Michael Th. Greven. Politisches Denken in Deutschland nach 1945: Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Opladen: Barbara Budrich Verlag, 2007. 304 S. ISBN 978-3-86649-079-6.
Reviewed by Rainer Eisfeld
Published on H-Soz-u-Kult (August, 2007)
Michael Th. Greven: Politisches Denken in Deutschland nach 1945
Während der ersten Nachkriegsjahre 1945–1947 konnte es scheinen, als seien die politischen Kernfragen der deutschen Neuordnung noch nicht durch den heraufziehenden Kalten Krieg vorentschieden. Für diese Phase hat man bei der Leserschaft der westlichen Besatzungszonen eine „Zeitschrifteneuphorie“ diagnostiziert Glaser, Hermann, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München 1985, S. 197. : In einem wenige Jahre später kaum noch vorstellbaren Ausmaß verlangte eine aufnahmebereite Öffentlichkeit nach Foren kultureller und politischer Diskussion. Bei diesen Debatten ging es um nichts Geringeres, als „Überlieferung, Besinnung, Erneuerung, Wandlung, Aufbau“ Ebd. zu konkretisieren und gleichzeitig das Verhältnis zu bestimmen, in dem diese Leitideen zueinander stehen sollten.
Wie eine Zeitschriften-, so ließe sich nicht minder eine „Bucheuphorie“ konstatieren. Von Friedrich Meineckes „Die deutsche Katastrophe“ bis Eugen Kogons „Der SS-Staat“, von Wilhelm Röpkes „Die deutsche Frage“ bis Paul Serings (Richard Löwenthals) „Jenseits des Kapitalismus“, von Josef Radermachers „Knüppel auf dem Weg zur Demokratie“ bis Oskar Starks „Wege zur Demokratie in Deutschland“, von Walter Bargatzkys „Schöpferischer Friede“ bis Erik Regers „Vom künftigen Deutschland“, von Franz Albert Kramers „Vor den Ruinen Deutschlands“ bis Max Pribillas „Deutschland nach dem Zusammenbruch“: Mit den Verfassern der Zeitschriftenbeiträge verband diejenigen der (hier stellvertretend aufgeführten) monographischen Veröffentlichungen die von Karl Jaspers Ende 1945 benannte Absicht, „wieder [zu] wagen, verantwortlich zu sein“, sich „denkend in dieser ungeheuren Not zurecht[zu]finden“. Jaspers, Karl, Geleitwort, in: Die Wandlung 1 (1945), S. 3-6, hier S. 4, S. 6.
Im Gegensatz zu den Zeitschriften waren die während des kurzen „Interregnum[s]“ (S. 21) nach 1945 publizierten monographischen „Zeugnisse des politischen Denkens“ bislang kaum Forschungsthema. Aus ihrer Fülle keinen repräsentativen, wohl aber einen „symptomatischen“ Ausschnitt mittels „textnahe[r] Analysen“ zu untersuchen (vgl. S. 32f.), ist das Ziel der Studie des Hamburger Politikwissenschaftlers Michael Th. Greven. Nicht nur prominente Beispiele bezieht Greven ein, sondern ausdrücklich auch „Gelegenheitsautoren“, die „späterhin […] nicht wieder in Erscheinung traten“ (S. 31). Dabei geht es ihm vorrangig um „hermeneutische Sensibilität für [deren] subjektive und objektive Lage“ (S. 105).
Diese Lage hat Hans-Peter Schwarz vor vier Jahrzehnten wie folgt gekennzeichnet: „Die Abstraktheit der Formulierungen und der geringe Grad an Informiertheit über die Vorgänge – das alles war typisch für den Stil politisierender Intellektueller, die zudem in der Nachkriegslandschaft erst tastend ihren Weg suchten und kaum über Informationsmittel verfügten. Es widerspiegelte aber auch die Situation der ersten Nachkriegsjahre, in der für den deutschen Beobachter alles im Fluß war.“ Schwarz, Hans-Peter, Vom Reich zur Bundesrepublik, Neuwied 1966, S. 351. Greven stimmt Schwarz in beidem zu – der Abgeschnittenheit der Autoren von aktueller Information (vgl. S. 18) wie der Gestaltungsmöglichkeiten, welche die Situation zumindest verbreiteter Auffassung zufolge eröffnete. Zur Kennzeichnung dieser Konstellation und ihrer Verarbeitung wählt er als Untertitel seines Buchs: „Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit“.
