Hans Maier. Böse Jahre, gute Jahre: Ein Leben 1931ff. München: C.H. Beck Verlag, 2011. 420 S., 68 Abb. ISBN 978-3-406-61285-5.
Reviewed by Nikolai Wehrs
Published on H-Soz-u-Kult (July, 2011)
H. Maier: Böse Jahre, gute Jahre
Stand die Zeitgeschichtsforschung einmal in dem Ruf, die Intellectual History der alten Bundesrepublik mit Blickverengung auf linksliberale Gruppierungen zu schreiben, so macht sich nun schon seit einigen Jahren ein gegenläufiger Trend bemerkbar. Jens Hacke, A. Dirk Moses und andere haben den großen Einfluss konservativer bzw. liberalkonservativer Intellektueller auf die „Begründung“ des westdeutschen Staats nach 1945 detailliert erforscht. Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006; A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, New York 2007. Sollte dieser Trend anhalten, dürfte auch Hans Maiers Biographie eines Tages zum Untersuchungsgegenstand werden. Für das so einflussreiche Forschungskonzept der „45er“, das dem Generationszusammenhang der ungefähr zwischen 1922 und 1932 Geborenen quasi in allen Sektoren der bundesrepublikanischen Gesellschaft (Politik, Wissenschaft, Kirchen etc.) einen prägenden Einfluss zuschreibt, bietet Maier (Jahrgang 1931) ein geradezu klassisches Anschauungsbeispiel. Vgl. zum Konzept der „45er“: Moses, German Intellectuals, S. 55-73.
Bereits in den 1950er-Jahren war Maier in der „Freiburger Schule“ Arnold Bergstraessers maßgeblich an der Grundlegung der westdeutschen Politikwissenschaft beteiligt. Vor allem aber hat er stärker als jeder andere Intellektuelle der alten Bundesrepublik sein geistiges und wissenschaftliches Know-how in die praktische Politik hineingetragen. Als bayerischer Kultusminister war er sechzehn Jahre lang (1970 bis 1986) die meistgehörte Stimme der Schul- und Hochschulpolitik der CDU/CSU. Schließlich war Maier über zwölf Jahre hinweg (1976 bis 1988) Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Eine moderne Intellectual History, die Intellektuelle vor allem als Multiplikatoren von Sinndeutungen betrachtet und nach der politisch-gesellschaftlichen Umsetzung intellektueller Konzepte fragt, kann diese einflussreiche Figur nicht auslassen.
Maiers nun vorliegende Autobiographie ist in Feuilletonrezensionen zu Recht besonders für ihren literarischen Stil und ihren Anekdotenreichtum gerühmt worden. Henning Ottmann, Willkommen im Kreise der Prügelknaben, in: Süddeutsche Zeitung, 7.4.2011; Rainer Blasius, Gegen Defensivgeist und Gottähnlichkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.5.2011, S. 10; Hermann Rudolph, Lamm mit Schlitzohren, in: Tagesspiegel, 6.6.2011, S. 25; Friedrich Wilhelm Graf, Masszuhalten, tut den Sterblichen gut, in: Neue Zürcher Zeitung, 7.6.2011; Robert Leicht, Ein Begabter bei Hofe, in: ZEIT, 22.6.2011, S. 55. Im Folgenden sollen jedoch drei geschichtswissenschaftliche Fragen an sie herangetragen werden, die sich im Kern auf Maiers generationelle Selbstverortung beziehen: Welche Rolle kommt in seinen Lebenserinnerungen der Kindheitserfahrung in der NS-Gesellschaft und dem Erlebnis des Kriegsendes 1945 zu? Wie verortet er sich in generationeller Abgrenzung zur „68er“-Bewegung? Wo steht er als konservativer „45er“ im Gesamtspektrum des seinerzeitigen deutschen Konservatismus?
