Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger. "Der Letzte der Ungerechten": Der "Judenälteste" Benjamin Murmelstein in Filmen 1942-1975. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts Series. Frankfurt: Campus Verlag, 2011. 208 pp. EUR 24.90 (paper), ISBN 978-3-593-39491-6.
Reviewed by Margrit Frolich (University of California San Diego)
Published on H-German (February, 2015)
Commissioned by Chad Ross
"Der Letzte der Ungerechten"
Der von Ronny Loewy und Katharina Rauschenberger herausgegebene Band geht auf eine Tagung der Arbeitsgruppe "Cinematographie des Holocaust" zurück, einem vom Fritz Bauer Institut in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Filminstitut und Cine-Graph Hamburg getragenen Projekt, das sich mit Filmen als Quellen für die Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust befasst. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht der ehemalige Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein (1905-89), einer der umstrittensten Überlebenden des Holocaust.
Murmelstein war hochrangiger Funktionär der von Adolf Eichmann kontrollierten israelitischen Kultusgemeinde in Wien und der letzte "Judenälteste" des Ghettos Theresienstadt. Nach 1945 wurde Murmelstein, wie die Herausgeber des Bandes schreiben, "zur Symbolfigur für die angebliche Kollaboration jüdischer Funktionäre mit dem NS-Regime. Nicht zuletzt an ihm entzündete sich die Debatte über die Rolle der 'Judenräte' und 'Judenältesten,' die bis heute zum Teil sehr emotional geführt wird" (p. 7).
1975 filmte der französische Filmregisseur Claude Lanzmann im Zusammenhang mit den Dreharbeiten für seinen epochalen Dokumentarfilm Shoah (1985) ein eindrucksvolles, umfangreiches Interview mit Murmelstein.[1] Ursprünglich für Shoah vorgesehen, fand es schließlich jedoch keine Verwendung darin. In den 1990er Jahren übergab Lanzmann das ungenutzte Filmmaterial dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes ist dieses Filmdokument, dessen Weg von Paris nach Washington Loewy skizziert.
Die beiden Herausgeber des Bandes haben Pionierarbeit geleistet, indem sie das bei Erscheinen des Buches (2011) nahezu unbekannte Gespräch zwischen Lanzmann und Murmelstein zum Gegenstand einer vielschichtigen historischen und filmwissenschaftlichen Betrachtung machen.[2] Nun hat Lanzmann aus dem Material schließlich doch noch einen Film über Murmelstein hergestellt. "Der Letzte der Ungerechten"—so der Titel des Films, der 2013 auf dem Filmfestival in Cannes Premiere hatte und jetzt als DVD vorliegt. Der Titel greift eine Formulierung auf, mit der Murmelstein sich im Interview selbst bezeichnete. Denselben Titel wählten Loewy und Rauschenberger für den vorliegenden Band, der zwei Jahre vor Lanzmanns Film erschienen ist.
Murmelstein war der einzige Überlebende der von den Nazis eingesetzten jüdischen Funktionäre. Kein Zweifel: das Interview mit ihm fasziniert. Murmelsteins unbestechliche Intelligenz, seine klare Urteilskraft und sein verblüffender Witz machen ihn heute zu einem beeindruckenden Zeitzeugen. Von Interesse ist das 1975 entstandene Filminterview auch deshalb, weil Murmelsteins Schilderungen die Machtlosigkeit der jüdischen Administration sowie die Motive für Murmelsteins umstrittenes Handeln nachvollziehbar machen. Er setzte auf Kooperation mit den Nazis, um Leben zu retten oder zumindest um die Lebensbedingungen im Ghetto zu erleichtern. Murmelsteins Schilderungen tragen Substantielles zum Verständnis der Verhältnisse in Theresienstadt bei und bringen Einzelheiten zur Person Eichmann ans Licht, die den Mythos vom einfältigen Bürokraten widerlegen. Über Jahrzehnte jedoch mochte niemand Murmelstein hören. Für den Eichmann-Prozess, in dem er aussagen wollte, wurde er nicht als Zeuge berufen.
