Albert Lichtblau, Hrsg. Als hÖ¤tten wir dazugehÖ¶rt. Ö?sterreichisch-jÖ¼dische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie. Wien und Weimar: BÖ¶hlau Verlag, 1999. 664 S. DM 138.00 (gebunden), ISBN 978-3-205-98722-2.
Reviewed by Margret Heitmann (Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-juedische Geschichte, Duisburg)
Published on HABSBURG (June, 2001)
Ein Leben ist nicht genug--Jüdische Schicksale 1848 bis 1918
Ein Leben ist nicht genug - Juedische Schicksale 1848 bis 1918
In eine andere Welt - so scheint man einzutauchen - und die Reise geht von Galizien in die Bukowina, nach Maehren und Boehmen, von dort in die Alpenlaender und endet in Wien. Reisende waren die Autorinnen und Autoren, die in diesem Band ihre Lebensgeschichten vorstellen, denn ihnen allen war es nicht vergoennt, an einem Ort zu verweilen und dort bis zum Lebensende zu bleiben. Freilich enden ihre Geschichten hier, doch ihr Weg fuehrte sie gezwungenermassen weiter, zumeist in die USA und nur wenige kamen zurueck.
Auf den ersten Blick scheint die Geduld des Lesers ueberfordert, sich auf 34 Lebensgeschichten einzulassen, deren Lebenswege durch die politischen Umstaende der Zeit viele Parallelen aufweisen und deren Schicksale sich aehneln. Doch wenn man mit Bedauern am Ende einer Geschichte angekommen ist und mehr ueber die Person, ihre Familie und ihr weiteres Leben erfahren moechte, wird man zur Entschaedigung hineingezogen in das naechste Leben. Dies liegt sowohl an der Lebendigkeit, mit der die Autoren ihre Lebensgeschichte erzaehlen, als auch an der vorzueglichen Edition des Herausgebers. Dieser gibt dem Leser noch mehr an die Hand: im Einleitungskapitel thematisiert er das Problem von Integration und Erwartungsdruck, das sich zwischen Vertreibung und Ghettoisierung bewegt. Er gibt Einsichten in die demographische Entwicklung, Beruf und Bildung, in die Geschlechterbeziehung und Familie, Identitaet und Kultur. Antisemitismus in boehmischer, maehrischer und galizischer Auspraegung, wie auch in der Wahrnehmung oesterreichisch-juedischer Lebensgeschichten sowie die Moeglichkeiten politischer Partizipation werden thematisiert. Als zentraler Bruch stellt sich der Erste Weltkrieg dar, der zum Zusammenbruch der Habsburgermonarchie fuehrte und damit auch zum Zusammenbruch habsburgisch-juedischer Identitaeten.
Aufschlussreich fuer das Genre Autobiographien ist das Kapitel oesterreichisch-juedische Biographien und Geschichte. Die juedische Geschichtsschreibung ist eine noch recht junge Wissenschaft, die sich erst im 19. Jahrhundert entwickelte und mit der elfbaendigen Geschichte der Juden von Heinrich Graetz ansetzte. War das 19. Jahrhundert allgemein das Zeitalter des Historismus, so lag es auch juedischerseits nahe, mit dem Zugang zur allgemeinen politischen, rechtlichen und sozialen Umgebungskultur sich der eigenen historischen Wurzeln als identitaetsstiftendes Moment zu besinnen. Freilich setzte das Auftreten antisemitischer Agitatoren und politischer Gruppierungen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts dieser Entwicklung brutale Grenzen. Der Philosoph Hermann Cohen brachte dies resigniert und enttaeuscht auf den Punkt: "Es ist also doch wieder dahin gekommen, dass wir bekennen muessen". Apologie und Selbstvergewisserung, die Bestimmung des "Wesen des Judentums" wurde juedischen Wissenschaftlern vorzugsweise von aussen aufgedraengt und die historische Auseinandersetzung mit der juedischen Geschichte wurde fatalerweise erst wieder verstaerkt aufgenommen, als der groesste Teil des europaeischen Judentums ermordet worden war.
