
Wolfgang Fritz. Der Kopf des Asiaten Breitner: Politik und Ö?konomie im Roten Wien: Hugo Breitner Leben und Werk. Wien: LÖ¶cker Verlag, 2000. 560 S. ATS 580 (gebunden), ISBN 978-3-85409-308-4.
Reviewed by Michael John (Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Linz)
Published on HABSBURG (August, 2000)
Umjubelt, gehasst, vergessen
Der Autor beginnt sein Werk mit einem atmosphaerischen Einstieg: er fuehrt uns zu einer Wahlkampfrede des christlich-sozialen Heimwehrfuehrers und oesterreichischen Innenministers Ernst Ruediger Starhemberg. Der als ehemaliger Adeliger gern als Fuerst Titulierte rief 1930 am Heldenplatz aus: "Den Wienern werde ich ein gutes Rezept fuer den Wahlkampf geben: Sie sollen die Wahlschlacht im Zeichen Breitners fuehren. Nur wenn der Kopf dieses Asiaten in den Sand rollt, wird der Sieg unser sein." Dabei zeigte er mit der Hand zu Boden, waehrend die Zuhoerer begeistert Beifall klatschten (S. 13). Schon damals war political correctness die Sache oesterreichischer Politiker nicht. Nun - der Sozialdemokrat juedischer Herkunft wurde von seinen konservativen politischen Gegnern nicht gekoepft; indes wurde im Februar 1934 eine Diktatur errichtet, wurden die politischen Parteien verboten und der herzkranke Breitner, der schon 1932 von seinem Posten als Wiener Finanzstadtrat zurueckgetreten war, ist eingesperrt worden.
Wolfgang Fritz hat mit dem vorliegenden Buch die Biographie eines besonders kontroversen oesterreichischen Politikers der Zwischenkriegszeit vorgelegt, des langjaehrigen Wiener Finanzstadtrats Hugo Breitner (1873-1946). Kaum jemand in Oesterreich, der zeithistorisch staerker interessiert ist, kennt das Zitat mit dem "Kopf des Asiaten" nicht. "Asiate" bezog sich auf den "Juden" Breitner, christlich-sozialen und deutsch-nationalen Antisemiten galten Juden ja gemaess ihrer Propaganda als "volksfremde", "schaedliche", aus dem Orient stammende Elemente. Breitner war eine politische Figur, die eminente Emotionen hervorgerufen hat. Sein Name ist in hohem Mass mit den Reformbemuehungen der Wiener Sozialdemokratie der Ersten Republik verbunden, er gilt als der Finanzarchitekt des "Roten Wien". Fuer die einen war er der Planer einer Finanzstrategie, die von oben nach unten umverteilte, Steuern auf Hauspersonal, Pelzmaentel und Champagner einhob, um damit Gemeindewohnungen und andere Sozialreformen zu finanzieren; fuer die anderen war er ein Politiker, der angesichts eines oekonomisch bereits "angeschlagenen" Buergertums nochmals nachhaltig an der Steuerschraube drehte und daher als "Steuersadist" bezeichnet wurde. Fritz hat sich die Aufgabe gestellt, nachdem es hier eine Forschungsluecke gab, ein ausfuehrliches Buch ueber Hugo Breitner zu schreiben.
Vorerst zu den Eckdaten Breitners, wie sie aus der Arbeit von Wolfgang Fritz hervorgehen: Hugo Breitner wurde 1873 als viertes von sechs Kindern des aus Buda/Ofen stammenden Ehepaars Moritz und Ilka Breitner geboren. Moritz Breitner war Getreidehaendler. Die juedische Familie ist erst Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts von Budapest nach Wien uebersiedelt, Hugo wurde bereits in Wien geboren. Er wurde nach dem Schulbesuch (zuletzt eine Handelsakademie) Subalternbeamter der Laenderbank. Ehrgeizig und aufstiegswillig durchlief er saemtliche Karrierestationen und erhielt schliesslich den Rang eines Bankdirektors. 1918 reichte er seine Demissionierung bei der Laenderbank ein, wurde Gemeinderat der Sozialdemokraten, 1919 erhielt er das Amt des Finanzstadtrats. 1925 starb seine erste Frau Marie, die er 1901 geheiratet hatte, 1926 heiratete er seine Sekretaerin Therese Brandl, dies war eine Ehe, die in der Oeffentlichkeit fuer Aufregung sorgen sollte.
