Martin Scheutz. Alltag und KriminalitÖ¤t. Disziplinierungsversuche im steirisch-Ö¶sterreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert. Wien und MÖ¼nchen: R. Oldenbourg Verlag, 2001. 599 S. EUR 69.00 (gebunden), ISBN 978-3-7029-0452-4.
Reviewed by Ralf-Peter Fuchs (Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München)
Published on HABSBURG (October, 2001)
Sozialdisziplinierung unter Konkurrenzdruck
Sozialdisziplinierung unter Konkurrenzdruck
Das historische Konzept der Sozialdisziplinierung ist in den letzten Jahren vornehmlich durch intensive Quellenstudien gerichtlichen Aktenmaterials in Bedraengnis geraten. Dem Bestreben, "Verbindungslinien" zur Fruehen Neuzeit auf der Ebene von normativen Prozessen aufzuzeigen, [1] die in die Gegenwart hineinreichen, sind Hinweise auf Diskontinuitaeten und auf Eigengesetzlichkeiten der fruehneuzeitlichen Lebenswelten, unter anderem unterschiedlichste Interessenlagen der Menschen und die Komplexitaet von Machtstrukturen, entgegengehalten worden. Wenn Martin Scheutz vor diesem Hintergrund von "Disziplinierungsversuchen" im steirisch-oesterreichischen Grenzgebiet des 18. Jahrhunderts spricht, deutet dies auf einen vorsichtigen Umgang mit diesem Paradigma hin. Nichtsdestoweniger bilden Fragen der Disziplinierungsforschung den zentralen Punkt seines Buches, hier allerdings unter dem Vorbehalt der Beruecksichtigung der vielfaeltigen Auspraegungen der ordnenden Maechte und der disfunktionalen Aspekte.
Die Grundlage dieser Arbeit, die ein breites Spektrum an herrschaftlichen Amtstraegern im Bemuehen des Einwirkens auf die ihnen anvertrauten Untertanen nachzeichnet, bilden die Aktenbestaende des Landgerichtes Gaming- Scheibbs, die sich im Niederoesterreichischen Landesarchiv Sankt Poelten befinden. Ausserdem wurde das Marktgerichtsprotokollbuch des kleinen Marktes Scheibbs, eine Quelle, die im Stadtarchiv zu Scheibbs einsehbar war, ausgewertet. Die Materialien gestatten einen fundierten Ueberblick ueber Konflikte, Kriminalitaet und Ordnungsstrategien im Landgerichtsbezirk des Karthaeuserklosters Gaming, einer Region, die zum einen durch laendliches Wirtschaften, zum anderen durch Proviant- und Eisenhandel gepraegt war. Die Kartause, die 1782 saekularisiert wurde, befand sich seit dem 14. Jahrhundert im Besitz ihrer gerichtsherrschaftlichen Rechte ueber das Umland. Einen bedeutenden herrschaftlichen Faktor bildete in diesem Gebiet aber auch das Marktgericht der Mediatstadt Scheibbs. Sowohl laendliche als auch staedtische Macht- und Konfliktstrukturen werden somit fuer den Untersuchungszeitraum in den Blick genommen. Dabei wurde auf die komplette heutige Ueberlieferung des Landgerichtsarchivs fuer das 18. Jahrhundert, teilweise noch weit darueber hinaus, zurueckgegriffen. Weitestgehend komplett vorhanden sind auch noch die marktgerichtlichen Bestaende.