Vor diesem Hintergrund sollte eine historische Debatte, ob die schriftlich oder muendlich ueberlieferten Lebensberichte von Juden wissenschaftlichen Standards genuegen, eigentlich nicht gefuehrt werden. Und so ist dem Herausgeber nur zuzustimmen, der sagt: "Die Autobiographien sind die Sprachrohre der Erinnerung, sie formen gemeinsam mit anderen Arten der Erinnerung ein kollektives Gruppenbewusstsein. Sie koennen zu sprachlichen Gedenkstaetten fuer ein Volk, fuer Verlorenes, fuer einzelne Menschen, fuer Orte, Gebraeuche und Mentalitaeten werden. Sie stellen sich der Rezeption durch die Leser, die sie nicht kennen. Das wird sie vor einer Erstarrung als Monument bewahren und weiterleben lassen" (S.124f.).
Wie der hier behandelte Zeitraum, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts ansetzt und mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie endet, politisch-gesellschaftliche und soziale Veraenderungen mit sich brachte, so spiegeln sich diese auch auf individueller Ebene wider und nicht wenige Motive wiederholen sich. Fuer viele Familien war Wien der Ort, in dem sie hofften, eine neue oder bessere Existenz finden zu koennen. Die juedische Tradition und Kultur, die noch den Eltern und vor allem den Grosseltern eine sichere Basis fuer ihr religioeses und gesellschaftliches Leben geboten hatten, waren fuer die juengste Generation fragwuerdig und bruechig geworden. Pietaetvolle Kritik wird geuebt und gleichzeitig fast wehmuetig bedauert, dass die neue Freiheit in Krisensituationen nicht den Halt, den die traditionell religioesen Werte der Eltern-und Grosselterngeneration noch gaben, bieten konnte.
Der erste Autor steht noch auf der Schwelle zwischen Tradition und Moderne. Phoebus Schmelkes, 1833 ins orthodoxe Milieu Galiziens hineingeboren, wandte sich 1847 dem liberalen Judentum zu und brach mit der Tradition. Die Hoffnung seiner Mutter, er moege Gelehrter oder Rabbiner werden, konnte er nicht erfuellen. Im Selbststudium erlernte er die deutsche Sprache, indem er die Klassiker und zeitgenoessische Literatur lass. Doch ihm fehlte noch "der Mut, sich gegen die damaligen Braeuche aufzulehnen" (S. 164) und so liess er sich mit 18 Jahren verheiraten. Mit 21 Jahren war Phoebus Schmelkes Haupternaehrer der Familie als Getreidehaendler in Krakau, musste spaeter Konkurs anmelden und scheiterte schliesslich als Spekulant in Wien.
Die Last der Tradition war in der Grossstadt Wien weit weniger erdrueckend als etwa in Galizien. Eine interkonfessionelle Ehe, zu einer Zeit als die Liebesheirat erst zoegerlich die vermittelte Ehe abloeste, war hier noch undenkbar. Samson Tyndel, der 1878 in Kolomea in Galizien geboren wurde und 1955 in Wien starb, ist trotz der schrecklichen Erlebnisse im Nationalsozialismus in seinem Lebensbericht erfuellt von der Liebe zu seiner christlichen Freundin, durch deren Familie er alle Facetten christlich antisemitischen Aberglaubens kennen lernte. Seine Lebensgeschichte endet mit seiner Verheiratung. Vom Herausgeber erfaehrt der Leser, dass Samson Tyndel seine christliche Freundin nicht vergessen sollte und nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Tod seiner juedischen Frau den Kontakt zu ihr wieder aufnahm. Durch ihren baldigen Tod war ihnen ein gemeinsamer Lebensabend nicht beschieden.
