Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter, eds. Heimat: Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld: Transcript - Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, 2007. 198 pp. EUR 22.80 (paper), ISBN 978-3-89942-711-0.
Reviewed by Maria Irchenhauser (Queen's University)
Published on H-German (July, 2009)
Commissioned by Susan R. Boettcher
Heimatkonzepte in Deutschland im Zeitalter der Globalisierung
Das neue Jahrtausend hat in Deutschland mit einer Rückkehr zum Heimatbegriff begonnen. Die erneute Auseinandersetzung mit dem umstrittenen Konzept in öffentlichen Diskursen und in der Wissenschaft sehen die Herausgeber des vorliegenden Bandes in einer Reihe von Konjunkturen des Heimatdenkens, die sich in Deutschland über die letzten zweihundert Jahre feststellen lassen. Die jüngste Heimatkonjunktur kann demnach unter dem übergreifenden Aspekt der Globalisierung als Reaktion auf Transformationen von Raumkonzepten und von Mustern der Identitätsbildung gedeutet werden, die sich einerseits auf die politischen und ideologischen Umbrüche zu Beginn der 1990er Jahre sowie auf die Attentate des 11. Septembers zurückführen lassen können, und die andererseits mit der Zunahme von Mobilität und Flexibilität in großen Teilen der Bevölkerung einhergehen. Eine Annäherung an den Heimatbegriff, dessen "definitorische Widerständigkeit" (p. 9) die Herausgeber in ihrer Einführung als konstitutiv betrachten, wird dann besonders ergiebig, wenn sie, wie hier der Fall, in zeitgeschichtliche Kontexte eingeordnet und aus multidisziplinärer Perspektive durchgeführt wird. Diesem Ansatz entsprechend setzt sich der Band als Ergebnis der im November 2006 in Dresden abgehaltenen Tagung "Heimat. Zwischen Lebenswelt und Inszenierung" des forums junge wissenschaft aus sechs Beiträgen der Geschichts-, Literatur- und Filmwissenschaft zusammen, denen eine Einführung durch die Herausgeber vorangestellt ist. Behandelt werden Themen aus unterschiedlichen Hochphasen des Heimatdenkens, wobei der zeitliche Schwerpunkt auf den Jahren um 2000 liegt.
Neben der zeitgeschichtlichen Spezifität der Bedeutung des Heimatbegriffs stellen die Herausgeber in ihrer Einführung konstante Deutungstraditionen in der Begriffsgeschichte fest. Die unterschiedlichen, historisch spezifischen Ausprägungen von Heimatkonjunkturen führen die Autoren dabei auf die jeweilige Ausgestaltung der grundlegenden, strukturbildenden Dichotomie "Öffnung und Schließung" bzw. "Offenheit und Geschlossenheit" zurück. Der theoretischen Annäherung an den Heimatbegriff folgt ein knapper Überblick über sechs Heimatkonjunkturen seit den Anfängen des Heimatbegriffs vor zweihundert Jahren. Anregende Analysen verschiedener Zeitdokumente bringen die unterschiedlichen Ausprägungen dieser Phasen zum Vorschein. Auch wenn die Autoren mit ihrer Auswahl an Heimatkonjunkturen ausdrücklich keine Vollständigkeit beanspruchen, wäre es doch interessant, mehr darüber zu erfahren, nach welchen Kriterien die vorgestellten Hochphasen des Heimatdenkens gewählt und andere ausgespart wurden. Eine Fußnote mit dem bloßen Hinweis, daß die Zeit des sogenannten Dritten Reichs sowie die Nachkriegsdekade der 1950er nicht oder nur am Rande berührt werden, wird der Signifikanz, die diese Zeiträume für das Bedeutungsspektrum des Heimatbegriffs besitzen, wohl nicht gerecht, zumal sich einer der umfangreichsten Aufsätze in diesem Band (von Doreen Eschinger) ausführlich mit der Bedeutung des Holocausts für heutige Heimatkonzepte beschäftigt.