Martin Scheutz stellt der Interpretation dieses Materials ausfuehrliche quellenkritische Ueberlegungen voran. Als ausgewiesener Kenner gerichtlicher Verhoerprotokolle skizziert er Form und Sprache sowie nachvollziehbare Strategien auf seiten der verhoerenden wie der verhoerten Personen. Am Beispiel eines Giftmordes zeigt er die Grenzen des Historikers bei der Klaerung von Motiven und Hintergruenden auf. Andererseits werden die Moeglichkeiten serieller Quellenarbeit verdeutlicht. Eine Uebersicht ueber den Anfall der aktenkundig gewordenen Delikte im 18. Jahrhundert zeigt die durchgehend hohe Relevanz von Eigentumsvergehen auf und laesst zudem erkennen, dass das Interesse der Obrigkeiten an der Bestrafung von Sexualdelikten nach 1750 stark zurueckging. Diese Ergebnisse werden vor dem Hinweis auf die erzielten Ertraege der in den letzten Jahrzehnten etablierten Historischen Kriminalitaetsforschung entfaltet. Dabei wird angesichts eines ohnehin verspaeteten Durchbruchs im deutschsprachigen Raum konstatiert, in Oesterreich sei dieser Forschungszweig der Sozialgeschichte noch immer nicht ueber ein Anfangsstadium hinausgekommen (S. 63).
Die naehere Untersuchung der "Disziplinierungsgewalten" und ihrer Muehen und Noete bei der Ausuebung ihrer Pflichten setzt beim Gaminger Hofrichter an. Diesem hoechsten weltlichen Beamten der Kartause fielen neben der Jurisdiktion auch Aufgaben bei der Ausuebung der Grundherrschaft und zudem Funktionen bei der Ueberwachung der Kirchenzucht zu. Sowohl im Hinblick auf die landgerichtlich zu ahndenden groesseren Kriminalvergehen als auch in der niederen Gerichtsbarkeit hatte er entscheidende Kompetenz. Die Konkurrenz zum Marktrichter von Scheibbs, der die Jurisdiktion fuer kleinere Verstoesse im Stadtgebiet fuer sich einforderte und versuchte, den Einfluss des Hofrichters auf die Angelegenheiten des Marktes so weit wie moeglich einzuschraenken, fuehrte zu einer "Konfliktgeschichte" (S. 128). Diese war gepraegt vom buergerlichen Selbstbewusstsein der Oberschicht der Stadtbewohner gegenueber dem Gaminger Praelaten als Stadtherrn.
Fuer Hof- und Landgericht lassen sich Schwerpunktbildungen der Disziplinierungsbemuehungen beobachten: Bis zur Mitte des Untersuchungszeitraumes wurden innerhalb der niederen Gerichtsbarkeit vornehmlich Unzuchtsdelikte untersucht und bestraft. Verhaengt wurden Ehren- und vor allem Geldstrafen, wobei der Lebenshintergrund der angeklagten Personen beruecksichtigt wurde. Die rein finanzielle Bedeutung der Einnahmen der Strafgelder fuer die Unterhaltung des Gerichtes ist nicht zu unterschaetzen. Die Landgerichtsfaelle, die sich nicht immer klar von den Hofgerichtsfaellen unterscheiden lassen, da der Hofrichter auch Administrator des Landgerichtes war, betrafen in erster Linie Eigentumsdelikte. Aber auch in diesem Rahmen spielten Sexualdelikte eine groessere Rolle. Von den Strafen betroffen waren vor allem Mitglieder der Unterschichten, konkret Dienstknechte, Handwerksgesellen und Bettler bei den Maennern und in grosser Zahl Dienstmaegde bei den Frauen. Die exekutiven Taetigkeiten des Gerichtes wurden durch zwei Gerichtsdiener, einen in Scheibbs und einen in Gaming, ausgeuebt, wobei der Scheibbser Landgerichtsdiener zugleich auch beim Marktgericht angestellt war. Ueber den Umfang der Taetigkeit eines weiteren Exekutivorgans, des Scharfrichters, sind wir nur lueckenhaft informiert, da Hinrichtungen und andere von ihm vollzogene Strafen nicht durchgaengig verzeichnet wurden. Eine Vorstellung ueber Hinrichtungszahlen vermittelt insbesondere ein scharfrichterliches Arbeitsverzeichnis, in dem fuer die Zeit von 1707 bis 1721 zwanzig Vollstreckungen von Todesurteilen registriert sind.