Es ist daher naheliegend, dass die Herausgeber zunächst Murmelstein selbst zu Wort kommen lassen. Zu diesem Zweck haben sie einen Zeitungsbeitrag nachdrucken lassen, der ursprünglich 1963 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen war. Darin setzt Murmelstein sich gegen die von Hannah Arendt und Gershon Scholem seinerzeit gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zur Wehr. Des Weiteren enthält der Band einen transkribierten Auszug aus Lanzmanns Gespräch mit Murmelstein, dem zum besseren Verständnis eine kurze Einführung von Rauschenberger vorangestellt ist. In der ausgewählten Passage des Interviews, die auch die Dynamik des Gespräches verdeutlicht, geht es um die zentrale Frage von Murmelsteins Handlungsspielraum. Engagiert beschreibt Murmelstein die Zwangssituation des Ghettos, die ein System von Korruption innerhalb der von den Nazis eingesetzten jüdischen Selbstverwaltung hervorbrachte. Mit schlagfertigen Argumenten entkräftet Murmelstein Lanzmanns provozierende Unterstellung, er habe ein "faschistisches Temperament" besessen. Er macht Lanzmann deutlich, dass diese Frage an den Verhältnissen im Ghetto vorbei geht. "Wie würde ein faschistischer Charakter in Theresienstadt aussehen? Wäre das jemand, der sich nicht an demokratischen Beschlüsse hält?" (p. 28), hält er Lanzmann entgegen. Murmelstein grenzt sich auch von den anderen Mitgliedern des Ältestenrates ab, denen es seiner Darstellung nach lediglich um ihre persönlichen Privilegien und den Schutz der eigenen Freunde ging, wenn er sagt: "Wenn Sie das demokratisch nennen, dann bin ich ein Faschist. Bin ich gerne ein Faschist" (p. 32).
Mehrere Beiträge des Bandes befassen sich mit dem Interview, das Lanzmann mit Murmelstein geführt hat. Aufschlussreiche Erkenntnisse zur Einschätzung der Persönlichkeit Murmelsteins und seiner tragischen Rolle als jüdischer Funktionär bietet Doron Rabinovici. In seiner 2000 erschienenen Studie Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat hatte Rabinovici sich bereits mit Murmelsteins Rolle als leitender Beamter der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien nach 1938 beschäftigt. Hier erweitert er seine Betrachtungen zur Person Murmelstein und thematisiert auch dessen Wirken in Theresienstadt. "Benjamin Murmelstein war," so stellt Rabinovici fest, "kein Kollaborateur. Er kooperierte mit den Nazis, weil er glaubte, bloß auf diese Art Juden retten zu können. Seine Rechtfertigungen können von allen, die sich einfühlen wollen, nachvollzogen werden, und sie entbehren nicht der Logik. Sein Vorgehen unterschied sich nicht von dem anderer jüdischer Repräsentanten" (p. 48). Warum aber, fragt Rabinovici, wurde Murmelstein nach 1945 so viel härter und negativer beurteilt als alle anderen jüdische Funktionäre? Einen Hauptgrund dafür sieht Rabinovici in Murmelsteins skrupellosem Auftreten und seinem herrischen Führungsstil, mit dem er sich unter den jüdischen Mitgefangenen unbeliebt machte. Doch der tiefere Grund dafür, dass Murmelstein nach 1945 so verhasst war, besteht nach Rabinovicis Auffassung darin, dass er überlebt hatte: "Der Überlebende unter den 'Judenältesten' ... wurde als Skandal empfunden" (p. 52).
Murmelsteins Selbstwahrnehmungen und die Zuschreibungen, die sein Handeln nach 1945 erfuhr, stehen im Zentrum des Beitrags der Historikerin Lisa Hauff. Sie kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Rabinovici. Anna Hájkova beschreibt in ihrem Textbeitrag das Verhältnis von Murmelstein zu den nationalsozialistischen Machthabern, mit denen er es zu tun hatte: Eichmann und Karl Rahm, dem letzten Lagerkommandanten von Theresienstadt.
In einem Punkt sind sich die drei Autoren einig: Murmelstein, der an der eigenen Rolle durchaus Genuss fand, hat seinen Einfluss auf die NS-Machthaber überschätzt. Die Autoren sehen darin einen blinden Fleck des in Wahrheit Machtlosen: Es war für ihn von existentieller Bedeutung, seinem Handeln eine Wirksamkeit zuzuschreiben, die es in Wahrheit nicht hatte. Rabinovici liefert dafür eine plausible Erklärung, wenn er über Murmelstein schreibt: "Er wollte nicht zum bloßen Objekt der Geschichte verkommen sein. Er forderte ein, als Subjekt wahrgenommen zu werden. Auf diese Weise wehrte er sich dagegen, nichts anderes als ein Opfer gewesen zu sein. Er redet gegen die damalige Ohnmacht an, und dadurch wird sein Sprechen zur Überlebensstrategie des Übriggebliebenen" (p. 50).
