
Susan Zimmermann. Die bessere Hälfte?: Frauenbewegungen und Frauenbestrebungen im Ungarn der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Wien: Promedia Verlag, 1999. 420 S. DM 54.00 (broschiert), ISBN 978-3-85371-153-8.
Reviewed by Birgitta Bader-Zaar (Universität Wien)
Published on HABSBURG (July, 2000)
Integrationistinnen und Modernistinnen: Die ungarische
Ein systematischer Ueberblick ueber die Frauenbewegungen der Habsburgermonarchie ist eines jener Projekte, die sich Historikerinnen und Historiker schon lange fuer den Bereich der Frauen- und Geschlechtergeschichte aber auch der oesterreichischen und ungarischen Geschichte im allgemeinen wuenschen. Susan Zimmermann hat nun erfreulicherweise ein solches Unternehmen in ihrem Buch Die bessere Haelfte? fuer die ungarische Reichshaelfte in Angriff genommen. In ihrem "gerafften Nachschlagewerk" stellt sie die Aktivitaeten, die Ziele und den Charakter der Frauenvereine sowie deren Verhaeltnis untereinander von 1848 bis 1918 vor, wobei das Buch nicht nur Grundwissen ueber die Geschichte der Frauenbewegungen in dieser Epoche anbietet, sondern auch als Ausgangspunkt fuer die Bearbeitung weiterer Themenfelder der Frauen-und Geschlechter- sowie vor allem der Sozialgeschichte dienen kann.
Ihre Untersuchung hat Susan Zimmermann strukturell in die sich entwickelnde Markt- und Industriegesellschaft und damit den als Kommodifizierung und Individualisierung erfahrenen sozialen Wandel gebettet. Frauen erlebten diese Entwicklungen als "Verlust hergebrachter Gewohnheiten und kultureller Gewissheiten, rechtlicher und soziooekonomischer Regelsysteme" und vor allem als Marginalisierung ihres Geschlechtes; sie fuehlten sich als "Stiefkind der 'Modernisierung'".(S. 11) Als Reaktion entwickelten sie Visionen einer fuer Frauen und die Gesellschaft insgesamt besseren Zukunft - die Frauenbewegung entstand.
Zimmermann unterscheidet fuer die Frauenbewegung zwei Hauptstroemungen, die die ueblichen Kategorien "buergerlich"/"proletarisch" bzw. "gemaessigt"/"radikal" zu ergaenzen und klarer zu gestalten suchen. Die eine Stroemung sah in der Geschlechterdifferenz das geeignete Moment, Frauen einen eigenen Platz in der sich wandelnden gesellschaftlichen Arbeitsteilung zuzuordnen. Weibliche Werte und Taetigkeiten sollten die Modernisierung ergaenzen. Die andere Stroemung stand den progressiv-liberalen und sozialdemokratischen Lagern nahe und wollte mit ihrem Anspruch auf Gleichheit die maennliche Sphaere und maennliche Privilegien auch fuer Frauen erobern. Sie befuerwortete also die modernen Entwicklungen der Individualisierung und Kommodifizierung. Tatsaechlich verdecken Zuschreibungen wie "buergerlich" bzw. "proletarisch" zuweilen aehnliche Ansaetze, und die Charakterisierung "gemaessigt" bzw. "radikal" laesst sich wohl eher auf Strategien beziehen.