Melancholisch stimmt den Leser wie diese manch andere Lebensgeschichte. Es sind die Orte, die Namen, das geborgene kindliche Leben in juedischen Familien, das beeindruckt. Eine Welt, die man durch die Buecher von Joseph Roth, Paul Celan oder Manes Sperber schon kennen gelernt zu haben glaubte, wird in persoenlicher, unpraetentioes bescheidener Weise vorgetragen, die stets bewegt. Der Leser lernt Begegnungen mit Franz Kafka durch Else Bergmann ganz anders kennen, als es Max Brod "Verwalter eines Lebens" (S. 397) gestattet. Auch Else Bergmann beklagt, dass juedische Traditionen schon seit ihrem Grossvater keine Rolle mehr in der Familie gespielt und sie somit keine religioese Erziehung erhalten habe.
Dieser Traditionsverlust fuehrt zu einer neuen Orientierungssuche. Hier wurde alles konsumiert, was der Geist der Zeit bietet: Wagner und Nietzsche, die Anthroposophie Steiners, die Philosophie Brentanos, Islam und Zionismus wurden nicht weniger diskutiert als die Klassiker der Literatur von Goethe ueber Tolstoi zu Ibsen. Das Bildungsideal ist grossbuergerlich. Mit dem Christentum sind viele Biographen aus Kindertagen bereits vertraut. Es waren in vielen Faellen die christlichen Kindermaedchen, ueber die der Kontakt zur nichtjuedischen Umwelt hergestellt wurde. Sie vermittelten nicht nur einen naiven christlichen Kinderglauben, sondern zogen mit ihren Zoeglingen auch den Besuch der Kirche der Synagoge vor.
Die Mehrzahl der Biographen ist in saekularen Familien aufgewachsen. Ausnahmen bilden der Reformrabbiner Julius Oppenheimer, der Wiener Oberrabbiner Moritz Guedemann sowie Jakob Ludwig Heller, Egon Basch und Hans Jacoby. Als Angehoerige des Bildungsbuergertums waren sie weit weniger als noch die Vaetergeneration in traditionell juedischen Berufen vertreten. Auch die 12 Autorinnen gingen in ihrer Mehrzahl neue Wege, viele waren berufstaetig, ueblicherweise im sozialen Bereich, doch mit grossem Engagement und beachtlicher Risikobereitschaft. Die Wohltaetigkeit als religioese Pflicht wird in den Frauenbiographien besonders deutlich herausgestellt, so von Adele von Mieses, die 1858 in Brody geboren, 1937 in Wien starb. In Brody lebten zu ihrer Zeit 18.000 Juden: eine duenne sehr wohlhabende Oberschicht und eine grosse Anzahl hilfebeduerftiger Menschen, fuer die die Tueren der Wohlhabenden jederzeit offen standen. Sie beschreibt, dass der Alltag ihrer Eltern bestimmt war von den unterschiedlichsten Arten der Wohltaetigkeit und so war es selbstverstaendlich, dass die Kinder in diesem Sinne erzogen wurden und sich auch aktiv beteiligten.
Lillian M. Bader, geb. Stern (1893 Wien-1959 New York) betitelt ihre autobiographischen Aufzeichnungen mit "One life is not enough". Von diesem Leben mehr zu erfahren, dazu fordern die hier wiedergegebenen Textpassagen geradezu heraus. Lillian M. Bader gehoert zu der Frauengeneration, die am Ende der Habsburgerzeit alle Bildungsangebote, die nun auch Frauen offen standen, nutzte. Freilich setzte dies voraus, dass sie jedwede Unterstuetzung seitens der Familie bekam, um sich in einer Maennerdomaene wie der Wiener Universitaet behaupten zu koennen. Dass sie, die Chemie studierte hatte, dann als "Frau Dr." 1920 die Schule ihrer Mutter, die Stern'sche Maedchen-Lehr- und Erziehungsanstalt, uebernahm, war allerdings nicht geplant. Ebenso wenig war zu dieser Zeit vorstellbar, dass die Schule von den Nationalsozialisten geschlossen wurde und Lillian M. Bader nach ihrer Flucht in die USA den Lebensunterhalt fuer ihre Familie als Hausgehilfin und Klavierlehrerin bestreiten musste.