Schon dass die Kindheitserinnerungen in Maiers Memoiren mit knapp 50 Seiten noch mehr Raum einnehmen als in diesem Medium ohnehin üblich, hängt fraglos damit zusammen, dass diese früheste bewusste Lebensphase in die Zeit der NS-Diktatur fiel. Daraus erwachsen bekanntlich subjektive Zwänge, die Resistenz des eigenen Umfelds ausführlich darzustellen. Man darf Maier aber glauben, dass in seinem zutiefst katholischen Herkunftsmilieu die Vorbehalte gegen den Nationalsozialismus tatsächlich massiv waren. Neben solche persönlich-familiären Vorprägungen treten bei der Schilderung der letzten Kriegsjahre aber auch die generationstypischen traumatischen Erlebnisse: der fast tägliche Anblick der Leichen in der zerbombten Heimatstadt Freiburg, das Kriegsende als „Folge von Anarchie, Plünderungen, Vergewaltigungen“ – in Erfahrung gegossen wird „sinnloser, wilder Zorn“, unschuldig hineingerissen worden zu sein (S. 48). Für die Nachkriegsjugendzeit ist das begierige Aufsaugen alles Neuen generationstypisch, ebenso die lernbereite Haltung gegenüber den Westalliierten (beim Freiburger Maier sind es, im Unterschied zu vielen anglo-amerikanisch orientierten „45ern“, vor allem die Franzosen). Deutlich wird auch die von Beginn an starke Identifikation mit der westdeutschen Staatsgründung von 1949. Letztere wird quasi zum generationellen Projekt erhoben, wenn Maier den als blass empfundenen Terminus „45er“ durch das Äquivalent „49er“ ersetzt (S. 174).
Auffällig ist, dass Maier diese generationelle Vereinnahmung der westdeutschen Staatsgründung im Rahmen einer Fundamentalkritik an der Studentenbewegung einflicht. Mangelndes Demokratieverständnis wird dadurch implizit zur generationellen Eigenart der „68er“ schlechthin gemacht. Als junger Wissenschaftler begriff Maier Politikwissenschaft vor allem als Demokratiekunde. In diesem Sinne beteiligte er sich an der Konzeption des Schulfachs Gemeinschaftskunde in Baden-Württemberg und stärkte am Geschwister-Scholl-Institut in München die Politische Bildung. Doch die Hoffnung, der Demokratielehrer würde die diagnostizierten Irrwege seiner Schüler tiefer reflektieren, enttäuscht er. Maier bezeugt vor allem Unverständnis, zeigt sich auch habituell abgestoßen von der „Unform“ des Protests (S. 161). Dennoch sind die zwei Kapitel über das „lange Jahr 1968“ die zeithistorisch interessantesten dieser Autobiographie, denn überrepräsentiert ist die Perspektive der Ordinarien in der Historiographie zur Studentenbewegung bisher wahrlich nicht. Maier empörte damals besonders die Unterschiedslosigkeit, mit der die Studenten auch ehemalige NS-Verfolgte und Remigranten wie Ernst Fraenkel und Helmut Kuhn angriffen. Es waren solche Remigranten und andere junge „45er“-Professoren, mit denen er 1970 (kurz vor seiner Ernennung zum bayerischen Kultusminister) den „Bund Freiheit der Wissenschaft“ (BFW) gründete, dessen Mitglieder in erster Linie die Ablehnung einer „Demokratisierung“ der Universität durch drittelparitätische Mitbestimmung verband. Vgl. Nikolai Wehrs, Protest der Professoren – Der Bund Freiheit der Wissenschaft und die Tendenzwende der 1970er Jahre, in: Massimiliano Livi / Daniel Schmidt / Michael Sturm (Hrsg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt, Frankfurt am Main 2010, S. 91-112.