Eric Piltz untersucht in seinem Aufsatz individuelle Muster der räumlichen Orientierung und Bezugnahme in der Frühen Neuzeit, als das Wort "Heimat" noch mit "Haus- und Hofbesitz" konnotiert war. Am Beispiel der Autobiographie des Bauern Ulrich Bräker (1735-1798), der darin ausführlich über seine Reisen berichtet, illustriert der Autor seine These, daß sich Heimatkonzepte vor 1800 zunächst aus dem individuellen Erfahrungsraum und den damaligen Reisebedingungen entsprechenden, körperlich intensiv erlebten Raumerfahrungen zusammensetzen und sich auf die unmittelbare Umgebung beziehen. Reisetagebücher wie das von Bräker und andere Reiseliteratur aus der Zeit ergeben zusammen eine Vielzahl an erinnerten Orten und Wegstrecken, die in ihrer Gesamtheit zu mentalen Landkarten werden. Die zunehmende Verbreitung von Reiseberichten und Reisetagebüchern in der Frühen Neuzeit trugen demnach dazu bei, daß Raum immer mehr als abstrakte Größe wahrgenommen werden konnte, die unabhängig von der eigenen körperlichen Raumerfahrung existiert. Die Voraussetzungen wurden damit geschaffen, daß sich die räumliche Bezugsgröße von Heimat in der Frühen Neuzeit ausdehnen konnte und seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend mit abstrakten Räumen wie Vaterland und Nationalstaat konnotiert wurde. Piltz' Ausführungen zu Raumwahrnehmungen in der Frühen Neuzeit sind überaus interessant vor dem Hintergrund des jüngsten "spatial turns" in den Geistes- und Sozialwissenschaften, durch den räumliche Konstituierungen und Erfahrungen von Ereignissen und Phänomenen wieder verstärkt betrachtet und bewertet werden. Die unten vorgestellten Beiträge von Steffen Hendel und Christian Luckscheiter, in denen es um das Reisen und um Raumerfahrungen in zeitgenössischer Literatur um die Jahrtausendwende geht, bieten dazu eine direkte, aufschlußreiche Vergleichsmöglichkeit.
Doreen Eschinger befaßt sich in ihrem Artikel mit dem Heimatbegriff weiblicher, ungarisch-jüdischer Holocaustüberlebender. Exzerpte aus Interviews, die sie im Rahmen ihrer Dissertation mit siebenundzwanzig Frauen in Ungarn, Israel, in den USA und in der Schweiz führte, geben sehr unterschiedliche, persönliche Perspektiven auf die Identitätsformung der Überlebenden als Jüdinnen und als (geborene) Ungarinnen nach 1945 wieder. In einem historischen Überblick über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Ungarn von der Zeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie bis heute werden die Interviewausschnitte kontextualisiert. Die Autorin zeigt, daß die Erfahrung des Massenmordes an ungarischen Juden die Überlebenden mit einer seelischen Doppellast zurückgelassen hat: der Erinnerung an den Holocaust sowie dem erlebten Vertrauensverlust in ihr ungarisches Herkunftsland und seine mehrheitlich nicht-jüdische Bevölkerung. Dieser Bruch ist bis heute entscheidend für den Heimatbegriff der Befragten und bestätigt die Vorüberlegungen der Autorin, in welchen die begriffliche Zusammensetzung "jüdische Heimat" als ein "schwieriges Konstrukt" problematisiert wird (p. 81).