Der Filmwissenschaftler und Historiker Daniel Wildmann fügt den Betrachtungen eine weitere Perspektive hinzu, indem er die Frage nach dem spezifischen Erkenntniswert des Filmdokuments stellt. Er untersucht die visuelle Sprache des Filmdokuments im Hinblick auf die Körpersprache der beiden Gesprächspartner und was sich an ihr über die Emotionen und die Interaktion der beiden erkennen lässt. Wildmann gelingt es, die vielfältigen Emotionen aufzuzeigen, die im Interview zum Ausdruck kommen. Ihn beschäftigt zudem die Frage, was Lanzmann dazu bewogen haben mochte, das Interview mit Murmelstein nicht in Shoah zu berücksichtigen, obwohl Lanzmann sich doch sichtlich im Verlauf des Gespräches von Murmelstein einnehmen ließ. Dreierlei Aspekte standen hier, wie Wildmann vermutet, miteinander in Konflikt: Lanzmanns Empathie für Murmelstein zum einen, zum anderen die Fokussierung des Filmregisseurs auf die Vernichtungslager im nationalsozialistisch besetzten Polen, zu der das Interview mit Murmelstein nicht recht zu passen schien, und schließlich dass ein von seinem Handeln ungebrochen überzeugter Murmelstein mit dem politischen und kulturellen Klima der 1980er Jahre nicht verträglich gewesen sein mochte. Wolle man jedoch Lanzmanns Entscheidungsprozess tatsächlich im einzelnen nachvollziehen—zu diesem Schluss kommt Wildmann—bedürfe es der Berücksichtigung zusätzlicher Quellen: der Produktionsnotizen, Briefe und Schnittprotokolle.
Drei weitere Beiträge des Bandes befassen sich mit historischen Filmen zu Theresienstadt beziehungsweise Filmen zur Person Benjamin Murmelstein. Die Prager Filmhistorikerin Eva Strusková untersucht die ersten Filmarbeiten, die im Jahre 1942 unter NS-Herrschaft in Theresienstadt entstanden. Sie fragt nach den Produktionsbedingungen und der Rolle, welche die damals in Theresienstadt internierten Juden in dem Propagandafilm spielten. Im Zentrum des Beitrags von Karel Margry steht der berüchtigte NS-Propagandafilm Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem Siedlungsgebiet—aus dem Jahre 1944. Murmelstein war in diesem Film eine Rolle zugedacht. Einige überlieferte Sequenzen zeigen Murmelstein neben Paul Eppstein, seinem Vorgänger im Amt des "Judenältesten," während dieser vor dem "Ältestenrat" eine Rede hält. Murmelstein zufolge wurden die Sequenzen aus dem fertigen Film herausgeschnitten, nachdem Paul Eppstein ermordet worden war. Hanno Loewy schließlich befasst sich mit Murmelstein als Figur in dem tschechischen Spielfilm Transport aus dem Paradies von Zbyněk Brynch aus dem Jahre 1962. Er entwickelt ein Panorama osteuropäischer Filme der 1950er Jahre und 1960er Jahre, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzten, und schließt damit eine Wissenslücke.
"Der Letzte der Ungerechten" ist erklärtermaßen Lanzmanns späte Rehabilitation des lange als Kollaborateur stigmatisierten Murmelstein, der sich selbst mit der literarischen Figur des Sancho Panza verglich: der berechnende Realist, der stets auf dem Boden der Tatsachen bleibt. Die Herausgeber und Autoren des vorliegenden Bandes laden dazu ein, sich mit diesem ungewöhnlichen Zeitzeugen, von dem man bis zum Erscheinen von Lanzmanns neuem Film nur wenige Informationen und keinen visuellen Eindruck hatte, wie auch mit der schwierigen Rolle der "Judenräte" aus heutiger Perspektive auseinanderzusetzen. Zweifellos gewinnt die Buchpublikation mit Lanzmanns 2013 fertiggestelltem Film an aktueller Bedeutung. Letztendlich mag man in dem vorliegenden Band auch ein Vermächtnis des 2012 verstorbenen Filmhistorikers und Exilforschers Loewy sehen, der sich Zeit seines Lebens mit der Erforschung der Filme des Holocaust befasste.
Anmerkungen
[1]. Ausschnitte aus dem 1975 entstandenen Filmmaterial sind auf der Website des United States Holocaust Memorial Museums abrufbar: http://resources.ushm.org/film/search/simple.php.
[2]. 2007 stand dieses Filmdokument erstmals im Zentrum einer Veranstaltung, die das österreichische Filmmuseum in Wien organisiert hatte. An ihr nahm auch Claude Lanzmann teil. Dort entstand die Idee zu der Tagung, auf der der vorliegende Band beruht.
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Citation:
Margrit Frolich. Review of Loewy, Ronny; Rauschenberger, Katharina, "Der Letzte der Ungerechten": Der "Judenälteste" Benjamin Murmelstein in Filmen 1942-1975.
H-German, H-Net Reviews.
February, 2015.
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