Der Kampf gegen die „demokratisierte“ Gruppenuniversität stand also am Anfang von Maiers politischer Karriere. Wer die detaillierte Auflistung seiner Gesetzgebungstätigkeit als Kultusminister studiert (S. 199-240), stellt freilich fest, dass die bayerische Schul- und Hochschulpolitik unter Maier kaum Sonderwege beschritt. Zu diesem Ergebnis kommt auch Anne Rohstock, Von der „Ordinarienuniversität zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München 2010, S. 331ff. Auch in Bayern wurde die Gruppenuniversität per Hochschulgesetz verordnet (ohne „Drittelparität“), und auch Bayern erkannte letztlich die Gesamtschulabschlüsse anderer Bundesländern an. Dennoch galt Maier vielen Linken damals als die personifizierte Erzreaktion. Tatsächlich trat er 1973 (erst drei Jahre nach seiner Ministerernennung!) in die CSU des Franz Josef Strauß ein. Gerade von Strauß jedoch zeichnet Maier ein denkbar negatives Charakterbild: cholerisch, maßlos, intrigant. In solcher Deutlichkeit liest man das in den Memoiren anderer CSU-Minister selten. Strauß soll seinerseits über Maier gesagt haben, ohne ihn werde die CSU wieder eine „Bierdimpfel-Partei“ (S. 251). Der musische Intellektuelle diente als Aushängeschild, durfte aber auf Intervention von Strauß nicht der erste Bundespräsident der CSU werden. Maier wiederum weigerte sich, nach den Wackersdorf-Protesten linke Lehrer zu „Fortbildungsmaßnahmen“ abzukommandieren. Ein rechter Weltanschauungskrieger war er auch auf dem Höhepunkt der Links-Rechts-Polarisierung in der alten Bundesrepublik nicht.
Als Katholik identifizierte sich Maier mit dem Reformprojekt des II. Vatikanischen Konzils. Sein großes Thema in der katholischen Laienbewegung war die „innerliche Aneignung der Demokratie“ durch den Katholizismus (S. 266). Zur „Kirche von unten“ zählte er sich freilich nicht, pflegte vielmehr intensive Kontakte zur hohen Geistlichkeit, namentlich zu Joseph Ratzinger. Mit diesem kam es aber Ende der 1990er-Jahre zur offenen Konfrontation, als Maier den Ausstieg der katholischen Kirche aus der Schwangerschaftskonfliktberatung nicht mittragen wollte und sich an der Gründung von „Donum vitae“ beteiligte. In seiner Autobiographie vertritt Maier die Ansicht, die katholische Kirche habe damals die Ungeborenen „ohne Schutz“ gelassen (S. 372) – prompt verbietet ihm nun der konservative Regensburger Bischof Buchvorstellungen in Räumen des Bistums. Mike Szymanski, Der unversöhnliche Hirte, in: Süddeutsche Zeitung, 15.5.2011.
Der Journalist Hermann Rudolph schrieb einmal über Maier, dieser sei ein „gefallener Liberaler, der unter die Konservativen gegangen ist“. Maier zitiert das (S. 187), will sich aber rückblickend nicht in die konservative Schublade „einsperren“ lassen (S. 292). In früheren Jahren hatte er dagegen öfters demonstrativ bekundet, den „Ehrentitel“ eines Konservativen nicht zu „scheuen“. Zugleich hatte er das beliebte Spiel konservativer Intellektueller gespielt, die vermeintlich „progressiven“ linken Gegner, namentlich die „68er“, als die eigentlichen Konservativen hinzustellen. Er hatte freilich auch zu berichten gewusst, dass er in den 1960er-Jahren als damals jüngster Professor der Ludwig-Maximilians-Universität München bei altkonservativen Kollegen als „Revoluzzer“ galt. Hans Maier, Aufstand der Professoren, in: Welt am Sonntag, 20.7.1970; ders., Bin ich ein Konservativer?, in: Rheinischer Merkur, 30.1.2003. Das war sicher schon damals stark übertrieben. Dennoch kann eine paradoxe Folge der Studentenbewegung darin gesehen werden, dass zuvor weitgehend ungebundene, eher gemäßigt liberale Intellektuelle wie Maier in traditionell konservative Parteien und Netzwerke hineingetrieben wurden, welche sie dann wiederum intellektuell zu revitalisieren halfen. Jedenfalls war die „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik nicht einseitig ein linksliberales Projekt, das gegen „rechte“ Widerstände durchgekämpft wurde. Ihre volle Wirkung entfaltete sie erst durch die Diversifizierungs- und Modernisierungsprozesse im westdeutschen Konservatismus seit den 1970er-Jahren. Das ist für die Zeitgeschichtsforschung keine neue Erkenntnis, doch wird sie durch Hans Maiers Autobiographie noch einmal anschaulich belegt.
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Nikolai Wehrs. Review of Maier, Hans, Böse Jahre, gute Jahre: Ein Leben 1931ff.
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