register, eine Zeittafel zur Industriedenkmalpflege ergaenzen den Text. Lediglich das Literaturverzeichnis vermisst man schmerzlich, denn die in den Anmerkungen zahlreichen Publikationshinweise waeren es wert gewesen, sich nicht nur am Seitenrand zu verstecken.
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Citation:
Martin Schmidt. Review of Kierdorf, Alexander; Hassler, Uta, Denkmale des Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit der Industriekultur.
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July, 2002.
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