Bernd Hüppauf geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung dem Heimatbegriff zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts beigemessen werden kann. Heimat, so der Autor, stellt heute eine Art Korrektiv gegen ein Universalismusdenken des gegenwärtigen Zeitalters der Globalisierung und globaler Massenbewegungen dar und bietet sich als ein kreatives Angebot vor allem für jüngere Generationen an. So paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag, kann demnach Heimat heute durchaus zum Ausdruck einer Öffnung hin zu Differenz werden. Allerdings hat der umstrittene Begriff nur dann eine Zukunft, so der Autor, wenn er in seiner konstitutiven Ambivalenz voll (an)erkannt wird. Diesen Ergebnissen gehen interessante Überlegungen zur Begriffs- und Bedeutungsgeschichte voraus, die Heimat unter anderem in ihrem Verhältnis zu Raum und Zeit, in ihrem utopischen Potential sowie in den Chancen und Risiken der Ambivalenz, die Heimliches und Unheimliches gleichermaßen einschließt, untersuchen. Provokativ erscheinen manche verabsolutierenden Formulierungen, die aber in jedem Fall fruchtbare Diskussionen anregen dürften und so auch die Rezensentin zumindest in einem Punkt auf eine wünschenswerte Ergänzung hinweisen lassen: Wenn Heimat das Potential zugeschrieben wird, "als Raum von Selbstbestimmung und Eigensinn in einer aus Notwendigkeiten und Zwängen gemachten Umgebung" wirken zu können (p. 114), sollte wenigstens ein Verweis auf die geschlechtlichen Konstellationen erfolgen, die bis heute dem Begriff in seiner patriarchalischen Prägung inhärent sind. Da Heimat mit projizierten und implizierten Merkmalen von Weiblichkeit bzw. Mütterlichkeit konnotiert ist, war und ist sie gerade häufig der Ort, an dem viele Frauen und Mütter einer selbstbestimmten Lebensweise am wenigsten nachgehen konnten und können.
Als zwei neue Heimatfilm-Trends untersucht Alexandra Ludewig in ihrem Aufsatz die Ostalgie- und Westalgie-Filme, die im wiedervereinten Deutschland nach 1989 dem von vielen gefühlten Verlust einer gewohnten Form von ostdeutscher bzw. westdeutscher Heimat Ausdruck gaben bzw. geben. Anhand knapper Besprechungen von jeweils drei Filmbeispielen (Peter Timms Der Zimmerspringbrunnen [2001], Leander Haußmanns Sonnenallee [1999], Wolfgang Beckers Good-Bye Lenin! [2003] sowie Haußmanns Herr Lehmann [2003], Oscar Roehlers Die Unberührbare [2000] sowie Die fetten Jahre sind vorbei [2004] von Hans Weingartner) und deren Einordnung in größere, seit den 1990er Jahren aktuelle Diskurse um Heimat, Nostalgie und um Generationszuordnungen zeigt die Autorin, daß Ostalgie- und Westalgie-Filme trotz unterschiedlicher Motive und Erzählmodi die gemeinsame Funktion einer historischen "Verständigungshilfe" haben: Geschichte wird anhand von persönlichen Geschichten konkretisiert und verständlich gemacht. Ostalgie- und Westalgie-Filme versteht Ludewig als eine Form der "Arbeit am Mythos" (Blumenberg), bei der nicht das faktisch Nachprüfbare im Mittelpunkt der Erzählung steht noch angestrebt wird, sondern eine "bildhafte und symbolische Weltauslegung und Lebensdeutung unter Rekurs auf eine fabulierte Vergangenheit" (p. 142). Die derart ermöglichte Verarbeitung von Geschichte hat das Potential, so Ludewig, konstruktiv zur Entwicklung zukünftiger Heimatbilder beizutragen.