Die Anstrengungen zur Disziplinierung der Bevoelkerung im Land der Kartause von Gaming werden ueberdies auf einer Vielzahl weiterer Ebenen herausgearbeitet. Vom Marktrichter ueber Schulmeister, Marktgerichtsdiener, Nachtwaechter und Viehhirten, denen u.a. die Aufsicht ueber die Kinder in den Kirchen anvertraut wurde, reicht der Blick auf die Traeger von Herrschaftsfunktionen. Aber auch die Buergerschaft zu Scheibbs selbst nahm solche Funktionen, etwa ueber die Institution des Rates, wahr. Daran zeigt sich, dass eine starre Gegenueberstellung zweier Fronten von Obrigkeit und Untertanen nur wenig taugt, um den Vorgaengen und Problemen gerecht zu werden. Die Buerger waren an einem geregelten Zusammenleben und Wirtschaften interessiert, beanspruchten ihrerseits Einfluss auf die Ordnungsstrategien und stellten einen eigenen Faktor der Disziplinierung dar. Andererseits fuehrte ein solches konkurrierendes Nebeneinander der Disziplinierungsgewalten auch dazu, dass gerade die unteren Chargen haeufig "zwischen den Obrigkeiten zerrissen" wurden (S. 242). Darin lag vielfach ein Mangel an Effektivitaet begruendet.
Als Stossrichtungen, in die die obrigkeitlichen und gesellschaftlichen Regelungsbemuehungen wiesen, werden mehrere Bereiche deutlich. Neben der Sexualdisziplinierung, der Vermittlung von Gottesfurcht und der Einhegung von Gewalt, laesst sich die Herstellung von Sicherheit, insbesondere fuer das Eigentum, als wesentlicher Punkt benennen. Die Region war stark vom Eisendiebstahl betroffen, der haeufig in Verbindung mit Einbruechen in Hammerwerken begangen wurde. In diesen Kontexten lassen sich fuer die Bevoelkerung einerseits Tendenzen der Mitarbeit bei der Strafverfolgung solcher Delikte, andererseits aber auch starke Tendenzen der Kooperation mit den Delinquenten und ihren Helfern festhalten, indem man versuchte, vom billigen Angebot der Schmugglerwaren zu profitieren. Ein wichtiger Bereich der Disziplinierung stellte ueberdies der Versuch dar, vagierende Personen zur Sesshaftigkeit zu bringen und sie zur Arbeit anzuhalten. In die Suche nach Bettlern wurden die Untertanen etwa bei Landesvisitationen eingebunden, bei denen das Land systematisch nach Fremden und Bettlern abgesucht wurde, um sie in ihre jeweiligen Heimatorte abzuschieben. Dabei entwickelten bzw. verfestigten sich Feindbilder gegenueber den fremden Vaganten, waehrend diese sich kaum im Rahmen staatlicher Fuersorgepolitik ernaehren konnten, sondern im Falle ihrer Abschiebung erneut zum Betteln als Lebensunterhalt schreiten mussten. Gerade aus ihren Reihen rekrutierten sich auch "Magiespezialisten" (S. 436), etwa die "Schatzgraeber", die sich gegen Entgeld anboten, den Teufel oder die Seelen von Verstorbenen anzurufen, um sich nach dem Verbleib verborgener Reichtuemer zu erkundigen.
Der im Rahmen der Sozialdisziplinierungsforschung prominenten Frage nach der Bedeutung des Militaers fuer die Gesellschaft geht Martin Scheutz vor allem anhand des Phaenomens der Zwangsrekrutierung nach. Im Blickpunkt steht hier die Rekrutenstellung als "Mittel fruehneuzeitlicher Sozialpolitik" (S. 497), indem man die nichtsesshaften Teile der Bevoelkerung versorgte bzw. 'entsorgte' (S. 497). Ein gesicherter Lebensunterhalt wurde zwar fuer viele Menschen auf diese Weise geschaffen. Auf der anderen Seite war die Zwangsrekrutierung innerhalb der Untertanenschaft gefuerchtet und war bei vielen Betroffenen der Ausloeser fuer Selbstverstuemmelungen. Darueber hinaus stellten sich fuer die Gesellschaft neue Probleme mit Deserteuren und den haeufig ebenfalls zum Betteln gezwungenen abgedankten Soldaten und Invaliden. Von den Gerichten in Gaming und Scheibbs bildete die Moeglichkeit, Straftaeter zur Zwangsrekrutierung abzustellen, vor allem ein Mittel, ihren Untertanen, die etwa zu Alkohol- und Streitsucht neigten, damit zu drohen, um ihr Verhalten zu beeinflussen.
