
Ruediger Kipke, Karel Vodicka. Slowakische Republik: Studien zur politischen Entwicklung. MÖ¼nster: LIT Verlag, 2000. 209 S. DM 49.90 (broschiert), ISBN 978-3-8258-4948-1.
Reviewed by Christian Boulanger (Freie Universität Berlin )
Published on HABSBURG (July, 2001)
Meciar und die Folgen: Die Slowakei bleibt weiter eine Forschungsluecke
Meciar und die Folgen: Die Slowakei bleibt weiter eine Forschungsluecke
Zur Slowakischen Republik gibt es noch zu wenig Literatur. Ein Grund ist, dass die Laenderspezialisten, die vor der Teilung des Landes 1993 fuer die Tschechoslowakei zustaendig waren, sich besser im boehmischen und maehrischen Teil des Landes auskannten, als in der Slowakei, die viele als wirtschaftlich und kulturell rueckstaendig ansahen. Man ist um jedes Buch froh, dass sich mit der Slowakei befasst, deren Transformationspfad von Irrungen und Wirrungen begleitet ist und die fuer eine Weile der Pariah Ostmitteleuropas war. Die Aera des "Meciarismus", die autoritaere Herrschaftsform des populistischen Ministerpraesidenten Vladimir Meciar und seiner Partei "Bewegung fuer eine demokratische Slowakei" (HZDS) ist zwar vorueber, seitdem das Wahlvolk ihn im September 1998 endlich satt hatte und abwaehlte. Die Zukunftsperspektiven der slowakischen Republik sind jedoch weiterhin ungewiss, trotz Rueckkehr zu demokratischen und rechtsstaatlichen Verhaeltnissen. Die regierende Koalition eint ihre Gegnerschaft zu Meciar und zur HZDS und der Wille zur Westintegration. Es mangelt, wie Ruediger Kipke feststellt, in der politischen Elite der Slowakei nach wie vor an "Konflikt- und Konsensfaehigkeit (und der dazugehoerenden Geduld), um tragfaehige Kompromisse zwischen den divergierenden Interessen schliessen zu koennen".
Der Jurist und Politikwissenschaftler Ruediger Kipke, der an der Universitaet Siegen lehrt, hat zusammen mit dem tschechischen Politolog en Karel Vodicka, Mitarbeiter an der Universitaet der Bundeswehr Hamburg, ein Buch veroeffentlicht, das im Rahmen eines Projektes der Volkswagenstiftung entstanden ist und zwei "selbstaendige Beitraege" zur politischen Entwicklung der Slowakei enthaelt.
Kipkes Beitrag konzentriert sich auf die institutionellen Veraenderungen in der Slowakei seit ihrer Selbststaendigkeit. Zuvor aber stellt er einige interessante Ueberlegungen zur soziologischen Struktur der slowakischen Elite der Uebergangszeit an und vertritt eine These, die vor kurzem von Shari J. Cohen genauer untersucht worden ist: [1] "Nach dem Zusammenbruch des alten Systems war die 'unpolitische' Politik der frueheren Opposition, die sich weitgehend in moralischen Standpunkten und Gesten dokumentiert hatte, zur herrschenden professionellen Politik geworden" (S.11). Im Hautteil seines Beitrages beschreibt Kipke im Detail - leider oftmals zu deskriptiv - die institutionellen Grundlagen der verschiedenen politischen Organe - Regierung, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Parteien und organisierte Interessen. Der wirtschaftlichen Lage samt der Privatisierungspolitik ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der die zahlreichen Korruptionsskandale und den Klientelismus des Meciar-Regimes darstellt. Zahlreiche Tabellen - v.a. zu Meinungsumfragen - bereichern seine Studie mit empirischen Daten.
Vodicka ist als Tscheche wissenschaftlich und emotional naeher am Thema, dies merkt man seinem Beitrag an. Dieser ist empirisch und theoretisch gehaltvoller. Zwei Hauptthesen ziehen sich durch seine Analyse, in der er sich hauptsaechlich mit der staatlichen Teilung der Tschechoslowakei und der politischen Entwicklung der Slowakei unter Meciar befasst: Erstens sei die Teilung weder ein Produkt der nationalen Emanzipation der Slowaken noch ein kaltbluetiger Schachzug des damaligen tschechischen Ministerpraesidenten Vaclav Klaus gewesen. Die Slowaken waren in Meinungsumfragen zu keinem Zeitpunkt mehrheitlich fuer die Losloesung von den Tschechen, und Meciars HZDS hatte dazu von den Waehlern explizit kein Mandat bekommen. Auf der anderen Seite stand es fuer Vodicka "nicht in Klaus Macht, die Foederation zu retten" (S. 134). Der v.a. an der Durchsetzung der Wirtschaftsreform interessierte Klaus "wollte die Trennung nicht, konnte sie aber auch nicht verhindern" (S.135).