Anhand zweier fiktionaler Reiseberichte, Die Überfliegerin von Angela Krauß und Faserland von Christian Kracht (beide von 1995), erkundet Steffen Hendel in seinem Beitrag aktuelle Heimatkonzepte, insofern sie sich in der Darstellung und Behandlung der zentralen Themen beider Werke--Reisen, Identität und Fremdsein--rekonstruieren lassen. Hendel kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die Elemente der Ortsgebundenheit und der Ortsverbundenheit, die er der "Heimat im alten ortsfixierten Konzept" (p. 175) zuschreibt, bei beiden Erzählern komplett abgestreift wird. "Heimat" kann bei Krauß und Kracht stattdessen als Ausdruck einer individuellen, subjektiven Identität verstanden werden, die die Erzähler weder in ihrem Herkunftsland noch auf ihren Reisen finden können, sondern nur in ihrem Inneren. Wünschenswert wäre bei diesem Beitrag eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem oder den Heimatkonzept/en, von denen der Autor die bei Krauß und Kracht impliziten Heimatbegriffe abzusetzen versucht. Zu überlegen wäre auch, inwiefern sich die Heimatbegriffe der beiden Erzähler tatsächlich von der Bindung an Orten lösen und inwieweit sie Orte nur anders interpretieren bzw. andere Ortskonzepte als Bezugsgröße imaginieren. In diesem Kontext wäre es vielleicht lohnenswert, die von Hendel untersuchte Schlußszene aus Krachts Roman, in der der Erzähler allein in einem Boot auf dem Zürcher See zurückgelassen wird, zusätzlich unter dem Aspekt einer Foucaultschen "Heterotopie" zu betrachten.
Abschließend untersucht Christian Luckscheiter in Texten von Peter Handke aus den Jahren um 2000 Motive der Beheimatung im Zeitalter der Globalisierung, welches der Autor vor allem durch Raumtransformationen und Migration in unterschiedlichsten Formen geprägt sieht. Obwohl die Mehrheit der Handkeschen Protagonistinnen und Protagonisten heimat- und wurzellos am glücklichsten zu sein scheint, lassen sich bei ihnen Muster von Raumerfahrungen feststellen, die eine gewisse Dauer und Stabilität in der von ihnen gelebten und präferierten Mobilität und Flexibilität schaffen und so eine Verortung in der Heimatlosigkeit ermöglichen. Luckscheiter zählt dazu die Aufnahme verschiedener Formen von Alltagspraktiken (de Certeau) wie zum Beispiel dem "Gehen", das Auftreten von Erinnerungsbildern bekannter Orte, die den Protagonistinnen und Protagonisten in der Fremde eine Orientierungsmöglichkeit auf der Basis gewohnter Strukturen bieten, sowie die Niederschrift solcher Gedächtnisbilder, die den verschiedenen Migranten der Globalisierung zu einem konkreten Bezugspunkt werden kann. Auch wenn keine Verweise zwischen den einzelnen Beiträgen dieses Bandes bestehen, ergibt sich aus Luckscheiters Aufsatz zusammen mit den Beiträgen von Piltz und Hendel ein sehr interessanter, vergleichender Überblick über die Bedeutung des Reisens für die Formulierung des Heimatbegriff in der Frühen Neuzeit und um die Jahrtausendwende.
Der Zusammenstellung dieses Bandes fehlt es insgesamt leider etwas an Kohärenz. Eine stärkere inhaltliche Klammer hätte sich wohl ergeben, wenn die in den Band aufgenommenen Aufsätze die Auswahl der Heimatkonjunkturen im einleitenden Teil stärker reflektieren würden. Nützlich wäre auch die Formulierung von übergreifenden Fragen gewesen, so zum Beispiel nach der Bedeutung der Mobilität des Individuums für die Bildung von Raum- bzw. Heimatkonzepten, die in allen Artikeln, wenn auch in unterschiedlicher Form und Umfang, berührt wird. Wünschenswert für die Arbeit mit diesem Band wäre ein Index. Unabhängig von diesen vorwiegend äußeren Mängeln stellt allerdings jeder Beitrag für sich eine ausgesprochen lohnenswerte Lektüre dar. Der Band bietet nicht zuletzt auch aufgrund seiner multidisziplinaren Perspektive eine sehr fruchtbare Grundlage für Diskussionen und Fragen, die sich der jüngsten Heimatkonjunktur um die Jahrtausendwende widmen.
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Citation:
Maria Irchenhauser. Review of Gebhard, Gunther; Geisler, Oliver; Schröter, Steffen, eds., Heimat: Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts.
H-German, H-Net Reviews.
July, 2009.
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