Ende 1932 trat Breitner, gesundheitlich angeschlagen und amtsmuede angesichts heftiger werdender politischer und persoenlicher Angriffe, als Finanzstadtrat zurueck. Am 12. Februar 1934 wurde er im Buero des Buergermeisters Seitz verhaftet und mehrere Wochen in Untersuchungshaft gehalten. Sensibel und weitsichtig verliess Breitner bereits am 26. Februar 1938 Oesterreich. Florenz, Paris und New York waren die weiteren Stationen seines Exils und schliesslich ging er nach Claremont in Kalifornien. Nach einem Angebot von Karl Seitz an Breitner, als Konsulent in Wirtschaftsfragen nach Wien zurueckzukehren, erhielt er im Dezember 1945 einen definitiven Absagebrief von hoher Stelle. Karl Renner selbst, Bundeskanzler und kurz danach Staatspraesident der Republik Oesterreich, wies, ungeachtet des gleichen Parteicouleurs, Hugo Breitner in freundlichem Ton ab (S. 520). Hoechstwahrscheinlich haette der kranke Breitner einen Wien-Besuch nicht ueberstanden, er starb am 6. Maerz 1946 in seinem Haus in Claremont.
Ueber den Lebenslauf Breitners hat der Biograph ein chronologisches Konzept in Form von sieben Kapiteln gestuelpt. "Herkunft, Kindheit und Jugend" lautet die erste der einpraegsamen und leserfreundlichen Titelueberschriften, "Vom Revoluzzer zum Bankdirektor und zurueck" der zweite, der zugunsten der Formulierungsfreude ein wenig an der Realitaet vorbeigeht: Breitner war nie "Revoluzzer", er wirkte 1906 an der Formierung eines "Reichsvereins" mit, der die Vertretung der Interessen der Bankbeamten zum Ziel hatte. Wie man sich im Kapitel selbst anhand der Originale ueberzeugen kann, formulierte Breitner nie in sozialistischem Sinne verbalradikal. Er blieb in jeder Hinsicht dem kulturellen Kontext der Bankbeamten verbunden und wurde 1907 von der Laenderbank in eine Management-Position befoerdert. Nach Breitners Angaben trat er 1911 der Sozialdemokratie bei, Julius Deutsch hielt fest, dies sei erst 1918 geschehen; Breitner hat aber auch eine Aussage gemacht, wonach er sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nie aktiv parteipolitisch betaetigt habe (S. 78).
Das Kernstueck der Arbeit hat die Taetigkeit Breitners in den Diensten der Kommune zum Inhalt. "Die Rettung Wiens (1918-1922)", "Die gute Zeit (1922-1927)" und "Die schlechte Zeit (1927-1932)" lauten die Kapitel. Sie zeichnen die politische Blitzkarriere des "Bankers" nach, der ohne "Ochsentour" im Alter von 46 Jahren als eine Art "Quereinsteiger" Finanzstadtrat der Gemeinde Wien wurde. Fritz stellt ihn waehrend seiner politischen Taetigkeit als Menschen dar, der von Widerspruechen gepraegt war. Zum einen war Breitner nach Fritz ein pragmatischer Finanzpolitiker, dessen Steuersystem ohne die Unterstuetzung der konservativen Finanzminister Reisch, Grimm und Guertler nicht entstanden waere (S. 15). Ein Finanzstadtrat, der laut Fritz seine "engeren Mitarbeiter aus dem Kreise der politisch indifferenten Verwaltungsjuristen" gewaehlt habe, "wobei Verwendbarkeit das einzige Kriterium gewesen zu sein scheint" (S. 112). Zum anderen war er der Konstrukteur einer "schoepferischen Finanzpolitik" (dies ganz gewiss), im Rahmen der Weltanschauung eines laut Fritz "glaeubigen Sozialisten", der "an eine Art Paradies auf Erden glaubte" (S. 17). Hinzufuegen moechte ich hier gerne - wann glaubte Breitner an das "Paradies auf Erden", war das nicht erst gegen sein Lebensende? Waren das nicht in erster Linie "Altersvisionen"? Dritter Pol sei jedenfalls der "Sozialaufsteiger" Breitner gewesen, der "das Leben eines Wiener Grossbuergers" fuehrte, "mit mehrkoepfigem Hauspersonal, woechentlichen