Vodicka macht Meciar und seine Unterstuetzer in der Regierungskoalition fuer die Trennung verantwortlich. Deren Motive seien keineswegs irrational, sondern im Gegenteil sehr rational gewesen: Meciar hatte in der foederalen Politik keine Chance, noch weiter aufzusteigen. Die loyalen Aktivisten in der HZDS und den Koalitionsparteien spekulierten auf tausende lukrative Posten in den neu zu schaffenden nationalstaatlichen Institutionen. So waren etwa "nach der Konstituierung des selbstaendigen slowakischen Staates [...] ungefaehr 80 attraktive Posten im Ausland zu vergeben, die in der begehrten harten Waehrung bezahlt wurden" (S. 138). Vodicka argumentiert, dass bei einer eingehenderen Untersuchung "sehr pragmatische Motive sichtbar [werden], die sich durch ihre ausgepraegte Rationalitaet von den Klischees von einem 'Emanzipationsstreben des slowakischen Volkes' (Klaus), von dem 'slowakischen Stern auf dem europaeischen Himmel' (Carnogursky) und von der 'Notwendigkeit der voelkerrechtlichen Subjektivitaet' der Slowakei (Meciar) unterscheiden. Die privaten Motive der slowakischen politischen Repraesentation waren offensichtlich eine treibende Kraft des tschechisch-slowakischen Aufloesungsprozesses" (S. 139).
Vodickas zweite Hauptthese ist, dass die Wechselwirkung zwischen institutioneller und politischer Konsolidierung viele Phaenomene der slowakischen Transformation erklaert. Der Sieg ueber Meciar sei ein "Sieg der Institutionen" (S. 202) gewesen, in der sich die zum Teil von der Meciar-Regierung selbst geschaffenen Institutionen gegen ihn wandten. Ausfuehrlich untersucht er die Rolle des Wahlsystems. Die Wahlen waren fuer ihn "eine treibende Kraft des politischen Elitenwechsels und ein Katalysator der weiteren Entstehung und Differenzierung neuer politischer Eliten. Sie trugen zur Herausbildung einer demokratischen politische Kultur und des Rechtsbewusstseins sowie zur Akkumulation der Erfahrungen der Buerger mit dem freien Wettbewerb der politischen Kraefte bei" (S. 203). Meciar scheiterte mit seinem Ziel, durch massive Wahlrechtsmanipulationen die Wahlen 1998 zu gewinnen. Im Gegenteil fuehrten seine Aktionen dazu, ihn und die HZDS in den Augen der Bevoelkerung zu delegitimieren. Die Opposionsparteien, deren Chancen durch die Aenderungen des Wahlrechts verringert werden sollten, reagierten geschickt auf die neue Rechtslage, indem sie Parteikoalitionen und -zusammenschluesse bildeten.
Den Wahlsieg der Opposition 1998 fuehrt Vodicka demnach auf zwei Faktoren zurueck: die Selbstdeligitimierung Meciars und den Zusammenschluss der jahrelang durch inneren Zwist gelaehmten Opposition. Man vermisst allerdings eine Darstellung der enormen zivilgesellschaftlichen Mobilisation gegen Meciar und des (v.a.finanziellen) Einflusses des Auslands auf den slowakischen Wahlkampf. Diese Vorgaenge haben in der wissenschaftlichen Literatur bisher nur wenig Aufmerksamkeit erhalten.
Zum Teil kommen die beiden Autoren zu gegensaetzlichen Schlussfolgerungen. Zum Beispiel behauptet Kipke, das slowakische Verfassungsgericht verfuege "ueber die notwendige Autoritaet" und geniesse "mit seiner Entscheidungspraxis grundsaetzlich Anerkennung in Politik und Gesellschaft" (S. 32), waehrend Vodicka zahlreiche Faelle aufzaehlt, in denen Meciar und die Mehrheitsparteien im Parlament Entscheidungen des Gerichts offen ignorierten. Kipkes Darstellung, die slowakische Verfassung stelle ein "Votum fuer die demokratische Verfassungskultur des Westens" (S.17) dar, ist angesichts der Tatsache, dass die Verfassung - meines Wissens nach -von Meciar und seinen Beratern weitgehend alleine geschaffen wurde, zumindest diskussionswuerdig. Insgesamt haette Kipkes Beitrag nicht geschadet, die Verfassungswirklichkeit staerker bei der Interpretation des Verfassungstextes einfliessen zu lassen. Schade ist auch, dass sein Beitrag abrupt und ohne zusammenfassende Analyse abbricht.
Insgesamt hinterlaesst das Buch von Kipke und Vodicka den Eindruck, dass man aus dem interessanten zusammengetragenen Material mehr haette machen koennen. Im Grunde handelt es sich um die Publikation zweier laengerer Aufsaetze. Diese sind nicht untereinander verknuepft, was einige Ueberlappungen und Wiederholungen zur Folge hat. Eine klare Fragestellung fehlt genauso wie eine ueberzeugende Zusammenfassung der Ergebnisse.
Trotz dieser Schwaechen handelt es sich um informative Studien, die einen guten ersten Ueberblick ueber die politische Entwicklung der Slowakei seit der politischen Wende 1989 bieten. Am staerksten ist das Buch an den Stellen, wo es ueber die vorhandene, deutsch-oder englischsprachige Literatur hinausgeht (auf die allerdings nicht haeufig Bezug genommen wird), zum Beispiel in Vodickas Auswertungen der slowakischen Presse und der Literatur slowakischer Sozialwissenschaftler. An theoretischen Fragestellungen interessierte Sozialwissenschaftler werden aber weiter darauf warten muessen, dass auch im deutschsprachigen Raum Studien zur Slowakei geschrieben werden, die einen aehnlichen theoretischen und empirischen Anspruch haben wie der oben genannte Band von Shari J. Cohen (die allerdings nur den Zeitraum bis 1993 untersucht).
Anmerkung:
[1]. Shari J. Cohen, Politics without a Past. The Absence of History in Postcommunist Nationalism (Durham: Duke University Press, 1999).
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Christian Boulanger. Review of Kipke, Ruediger; Vodicka, Karel, Slowakische Republik: Studien zur politischen Entwicklung.
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