
Thomas Weiser. ArbeiterfÖ¼hrer in der Tschechoslowakei. Eine Kollektivbiographie sozialdemokratischer und kommunistischer ParteifunktionÖ¤re 1918-1938. MÖ¼nchen: R. Oldenbourg Verlag, 1999. 299 S. DM 88,00 (gebunden), ISBN 978-3-486-56018-3.
Reviewed by Markus Krzoska (Freie Universität Berlin)
Published on HABSBURG (October, 2000)
Aus dem Innenleben der Gegeneliten
Aus dem Innenleben der Gegeneliten
Nach den revolutionaeren Veraenderungen des Jahres 1989 und dem damit verbundenen weitgehenden Verschwinden der offiziellen Historiographien der sogenannten "Volksdemokratien" Ostmitteleuropas ist die Beschaeftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung im Allgemeinen etwas aus der Mode gekommen, obwohl gerade in diesem Bereich noch eine Reihe von Forschungsluecken bestehen. Der marxistische wissenschaftliche Ansatz war zu grossen Teilen diskreditiert, die empirisch-analytischen Anforderungen an Arbeiten wurden mitunter neu formuliert, die Geschichtswissenschaft insgesamt begann sich neuen Feldern und Methoden zuzuwenden, von denen ihr Verstaendnis als Teil umfassender Kulturwissenschaften zweifellos die wichtigste Neuerung war. Hierzu gehoerten auch Neuansaetze in den Forschungen zur Arbeiterschaft, die sich vom lange Zeit vorherrschenden Klassenbegriff allmaehlich verabschiedeten.[1]
Vor diesem Hintergrund blickt man gespannt auf die vorliegende Publikation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das fuehrende Personal der kommunistischen und der sozialdemokratischen Bewegung der Ersten Tschechoslowakischen Republik unter die Lupe zu nehmen. Die Arbeit, die als Teil eines Forschungsprojektes zu den Fuehrungsgruppen der Arbeiterparteien in der Tschechoslowakei 1918-1976 entstanden ist, ist in drei Hauptteile gegliedert. Zunaechst behandelt der Verfasser Struktur, Wandel und Periodisierung der hoechsten Parteigremien der Kommunistischen Partei (KPC), der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (CSAP) und der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei (DSAP). Anschliessend folgt ein Blick auf den sozialen Hintergrund der Fuehrungskader mit Ueberlegungen zur Herkunft, Ausbildung, Berufswahl, Nationalitaet usw. Des weiteren werden die politischen Karrieren der Fuehrungsmitglieder vom Durchschnittsalter bei den ersten Aktivitaeten bis in die Parteifuehrung untersucht. Ergaenzt wird das Buch durch zahlreiche Tabellen, die die Forschungsergebnisse veranschaulichen helfen sollen.
Das zu besprechende Buch hinterlaesst beim Rezensenten einen zwiespaeltigen Eindruck. Es liefert eine Reihe wichtiger Ergebnisse, auf die noch naeher einzugehen sein wird, ruft aber auch einige Zweifel hervor, die in erster Linie die verwendete Methode betreffen. In der Einleitung spricht Weiser davon, dass der heutige Diskussionsstand auch die politische Geschichte dazu ermuntere, an der fachlichen Umorientierung teilzunehmen, und ihre Betrachtungsweise den systematischen Disziplinen anzunaehern (S.10). Das Bild, das er hier von der Geschichtswissenschaft zeichnet, entspricht allerdings eher dem der 1970er Jahre, als man noch eifrig dem Mythos der Verwissenschaftlichung huldigte und damit ein doch recht positivistisches Geschichtsbild entwickelte. Dieser Positivismus ist leider auch in dieser Arbeit wiederholt zu finden.