In New York schrieb auch Esti Freud (Wien 1896-1980) die Erinnerungen an ihre Wiener Kindheit und Jugendjahre nieder. Verheiratet war sie mit Martin Freud, Sohn Siegmund Freuds. Wie ihr Vater befand, eine vollkommen unstandesgemaesse Ehe: die Freuds waren nicht wohlhabend und der Schwiegervater seiner Tochter nur ein Psychiater, der zudem noch "pornographische" Buecher schrieb (S. 578). Tunlichst vermied man alles, was die Heiratschancen der Tochter haette mindern koennen. Statt sich an der Wiener Universitaet fuer Franzoesisch immatrikulieren zu duerfen, erlaubte man ihr lediglich Sprechunterricht zu nehmen und lyrische Interpretation zu lernen. Gesangsunterricht erhielt sie von ihrer Mutter. Als Sprachtherapeutin ausgebildet, blieb ihr 1932 nur, eine unbezahlte Stelle als Lektorin an der Wiener Universitaet anzunehmen. Ihre Flucht aus Oesterreich fuehrt sie ueber Frankreich und Casablanca in die USA. Hier promoviert Esti Freud schliesslich mit 59 Jahren an der New School for Social Research.
Beeindruckend ist auch die Biographie von David Schapira. Er wurde 1897 in Stojanow, Galizien, geboren, einer Kleinstadt in der zu 90 Prozent orthodoxe Juden lebten. Infolge einer Verletzung im Ersten Weltkrieg erblindet er und widmet seitdem sein ganzes Leben blinden Menschen. Er uebertraegt Lehrbuecher in die Blindenschrift, um Jura an der Universitaet Wien studieren zu koennen, und laesst sich 1928 als Anwalt nieder. Sein Engagement fuer Blinde begann bereits 1918, als er die erste Versammlung von Kriegsblinden einberief. 1931 gruendet er den Verband blinder Intellektueller Oesterreichs. Seine Soehne konnten 1938 nach England emigrieren, Schapira und seine Frau wurden nach Theresienstadt deportiert. Getragen von einem unglaublichen Ueberlebenswillen organisierte der blinde Jurist im Lager Vortraege und Diskussionen sowie musikalische Veranstaltungen. Er hatte sich vorgenommen, falls er je wieder nach Wien zurueckkehren sollte, sich fuer den Wiederaufbau der Juedischen Gemeinde einzusetzen. Das Ehepaar ueberlebte die Shoah und kehrte 1945 nach Wien zurueck. 1948 wurde er zum Praesidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien gewaehlt.
Alle Biographinnen und Biographen in einer Rezension angemessen wuerdigen zu koennen, ist kaum moeglich. Diese kleine Auswahl moechte nur das Interesse fuer die Lebensgeschichten von Menschen wecken, die in Orten geboren wurden, deren Namen heute zumeist niemand mehr kennt, die in der Zeit, als Franz Joseph Kaiser der Habsburgermonarchie war, in der Hoffnung lebten, sie wuerden dazugehoeren.
Der Zusammenbruch der Monarchie mit Flucht, Vertreibung und Krieg zerstoerte ihre Welt. Fuer einen Neubeginn blieb wenig Zeit, er endete mit dem sog. Anschluss Oesterreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Vor dem Hindergrund von Ausgrenzung, Flucht und Vertreibung, Deportation und Mord sind die meisten der Lebensgeschichten geschrieben, lebendige Bilder aus einer vergangenen Welt. Die vorbildliche Edition wird ergaenzt durch eine Literaturauswahl, Glossar und Register, der reich bebilderte Band ist in der Aufmachung bestechend im Boehlau Verlag erschienen.
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Citation:
Margret Heitmann. Review of Lichtblau, Albert; Hrsg., Als hÖ¤tten wir dazugehÖ¶rt. Ö?sterreichisch-jÖ¼dische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie.
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June, 2001.
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