Aber auch eine strenge Trennung nach im Sinne von Geschlechterdifferenz argumentierenden versus auf Gleichheit pochenden Frauengruppen laesst sich vor allem nach der Jahrhundertwende nicht so aufrecht erhalten. Beide Straenge konnten in einer Frau zusammenfliessen, wie z.B. Untersuchungen der Frauenwahlrechtsbewegungen zeigen. Zimmermann weist selbst darauf hin, dass die beiden Hauptstroeme bedeutende Gemeinsamkeiten aufwiesen und deren Verflechtungen nicht zuletzt in der feministischen Theorie (Joan Scott, Carole Pateman) aufgezeigt wurden. Sie argumentiert, dass nur der Blick auf "Unterschiede und Gemeinsamkeiten von handlungsleitenden Weltwahrnehmungen und Zielen" der beiden Richtungen Zusammenhaenge deutlicher hervortreten lassen. Beiden ging es letztendlich immer um eine Antwort auf die "Frage nach dem Platz der Frau in der hocharbeitsteiligen 'modernen Industriegesellschaft'".(S. 394)
Konkret fuer den ungarischen Fall definiert Zimmermann drei Hauptgruppierungen in den "buergerlich-adeligen" Frauenbewegungen: 1) die hierarchischen Integrationistinnen, die eine systematische gesellschaftliche Reform anstrebten und deren Taetigkeitsbereich soziale Arbeit sowie die seelische Betreuung von Frauen und Maedchen umfasste, den Objekten ihrer Reformabsichten jedoch in einem Gefuehl der Ueberlegenheit gegenuebertraten. Hierzu gehoerte der gemaessigte Reformfluegel des Magyarorszagi Noegyesuletek Szovetsege (Bund der Frauenvereine Ungarns) und der Grossteil der katholischen Frauenbewegung; 2) die karitativ orientierten Frauenvereine; 3) die individualistischen Modernistinnen, die die unbedingte Gleichberechtigung forderten und denen Zimmermann die Vereine Notisztviselok Orszagos Egyesulete (Landesverein der Weiblichen Angestellten) sowie Feministak Egyesulete (Verein der Feministen) zuordnet. Zwar nicht zum buergerlichen Lager gehoerig, rechnet Zimmermann aber auch die Sozialdemokratinnen in diese Kategorie.
Sich auf die Integrationistinnen und Modernistinnen konzentrierend, gibt Zimmermann zuerst einen Ueberblick ueber die Vereinsgruendungen und definiert Perioden der Aktivitaeten. Als besonders aktive und organisatorisch effiziente Gruppierung kristallisiert sich der Verein der Feministen heraus. Der Blickwinkel bleibt aber nicht nur auf die Organisation beschraenkt. Anhand der Biographien von Edith Farkas, Gruendungsvorsteherin der Socialis Missziotarsulat (Soziale Missionsgesellschaft), als Vertreterin der katholischen Frauenbewegung, der Sozialdemokratin Maria Gardos und der auch ausserhalb Ungarns als Rosika Schwimmer bekannten Feministin Roza Bedy-Schwimmer arbeitet Zimmermann die gesellschaftlichen Erfahrungen und persoenlichen Beweggruende heraus, die diese drei sehr unterschiedlichen Frauen der Frauenbewegung zufuehrten.
Der Schwerpunkt des Buches behandelt dann die Aktivitaeten der Frauenvereine in einem breiten Spektrum von Bereichen, wobei Zimmermann hier immer wieder die Einstellungen der Integrationistinnen und Modernistinnen zusammenfuehrt und deren Verhaeltnis zueinander hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Differenzen sehr schoen herausarbeitet:
1) Die Frauenbildung, die die hoehere Maedchenbildung - 1896 wurde das erste Maedchengymnasium in Ungarn gegruendet -, die berufsvorbereitende Ausbildung wie Lehrerinnen-, kaufmaennische und gewerbliche Fachbildung, die Frage der Koedukation sowie den Zugang zu den Universitaeten umfasst.
2) Die Frauenerwerbspolitik, die Zimmermann auch in ihrer Beziehung zur wirtschaftlichen Stellung Ungarns im Rahmen der Habsburgermonarchie untersucht. Hier stehen insbesondere die Schutzgesetze, die das Hauptkonfliktfeld zwischen Sozialdemokratinnen und den radikal an Geschlechtergleichheit orientierten Modernistinnen ausmachten (Stichwort Nachtarbeit), die erwerbsbezogene Sozialpolitik (Mutterschafts- und Altersversicherungen) und die Dienstbotinnenfrage im Mittelpunkt.