Nun ist gegen die Idee, einen Langzeitvergleich zwischen mehreren Parteien anzustellen, eigentlich nichts zu sagen, zumal man ueber die Zusammensetzung der Fuehrungsgremien wirklich einiges Interessante erfaehrt. Weiser erliegt allerdings dabei der Gefahr, die von ihm ermittelten Zahlen absolut zu setzen, obwohl es ihm nicht moeglich war, komplette Angaben zu gewinnen. Er verzichtete zwar "auf den Rat der Gutachter des Projekts" auf die Verwendung komplexer statistischer Methoden und gab sich mit "Auszaehlungen einfacher Art" zufrieden, doch wirkt ein Grossteil der von ihm eingefuehrten Begriffe wie der "Umbesetzungskoeffizient" (Uk) der Fuehrungsgremien eher verwirrend, zumal er selber eingesteht, dass dieser Wert keine absolute Bedeutung habe. Das Kriterium der Anwesenheit in bestimmten Gremien sagt zudem nichts ueber das eigentlich interessante Phaenomen der parteiinternen Machtverhaeltnisse aus, wurden doch bestimmte Aemter nur aus Proporzgruenden an Genossen vergeben, die im Entscheidungsprozess keine Rolle spielten.
Dagegen gelingt es dem Verfasser ueberzeugend, die inneren Strukturen und Entwicklungen der jeweiligen Parteifuehrungen nachzuzeichnen und die konkreten Hintergruende mancher Entscheidungen aufzuhellen. Besonders wichtig sind die Ausfuehrungen ueber den sozialen Hintergrund der Parteifuehrer. Die Mitglieder der Fuehrungseliten kamen ueberwiegend vom Lande (mindestens 60 Prozent), sie stammten mehrheitlich aus eher einfachen Verhaeltnissen, wo schon der Besuch der Grundschule eine erhebliche Belastung fuer die Eltern darstellte. Die spaetere Karriere war somit nur fuer diejenigen moeglich, die neben dem Ehrgeiz des Autodidakten auch das noetige Mass an Selbstdisziplin mitbrachten. Bei der Einbeziehung von Lebenserinnerungen von und Biographien ueber einzelne Parteifuehrer haette etwas mehr Quellenkritik, vor allem die Hinterfragung bestimmter Topoi, allerdings ganz gut getan.
Die Unterschiede zwischen den Parteien treten auch deutlich hervor. Nicht nur im Charakter der KPC mit ihrer bedingungslosen Unterordnung unter die Prinzipien der Komintern, sondern etwa auch in der Rolle der Intelligentsia innerhalb der Partei. Die Sozialdemokraten hatten damit erheblich mehr Schwierigkeiten als die Kommunisten. Politik als Beruf war in der Fruehzeit der Parteien aufgrund deren finanzieller Situation meistens unmoeglich, erst spaeter boten sich gewisse Gelegenheiten, im Apparat taetig zu werden; insbesondere galt dies fuer die sich entwickelnde Parteipresse. Eine wichtige Rolle spielten auch die Betriebskrankenkassen und Arbeiterkonsumgenossenschaften. Die allmaehliche Aufwertung des Parteiapparates war kein kommunistisches Spezifikum, sondern ergab sich auch bei den Sozialdemokraten aus den Sachzwaengen heraus. Waehrend sich allerdings letztere eher durch jene Parteiaemter nach oben arbeiteten, die im Blickfeld der Oeffentlichkeit lagen, gelangten die Kommunisten vor allem durch intime Kenntnisse der Binnenstrukturen bzw. der regionalen Basis an die Spitze.
