Nicholas M. Nagy-Talavera. Nicolae Iorga: A Biography. Iasi und Portland: Center for Romanian Studies, 1998. 544 S. $50.00 (gebunden), ISBN 978-973-98091-7-7.
Reviewed by Armin Heinen (Universität des Saarlandes/RWTH Aachen)
Published on HABSBURG (September, 1998)
Nicolae Iorgas nationalistisches Denken. Geschichtsschreibung und Politik in der Tradition des Samanatarul
Bereits zu Lebzeiten sprach man vom Phaenomen Iorga. Mit fuenf Jahren las der junge Nicolae fliessend Franzoesisch. Mit 17 besuchte er die Philosophische Fakultaet in Iasi. Zwei Jahre spaeter hatte der Student sein Examen abgeschlossen. 1894, nur 23 Jahre alt, erhielt er eine Professur in Bukarest. 1897 wurde er mit 26 zum Korrespondierenden Mitglied der Rumaenischen Akademie der Wissenschaften gewaehlt. Bis zu seinem Tod, als ihn im November 1940 die Legionaere Horia Simas ermordeten, hatte er 1.200 Buecher publiziert und 20.0000 Artikel veroeffentlicht. Der Bukarester Professor brillierte als Mediaevist und Byzantinist, er engagierte sich als Zeithistoriker, war Literaturkritiker und Stueckeschreiber, analysierte und kommentierte in Zeitungen regelmaessig die politische Lage seines Landes. Mit Leidenschaft engagierte er sich in der Politik und uebernahm auf der Hoehe der Weltwirtschaftskrise fuer ein Jahr das Amt des Ministerpraesidenten.
Nicolae Iorga war eine Institution in Rumaenien. Er deutete die rumaenische Geschichte in der Tradition Xenopols, begruendete die Ansprueche des Koenigreichs auf Siebenbuergen, die Bukowina und Bessarabien. Von den ethnischen Minderheiten verlangte er Loyalitaet und die Bereitschaft zur Assimilation. Auch hierfuer brachte er historische Argumente vor. So wurde Iorga zum Historiker der rumaenischen Nationsbildung, begleitete deutend und fordernd den Weg vom Regat zum Grossrumaenien der Zwischenkriegszeit.
Iorgas Biographie gehoert in den Kontext der politischen Kultur Suedosteuropas im ausgehenden 19. Jahrhundert. Fuer die Intellektuellen gab es keine klassischen Faechergrenzen, wie sie heute ueblich sind. Fremdsprachenkenntnisse, umfassendes Wissen ueber Literatur, Kunst, Geschichte bildeten eine Einheit. Wie selbstverstaendlich meinte Intellektuellendasein politisches Engagement. Im Kontext der Geisteswissenschaften hatte die Geschichtswissenschaft wiederum einen besonderen Stellenwert. Indem sie von der Vergangenheit ueber die Gegenwart hinauswies, diente sie der kollektiven Selbstvergewisserung und war zugleich Zukunftswissenschaft. Iorgas beinahe autistischen Zuege, sein missionarischer Eifer spiegelten sich in seinen Positionen als nationalistisch gesonnener Historiker. Seine Unfaehigkeit, Kritik zu ertragen, seine Selbstueberschaetzung als Literat, seine Masslosigkeit als politischer Journalist, sein Unverstaendnis dem politischen Geschehen gegenueber teilten viele intellektuelle Zeitgenossen mit ihm, worauf Nagy-Talavera zurecht hinweist.
Dennoch hat Nagy-Talavera keine klassische politische Biographie geschrieben, keine umfassende historiographische Analyse der Werke Iorgas vorgelegt. Noch viel weniger hat er eine Mikrogeschichte angefertigt, konzentriert auf das Leben des Historikers, um von hieraus Einblick in die rumaenische Kultur und Gesellschaft zu finden. Nagy-Talavera interessiert das Denken des Nationalhistorikers. Er versucht, Iorga im klassischen Sinne zu verstehen, die inneren Zusammenhaenge seiner Ueberzeugungen herauszuarbeiten, die zeitbedingten Aeusserungen festzuhalten.
Dazu bedient er sich geradezu Iorgascher Mittel, einer bildhaften, erzaehlerischen Sprache, weitausladenden Einfuehrungen, abwaegenden Vergleichen mit anderen Personen der Geschichte. An der einen Stelle fordert er Verstaendnis, an der anderen meldet er Kritik an. Obwohl er ohne Zweifel die entsprechende Literatur gut kennt, verzichtet Nagy-Talavera auf theoriegesaettigte Analysen und begnuegt sich mit knappen Hinweisen. So unterscheidet er zwischen einem vorwaerts- und einem rueckwaertsgewandten Nationalismus. Und zur Erklaerung des rumaenischen Antisemitismus reichen knappe Verweise aus: auf die beschleunigte Einwanderung im 19. Jahrhundert, auf die Intervention der Grossmaechte waehrend des Berliner Kongresses sowie auf den gleichzeitigen Wandel von einer traditionellen zu einer modernen, kapitalistischen Wirtschaftsstruktur.