Musikfesten in der eleganten Wohnung, dem Sammeln kostbarer Bilder und Autographen. Sein Umgang sind neben den Groessen der Finanzwelt Kuenstler wie Richard Strauss und Hansi Niese, seine junge zweite Frau, Schwester eines bekannten Schauspielers, faellt durch gar zu elegante Roben auf" (S. 16). Und es waren nicht nur die Roben: der Biograph beschreibt das kleinbuergerliche Milieu, aus dem Breitners Gattin stammt, ihre Distanz zur Arbeiterbewegung und ihren verschwenderischen Lebensstil (z. B. S. 212-215). Dazu kamen Korruptionsvorwuerfe und die Unterstellung des Nepotismus gegenueber den Breitner-Bruedern Oskar und Felix (S. 257-267). Dies alles fand kritische Resonanz nicht nur bei Parteigaengern der konservativen und der nationalen Richtung, sondern auch bei Linkssozialisten und Kommunisten.
Den Abschluss der Biographie bilden die beiden Kapitel "Vom Ruecktritt bis zur Emigration (1932-1938)" und "Emigration, Tod und Nachruf (1938-1946)". Diese sind insoweit besonders interessant, als sie Lebensphasen des Wiener Stadtrats ausleuchten, ueber die bislang kaum etwas bekannt war; das lange, letzte Kapitel ist besonders gut gelungen. Es stellt die eher ungluecklich verlaufenden letzten Jahre Breitners dar. Im Fruehjahr 1938 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Florenz befindlich, war der pensionierte Politiker, der sich Zeit seines Lebens immer in Wien aufgehalten hatte, angesichts der NS-Machtuebernahme dermassen verzweifelt, dass er den Plan gefasst hatte, Selbstmord zu begehen, damit seine (nichtjuedische) Frau und die Kinder nach Wien zurueckkehren koennten. Nachdem sich ein Weg aus Italien ueber Paris in die Vereinigten Staaten aufgetan hatte, begab sich Breitner denn doch mit seiner Familie dorthin. In New York fuehlte er sich sehr unwohl, wie Wolfgang Fritz nachweisen kann. Claremont, Kalifornien, die naechste Station, war ertraeglich, aber der alte Mann sehnte sich nach Wien zurueck und bemuehte sich auch nachhaltig um eine Rueckreise. Dem Absagebrief Renners begegnete er mit Selbstbetrug, in einem Brief machte er christlich-sozialen Druck dafuer verantwortlich.
Auch nach dem Tod Breitners setzt sich das distanzierte und seltsame Verhaeltnis der nunmehrigen Parteispitze der Sozialdemokratie zu Breitner fort. Die Arbeiter-Zeitung brachte einen Nachruf, der eine vor seinem Tod bevorstehende Rueckkunft Breitners nach Wien vortaeuschte, die Partei habe "alles zur Verwirklichung getan" (S. 526). Als sich die verarmte Witwe an die SP um Unterstuetzung wandte, blitzte sie ab. Erst nach einem Wienbesuch im Jahre 1950 konnte sie durchsetzen, dass ihre Pensionszahlungen nunmehr von Wien nach Amerika ueberwiesen wurden (S. 553).
Fuer die vorliegende Biographie hat sich der Autor die politischen Schriften Breitners sowie eine ganze Reihe von Tageszeitungen und auch den Nachlass Breitners angesehen, einige Briefwechselsammlungen und die Aufzeichnungen Therese Breitners; er hat die Breitner-Toechter Inge Bell und Eve McCulloh interviewt. Die Liste der von Wolfgang Fritz verwendeten Sekundaerliteratur ist jedoch nicht allzu lang und enthaelt auch eine Reihe neuerer Veroeffentlichungen nicht. Dies ist ein Faktor, der erklaert, warum der Autor einige Fragestellungen nicht weiterverfolgt, die ueber die reine Dokumentation der Biographie Breitners hinausgehen. Etwa jene, welche Rolle nun das Judentum fuer das Leben Breitners gespielt habe; zum einen fuer Breitner persoenlich, seine Stellung zu juedischer Religion und juedischer Herkunft, zum anderen fuer die Rolle Breitners innerhalb der Sozialdemokratie.