In allen behandelten Parteien entwickelte sich an der Spitze eine deutliche Machtkonzentration: eine kleine Anzahl an Personen uebte eine grosse Anzahl von Aemtern aus. Von besonderer Bedeutung war die Rolle der Bolschewisierung der KPC in den 1920er Jahre, die zwar eine Reihe von strukturellen Veraenderungen mit sich brachte, aber wegen des Fehlens sachlicher Argumente in erster Linie im Zusammenhang mit dem Kampf um Macht und Einfluss innerhalb der Partei gesehen werden muss. Als Ergebnis bleiben die im Vergleich zu den sozial und politisch anders strukturierten politischen Eliten der CSR ungleich schwereren Ausgangsbedingungen der Vertreter der Arbeiterparteien. Dabei waren die Beziehungen zur eigenen Klientel, der Arbeiterschaft, aufgrund eigener Berufstaetigkeit bei den wichtigsten kommunistischen Figuren der Zwischenkriegszeit (Gottwald, Zapotocky, Koehler, Jilek) wesentlich schwaecher ausgepraegt als bei den Sozialdemokraten. Das Faktum des "Berufsrevolutionaers" duerfte hier die entscheidende Rolle gespielt haben. Der ausgesprochen zentralistische Charakter der KPC trug sicher auch seinen Teil zum Vordringen bestimmter Politikertypen bei. Eine Entwicklung, wie sie im uebrigen auch nach 1945 zu beobachten war.
Interessant sind Weisers Ausfuehrungen ueber den Zusammenhang von Struktur und Konjunktur gerade in bezug auf die Kommunisten. Es gelang ihnen nie, konkrete politische bzw. gesellschaftliche Ereignisse zur Festigung der eigenen Strukturen langfristig auszunutzen. Die Herausbildung einer festen Mitgliederbasis, die sich auf Arbeiter stuetzte, war vor allem wegen des Charakters der Partei nicht moeglich. Einziges Mittel dagegen waren die immer wieder unternommenen Vorstoesse zu Veraenderungen in der politischen Ausrichtung, zum Beispiel die Abkehr vom Modell der CSR unter Foerderung genuin slowakischer Motive oder die Versuche der Mobilisierung unqualifizierter Arbeiter, Jugendlicher und Frauen. Damit machte man sich auf den Weg von einer Arbeiter- zu einer Volkspartei; die Wirkung auf die Massen hielt sich freilich in Grenzen.
Zu kurz in diesem Buch kommt die Behandlung der nationalen Frage, dem entscheidenden Element der tschechoslowakischen Geschichte der Zwischenweltkriegszeit. Man haette gerne mehr ueber das Verhaeltnis deutscher und tschechischer Sozialdemokraten zueinander sowie ueber etwaige Unterschiede, die ueber die Nationalitaet hinausgingen, erfahren. Die Tatsache, dass ueber die DSAP schon eine profunde Monographie vorliegt, ist hierfuer keine Entschuldigung. [2] Auch die besondere Situation der Slowaken wird nur am Rande behandelt, wenn auch der Hinweis wichtig ist, dass sowohl Kommunisten wie Sozialdemokraten ihre Schwierigkeiten mit "echten" Slowaken in Spitzenaemtern hatten. Gleiches gilt fuer die Bedeutung geschlechtsspezifischer Aspekte. Man erfaehrt zwar manches ueber den Anteil von Frauen an der Parteifuehrung, ueber etwaige Strategien im Umgang mit den maennlichen Genossen leider nichts.
Somit bleibt als Ergebnis festzuhalten, dass Weiser eine wichtige Grundlagenarbeit vorgelegt hat, die freilich einige Schwaechen aufweist und durch weitere - auch prosopographische - Studien ergaenzt werden muss, um einen noch tieferen Einblick in die Geschichte der groessten Arbeiterbewegung Ostmitteleuropas zu ermoeglichen.
Anmerkungen
[1]. Als ein praegnantes Beispiel mag dienen: Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900 (Frankfurt/Main: Campus, 1999).
[2]. Martin K. Bachstein, Wenzel Jaksch und die sudetendeutsche Sozialdemokratie (Veroeffentlichungen des Colegium Carolinum 29, Muenchen: Oldenbourg, 1974).
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Citation:
Markus Krzoska. Review of Weiser, Thomas, ArbeiterfÖ¼hrer in der Tschechoslowakei. Eine Kollektivbiographie sozialdemokratischer und kommunistischer ParteifunktionÖ¤re 1918-1938.
HABSBURG, H-Net Reviews.
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