Im Gesamtblick auf die umfangreiche Studie von Martin Scheutz ist festzuhalten, dass ein ueberaus differenziertes, dichtes und anschauliches Bild vom Leben im Landgericht Gaming-Scheibbs waehrend des 18. Jahrhunderts entfaltet wird. Eine der Staerken des Buches liegt darin, dass ihm ein tiefes Wissen zugrunde liegt, das in kleinste Details hineinreicht. Man nimmt es dem Autor ab, wenn er darauf verweist, dass von ihm 185 Kriminalprozessakten des Landgerichtes und zahlreiche Jahrgaenge der Marktgerichtsprotokolle vollstaendig Wort fuer Wort transkribiert wurden. Literaturverzeichnis und Interpretationen verweisen zudem auf breite Rezeption von Forschungsliteratur sowohl aus den regionalgeschichtlichen wie den neueren sozial- und kulturgeschichtlichen Bereichen, insbesondere aus der Historischen Kriminalitaetsforschung.
Die Ergebnisse stellen fuer alle diese Bereiche ihrerseits eine Bereicherung dar. Im Hinblick auf grundlegende Disziplinierungsprozesse der Fruehen Neuzeit wird anhand einer Vielzahl von Beispielen deutlich gemacht, auf welche Weise Fragen nach "Zucht", "Ordnung" und geregeltem Verhalten das Denken und Handeln im Alltag des 18. Jahrhunderts nachhaltig praegten. Aber kein rein etatistisches Konzept der Sozialdisziplinierung kann dieses Phaenomen angemessen beschreiben. Vielmehr muss, wie sich zeigt, ein hohes Mass an "Selbstorganisation" (S. 499) beruecksichtigt werden. Dabei laesst sich fuer den behandelten Zeitraum eine "Parallelisierung von sozialen Interessen" (S. 500) etwa der hausbesitzenden Schichten und den Obrigkeiten feststellen. Die Beteiligung verschiedener Gewalten an den Disziplinierungsbestrebungen konnte sich zwar haeufig auch als hemmender Faktor erweisen. Als wichtiges Resultat nach der Lektuere des Buches bleibt dennoch die Erkenntnis, dass sich mit der Kategorie Disziplinierung bzw. Sozialdisziplinierung eine Reihe von fruehneuzeitlichen Handlungsleitlinien und Entwicklungen in einleuchtender Weise buendeln lassen. Kein Grund also, auf dieses Paradigma zu verzichten. Eine Erfolgsstory, auch dies wird eindruecklich vermittelt, laesst sich damit freilich nicht schreiben.
Anmerkung:
[1]. Heinz Schilling, "Profil und Perspektiven einer interdisziplinaeren und komparatistischen Disziplinierungsforschung jenseits einer Dichotomie von Gesellschafts- und Kulturgeschichte", in ders. (Hg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im fruehneuzeitlichen Europa. Institutions, Instruments and Agents of Social Control and Discipline in Early Modern Europe. (Studien zur europaeischen Rechtsgeschichte 127, Frankfurt: Klostermann, 1999) S. 3-36, hier S. 5.
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Ralf-Peter Fuchs. Review of Scheutz, Martin, Alltag und KriminalitÖ¤t. Disziplinierungsversuche im steirisch-Ö¶sterreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert.
HABSBURG, H-Net Reviews.
October, 2001.
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