Iorga steht ganz im Mittelpunkt. Dementsprechend referiert Nagy-Talavera den allgemeingeschichtlichen Hintergrund aus der Standardliteratur. Hier vermag der Leser kaum Neues zu erfahren. Ueberhaupt ist zu beruecksichtigen, dass das Werk vor 1989 abgeschlossen wurde und somit Forschungsstand und Arbeitsmoeglichkeiten vor dem "grossem Umbruch" reflektiert. Heute koennte man vermutlich eine andere Biographie schreiben.
Iorgas Denken erschliesst sich dem Autor weitgehend aus dessen Schriften und Briefe, die er ueber Jahre durchgearbeitet hat. Zudem hat Iorga selbst mit seinen verschiedenen Memoirenbaenden und taeglichen Aufzeichnungen die Basis fuer eine gruendliche wissenschaftliche Biographie gelegt. Zusaetzliche Farbtupfer erhaelt die Analyse durch Ueberlieferungen aus dem Familienarchiv sowie Zeitzeugeninterviews.
Nagy-Talavera schildert Iorga als einen hochbegabten Eigenbroetler, der den Buechern mehr abgewann als dem Zusammensein mit Schulkameraden, Freunden oder Mitarbeitern. Sein Gedaechtnis war phaenomenal. Selbst Fussnoten fertigte er aus dem Kopf an, was in seltenen Faellen zu falschen Referenzen fuehrte, die ihm seine Gegner immer wieder vorhielten. Das aufbrausende Temperament hatte er von seinem Vater. Jeder vermeintlich ungerechtfertigten Kritik begegnete er wegen angeblicher Verleumdung mit einer Klage vor Gericht. Als er deshalb auch den Fuehrer der Legion "Erzengel Michael" belangte, dieser tatsaechlich verurteilt wurde und spaeter "auf der Flucht" starb, zahlte Iorga 1940 selbst mit dem Leben. Die Legionaere konnten sein Einschreiten nicht verzeihen. Dabei missbilligte der konservative Historiker den offensichtlichen Mord an Codreanu, weil dies seiner Auffassung von gerechtem staatlichen Handeln zuwiderlief.
Als Politiker "war Iorga eine Katastrophe," wie seine Zeitgenossen urteilten. Seine Partei, Partidul Nationalist Democrat, blieb immer die Partei Iorgas. Gleichwohl hatte er Mitstreiter, doch ueber sie erfahren wir wenig. Auf wen und wie Iorga um die Jahrhundertwende sowie spaeter praegend wirkte, bleibt vergleichsweise konturlos.
Ausfuehrlicher behandelt Nagy-Talavera Iorga als Literaturkritiker. Der Geschichtsprofessor konnte sich nie mit jenen aussoehnen, die ueber Eminescu hinausgingen, weil sie experimentelle, staedtische Literaturstroemungen aufgriffen. Iorga liebte es geradezu, die modernen, wie er meinte, unrumaenischen Schriftsteller zu hassen.
Vor allem im politischen Journalismus liess der Geschichtsprofessor seinem Temperament freien Lauf. Zu allem nahm er Stellung. Nagy-Talavera referiert geschickt Iorgas Kommentare aus dem Neamul Romanesc und schafft so ein eindringliches Bild von Iorgas Sicht der politischen Lage. Die geschichtswissenschaftliche Leistung des Historikers bleibt dagegen eher blass. Nagy-Talavera zaehlt die wichtigsten Publikationen in jedem der chronologisch angeordneten sieben Kapitel auf, gibt hier und dort einen knappen Aufriss des Inhalts, konzentriert sich aber im wesentlichen auf zwei Kontroversen, in denen sich Iorga stark engagiert hat. Herausgefordert durch die neue geschichtswissenschaftliche Schule um P.P. Panaitescu, C.C. Giurescu und Gh. Bratianu antwortete Iorga mit aller Schaerfe und mit seiner 10-baendigen Istoria Romanilor, die wissenschaftlich exakter als zuvor und auf breiter Quellenbasis seine Auffassung ueber die rumaenische Geschichte festhielt. Nagy-Talavera fasziniert die persoenliche und wissenschaftliche Bestaendigkeit Iorgas, waehrend er seinen Herausforderern, vor allem Panaitescu und Giurescu, Vorteilsstreben und politische Wendigkeit vorhaelt. Niemals sei Iorga in die Versuchung geraten, sich mit den Legionaeren einzulassen oder den Rassismus Hitlers zu billigen.
Ein zweites ausfuehrliches Unterkapitel (S. 383ff.) schildert Iorgas Reaktion auf die Thesen des ungarischen Historikers Sandor Domanovszky. Der hatte die ungarischen Ansprueche an Siebenbuergen mit der Einwanderungsthese zu belegen versucht. Iorga reagierte entschlossen und suchte, durch eine Vielzahl von Beweisen die Kontinuitaetslinie rumaenischer Siedlung in Transsilvanien zu belegen. Hier war der Nationalhistoriker in seinem Element.