3) Gesellschaftsreform und soziale Arbeit, ein ausgezeichnetes Kapitel, in dem sich Susan Zimmermanns intensive Forschungsarbeiten zu diesem Bereich niederschlagen. Zimmermann kritisiert hier aeltere Darstellungen der Geschichte der Frauenbewegungen, die eine zeitliche Abfolge von zuerst philanthropischer Arbeit und dann Kampf um allgemeine Rechte sehen oder soziale Arbeit nicht so sehr in den Mittelpunkt ruecken und stattdessen den Kampf um Frauenrechte als das einzig Bedeutende an den Frauenbewegungen herausarbeiten. Tatsaechlich setzten sich die Frauenbewegungen mit dem Verhaeltnis zwischen traditioneller Wohltaetigkeit, zielbewusster moderner sozialer Arbeit und dem Kampf um Frauenrechte auseinander. Die Unterschiede, die hier in den Debatten zwischen Integrationistinnen und Modernistinnen auftraten, werden an den Ueberlegungen der Modernistinnen deutlich, die eine gruendliche Untersuchung der Ursachen sozialer Missstaende verlangten und die soziale Frage als eine von der Gesamtgesellschaft zu loesende ansahen. Integrationistinnen hingegen betrachteten soziale Arbeit als ein spezifisch weibliches Feld, das vor dem Kampf um Frauenrechte zu stehen hatte, und schufen im Fall der Sozialen Missionsgesellschaft auch erste Ansaetze zur Ausbildung von Sozialarbeiterinnen. Diese unterschiedlichen Zugangsweisen zu gesellschaftlichen Reformfragen untersucht Zimmermann in den Bereichen Kinderschutz und Muetterfuersorge, Prostitution und Sexualreform sowie Hausarbeit und Haushaltsreform.
4) Die allgemeinen buergerlichen Rechte der Frau, die vor allem kurz vor dem Ersten Weltkrieg anlaesslich von Plaenen zur Schaffung eines ungarischen Buergerlichen Gesetzbuches diskutiert wurden. In einem Ueberblick ueber die Rechtsstellung der Frau im ungarischen Privatrecht frappiert besonders die infolge der Abschaffung des ABGB 1861 teilweise Besserstellung ungarischer gegenueber anderen europaeischen Frauen, so in der Frage des Scheidungsrechts, des Fehlens einer Ausschlussbestimmung von politischen Vereinen und Versammlungen per se oder hinsichtlich der Geschaeftsfaehigkeit der Ehefrau. Die Rechtsstellung der Mutter gegenueber ihrem Kind war hingegen stark zuungunsten der Frauen geregelt.
5) Schliesslich das Frauenwahlrecht, fuer das insbesondere der Verein der Feministen eintrat und das in strategischer Hinsicht -sollte das Wahlrecht fuer Frauen unter den gleichen eingeschraenkten Bedingungen wie fuer Maenner oder als allgemeines Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechtes gefordert werden? - Konflikte unter den Frauenbewegungen schuf.