Dass die ausgewiesen antisemitischen Parteien (Christlich-Soziale, Grossdeutsche, Landbund, NSDAP) Breitners juedische Herkunft zum Thema machten, ist hinlaenglich bekannt; dass sich viele oesterreichische Juden in der Sozialdemokratie politisch engagierten auch. Dies fuehrte jedoch zu Konflikten innerhalb der Sozialdemokratie - etwa wenn der Linzer Schutzbundfuehrer Richard Bernaschek von der "Wiener juedischen Fuehrung" sprach, die die Verbindung zu den heimischen Arbeitermassen verloren habe. Wie war die Stellung Breitners hier innerhalb der Sozialdemokratie? Wurde er in den dreissiger Jahren und spaeter deswegen ausgegrenzt? War er Teil eines "juedischen Netzwerks" innerhalb der Arbeiterpartei (etwa zusammen mit Danneberg, Freundlich, Brocyner und anderen)? Es waere wuenschenswert, diesen Fragen nachzugehen, ebenso wie Sozial- und Wirtschaftshistoriker vielleicht staerker daran Interesse haetten, welche Spielraeume Breitner ab welchem Zeitpunkt als Finanzpolitiker zur Verfuegung standen. Hans Hautmann und Rudolf Hautmann haben schon vor langer Zeit darauf verwiesen, dass die Plaene sozialdemokratischer Spitzenpolitiker bereits vor Einsetzen der Weltwirtschaftskrise in Richtung der Planung von Hochhaeusern und komfortablerer Wohnungsversorgung gingen, also in Richtung Mittelschichten liefen.[1] War Breitner, der 1918 plante, eine Mittelstandspartei zu gruenden, ein Exponent dieses neuen politischen Akzents? In den letzten Jahren sind einige zeithistorische Arbeiten erschienen, die - jenseits der traditionellen Lagergeschichtsschreibung - den Weg weisen zu einer Betrachtung der Spielraeume und der Intentionen der zeitgenoessischen Akteure.[2]
Nun, Wolfgang Fritz hat sich mit den zuletzt angeschnittenen Fragen, so glaube ich, unter anderem auch deswegen nicht beschaeftigt, da er von seiner beruflichen Genese her kein Historiker ist. Der Jurist aus dem Finanzministerium ist nebenbei allerdings auch als Schriftsteller taetig. Und dieser Tatsache verdanken wir wahrscheinlich einerseits die genannten Defizite; andererseits aber eine sprachlich geschliffene, von grosser Naehe zur Person Breitner gekennzeichnete Biographie, die wohlkomponiert die Lebensstationen des legendaeren Politikers nachzeichnet. Das Buch ist voll von bislang unbekannten Dokumenten verschiedenster Art, wozu auch Photographien zaehlen. Eine attraktive optische und illustrative Gestaltung rundet den Band ab.
Anmerkungen
[1]. Vgl. Hans Hautmann und Rudolf Hautmann, Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919-1934 ( Wien: Schoenbrunn-Verlag, 1980), S. 154-166, bes. 159f.
[2]. Vgl. beispielsweise Gerhard Melinz und Gerhard Ungar, Wohlfahrt und Krise. Wiener Kommunalpolitik zwischen 1929 und 1938 (Wien: Deuticke, 1996); Gerhard Melinz, "Das 'Rote Wien' als lokaler Sozialstaat: Moeglichkeiten und Grenzen reformorientierter Kommunalpolitik (1919-1934)", in: Kurswechsel. Zeitschrift fuer gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen 1999, Heft 2, S. 17-27.
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Michael John. Review of Fritz, Wolfgang, Der Kopf des Asiaten Breitner: Politik und Ö?konomie im Roten Wien: Hugo Breitner Leben und Werk.
HABSBURG, H-Net Reviews.
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