Damit ist zugleich das Hauptinteresse Nagy-Talaveras beschrieben. Im Grunde ist sein Buch eine einzige Antwort auf die Thesen W. Oldsons und dessen 1973 erschienenen Studie ueber Iorga.[1] Spaeter hat sich Oldson noch einmal mit dem rumaenischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert beschaeftigt.[2] Oldson aeussert sich ueber den rumaenischen Nationalhistoriker entschieden kritisch, auch wenn er den Unterschied zu A.C. Cuza deutlich herausarbeitet: "Iorga not only admits being an anti-Semite but insists that he is militantly so", und: "Iorga may have a fairer attitude than some anti-Semites and may have modified his position for the better, but he is never really liberal or humane when it really counts, when the rights of others have to be balanced against the claims of Romanian nationalists."[3]
Nagy-Talavera geht es nun darum zu zeigen, dass Iorgas Denken mit dem Hinweis auf dessen Antisemitismus nur unzureichend beschrieben ist. Ueberzeugend differenziert er zwischen dem samanatoristischen Nationalismus des Altmeisters der rumaenischen Historiographie und dem neuen, aggressiven, gewalttaetigen Nationalismus nach 1918. Antisemitismus meint gewiss nicht zugleich faschistischen Vernichtungswillen. Doch trifft die Bezeichnung "humanistischer Nationalismus" wirklich den Sachverhalt, wie Nagy-Talavera als Kernthese herausarbeitet? Stand Iorga in der Tradition Herders oder Mazzinis, die einen natuerlichen Ausgleich zwischen den Nationen fuer moeglich hielten? Und inwiefern war ein Nationalismus tragfaehig, der die Gleichartigkeit der nationalen Kultur auf gegebenem Raum betonte, und nicht ihre Einheit in der Vielfalt? Zweifel bleiben auch nach der Lektuere von Nagy-Talaveras Opus.
Iorgas Nationalismus ueberschritt nie, wie sein Biograph dezidiert betont, die Schranken des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er bot keinerlei Basis fuer eine moderne arbeitsteilige Gesellschaft. Gerade deshalb konnte die Forderung nach einer freiwilligen Aneignung rumaenischer Kultur seitens der juedischen Bevoelkerung kaum greifen. Das emanzipative Potential des Iorgaschen Nationalismus wies ueber die Forderung nach territorialer Einheit fuer die Rumaenen und Schulbildung fuer die Bauern kaum hinaus. Iorga hatte kein Rezept fuer ein von unterschiedlichen Kulturen bestimmtes, sich modernisierendes Grossrumaenien. Auf die Krise der dreissiger Jahre reagierte er mit antijuedischen Aeusserungen und autoritaeren Vorstellungen. Seine Sympathie mit Mussolini ging soweit, dass er sogar den Einfall in Aethiopien billigte. Darueber verblasst, dass Iorga in den zwanziger Jahren die Demokratie unterstuetzte und den Minderheitenschutzvertrag akzeptierte. Iorgas "humanistischer Nationalismus" schuetzte den Politiker und Journalisten erkennbar nicht vor ideologischer Starrheit, wie sein Biograph herausarbeitet. Es ist anzunehmen, dass Iorga die ethnischen Saeuberungen Antonescus gebilligt haette. Nagy-Talavera jedenfalls zieht den Vergleich mit F. Tudjman, dem kroatischen Praesidenten, ebenfalls ein Historiker-Politiker: "Not that Tudjman condones genocide, but as a historian, he comes dangerously close to considering it a means to create a national state in a multinational region" (S. 510).
Es sei angemerkt, dass die Druckfassung, obwohl sie in der zweiten, veraenderten Auflage erschienen ist, noch viele Orthographiefehler enthaelt. Nicht alle Zitate scheinen vollkommen korrekt zu sein. Offensichtlich gab es am Druckort in Rumaenien kein qualifziertes Lektorat. Das ist schade, denn Nagy-Talavera hat eine fluessig geschriebene, zum Teil spannend erzaehlte, ehrliche, nachdenkliche Studie vorgelegt, die entgegen der urspruenglichen Absicht des Autors Olsons Thesen weitgehend bestaetigt. Gegenueber dessen Darstellung hat Nagy-Talavera nicht nur eine viel umfangreichere Analyse vorgelegt, sondern Iorgas Aeusserungen staerker in den jeweiligen Zeitkontext eingeordnet.
Anmerkungen:
[1]. William O. Oldson, The Historical and Nationalistic Thought of Nicolae Iorga (New York 1973).
[2]. Oldson, A Providential Anti-Semitism: Nationalism and Polity in Nineteenth Century Romania (Philadelphia: American Philosophical Society, 1991).
[3]. Oldson, The Historical and Nationalistic Thought of Nicolae Iorga, S. 85, 87-88, zitiert nach Nagy-Talavera, S. 270.
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Armin Heinen. Review of Nagy-Talavera, Nicholas M., Nicolae Iorga: A Biography.
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