Als Anregungen moegen nun die folgenden Punkte verstanden werden: Das Buch ist an deutschsprachige Leserinnen und Leser gerichtet, die wohl besonders am Aspekt der Frauen- und Geschlechtergeschichte interessiert sein werden und nicht unbedingt Vorkenntnisse der ungarischen Geschichte mitbringen. Eine noch staerkere Einbettung in die in Ungarn laufenden zeitgenoessischen Debatten, z.B. hinsichtlich des Diskurses ueber die sexuelle Frage, waere wuenschenswert. Erstaunlich mag der deutschsprachigen Leserschaft die geringe Rolle, die die sozialdemokratische Frauenbewegung spielte, erscheinen. Zwar fand sich auch z.B. in Oesterreich und Belgien die Unterordnung der Sozialdemokratinnen unter die Vorgaben ihrer maennlichen Parteigenossen in der Frage des Frauenwahlrechts. Hier wurde aber diese Politik zumindest unter den Frauen diskutiert, was in Ungarn augenscheinlich nicht vorkam. Der internationale Frauentag wurde in Ungarn ueberdies nicht - wie anderswo in Europa -erstmals 1911, sondern erst 1914 mit Versammlungen begangen. Zimmermann verweist zwar auf die starken Tendenzen zur Unterordnung der Interessen der Arbeiterinnen unter jene der maennlichen Arbeiter innerhalb der Partei und auf die allgemeine massive Ausgrenzung der Sozialdemokratie "aus dem Spektrum der salonfaehigen politischen Kraefte", die Politik der Geschlechterverhaeltnisse in der Sozialdemokratie erscheint aber weiterhin erklaerungsbeduerftig.
Einzuwenden ist weiters, dass die Revolution von 1848 hauptsaechlich als buergerliche Revolution dargestellt wird, der nationale Charakter des ungarischen Aufstandes jedoch kaum Erwaehnung findet und damit auch die Einstellung der Frauen um 1848, aber auch der spaeteren Frauenbewegungen, zur nationalen Frage zu kurz kommt. Wir erfahren, dass der Landesverein der Weiblichen Angestellten Zweigvereinsgruendungen mit Nationalitaeten-Charakter ablehnte, auf Frauenbewegungen nationaler Minderheiten wird aber nicht eingegangen. Schliesslich haette ein Personenregister die Suche nach Querverweisen zu einzelnen Frauen erleichtert.
Hingegen ist der Anhang, der die wichtigsten Vereine kurz charakterisiert und ein Nachschlagen waehrend des Lesens ermoeglicht, sehr hilfreich. Die ausfuehrliche Bibliographie verweist auch auf Archivalien in Budapester Archiven sowie den in der New York Public Library aufbewahrten Nachlass Roza Schwimmers.
Die genannten Anregungspunkte machen selbstverstaendlich darauf aufmerksam, dass wesentliche historische Vorarbeiten noch nicht vorliegen. Zimmermann geht in ihrem Schlusskapitel auf die Problematik fehlender historischer Untersuchungen vor dem Hintergrund der ungarischen Wissenschaftsgeschichte ein. Angesichts dieses Defizits und nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass ein entsprechendes Ueberblickswerk fuer die oesterreichische Reichshaelfte, ja auch nur fuer die deutsch- oder tschechischsprachigen Frauenbewegungen noch immer fehlt[1], ist die Leistung Susan Zimmermanns gar nicht genug hervorzuheben.
Zimmermann endet ihr Buch bescheiden mit der Hoffnung auf eine weitere systematische Forschungstaetigkeit, die schliesslich Ungarn in die internationale Frauenbewegung und das dichte Netzwerk nationaler Frauenbewegungen einbetten und damit einen internationalen Vergleich ermoeglichen soll. Das ist sicher wuenschenswert, aber den Grossteil dieser Arbeit hat Susan Zimmermann mit ihrem ausgezeichneten Band bereits geleistet.
Endnoten
[1]. Harriet Anderson hat mit ihrem Buch Utopian Feminism: Women's Movements in fin-de-siecle Vienna (New Haven/London: Yale University Press, 1992), deutsche Uebersetzung Vision und Leidenschaf: Die Frauenbewegung im Fin de Siecle Wiens (Wien: Deuticke, 1994) allerdings einen ersten Ansatz in diese Richtung unternommen.
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Citation:
Birgitta Bader-Zaar. Review of Zimmermann, Susan, Die bessere Hälfte?: Frauenbewegungen und Frauenbestrebungen im Ungarn der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918.
HABSBURG, H-Net Reviews.
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