Damit ordnet Greven die Darstellung in seine eigenen Bemühungen ein, die Kategorie „Kontingenz“ als analytisches Werkzeug zu etablieren für die Untersuchung der Frage, welchen Raum „das Politische“ in den westlichen Gesellschaften unserer Gegenwart einnimmt. Greven nennt diese Gesellschaften „politische Gesellschaften“, denn tendenziell sei alles in ihnen politisch regelbar geworden – oder auch nicht. Mit Grevens Worten: „Kontingent sind die Regelungen, weil sie auch anders hätten ausfallen können und weil es hinsichtlich eines konkreten Sachverhaltes […] immer auch die Entscheidungsmöglichkeit gibt, auf eine konkrete Regelung ganz zu verzichten.“ Greven, Michael Th., Kontingenz und Dezision. Beiträge zur Analyse der politischen Gesellschaft, Opladen 2000, S. 27. Grevens Begriffsprägung „politische Gesellschaft“ ist gerade mit Blick auf das Kontingentwerden des Politischen kritisiert worden, weil dadurch letztlich die Gefahr einer unpolitischen Gesellschaft drohe – könne doch „in einer Kontingenzgesellschaft, in der alles disponibel wird […], die Entscheidbarkeit von Politik […] ebenso lauten: Nicht Politik.“ Vgl. Holzinger, Markus, Der Raum des Politischen. Politische Theorie im Zeichen der Kontingenz, München 2006, hier bes. S. 14f.
Akzeptiert man Grevens These, bleibt dennoch die Frage, ob der Begriff „Kontingenz“ im vorliegenden Fall bei der Rekonstruktion und Interpretation des jeweiligen Politikverständnisses der untersuchten Autoren wirklich hilft. Denn um eine „politische Gesellschaft“ mit ihrer „Ausweitung des Bereiches politischer Willensbildung“, von Greven als „Fundamentalpolitisierung von unten“ bezeichnet Greven, Kontingenz und Dezision, S. 16. , handelte es sich bei dem „Interregnum“ zwischen 1945 und „dem jeweiligen Regime der beiden deutschen Staaten nach 1949“ (S. 21) sicherlich nicht. Es war auf deutscher Seite gekennzeichnet durch einen zwar empfundenen, jedoch nur begrenzt realen „Möglichkeitshorizont“ bei zumindest „zeitweilig vollständige[m] Verlust eigener Entscheidungs- und Handlungskompetenz“ infolge „absoluter politischer Fremdbestimmung durch die Besatzungsmächte“ (S. 21, S. 25). Inwieweit aber deren Politik im Spannungsfeld struktureller Bedingtheiten, getroffener Vorentscheidungen und aktuellem Handeln „kontingent“ genannt werden kann, ist nicht Gegenstand der Studie (vgl. allerdings die Hinweise zur UdSSR, S. 211f.).
Greven unterteilt seine Darstellung – von Einleitung und Epilog abgesehen – in fünf Abschnitte: 1. Politik der geistigen Umkehr und Erziehung (Alfred Weber; Friedrich Meinecke; Karl Jaspers; Felix Schottlaender; Eugen Kogon), 2. Neubegründung des Gemeinwesens – Varianten des Föderalismus (Hans Peters; Georg Laforet; Otto Feger), 3. Dritte Wege zwischen Kollektivismus und Kapitalismus (Wilhelm Röpke; Paul Sering; Walter Dirks), 4. Die Sowjetunion als Vorbild (Alexander Abusch), 5. Freiheit im Planstaat (Ernst Niekisch; Helmut Schelsky). Stets enthalten die Kapitel bio- und bibliographische Angaben zu den Autoren, welche die Einordnung der diskutierten Texte erleichtern. Nützlich sind außerdem zwei zwischengeschaltete „Vorbemerkungen“ zur Föderalismusdebatte der Nachkriegsjahre sowie zum Verständnis marxistisch-leninistischer Politik.
Webers „Freier Sozialismus“ mit ausgeprägt europäisch-integrativer Komponente (S. 44f.), Richard Löwenthals „demokratischer Sozialismus“ als „europäische Mission“ (S. 190f.), Walter Dirks’ „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“, zu verwirklichen im Rahmen einer „Konföderation der europäischen Völker“ (S. 198, S. 209) – es wäre reizvoll gewesen, diese drei Konzeptionen miteinander zu konfrontieren. Auf jeden Fall aber gehört Webers Ansatz eher in den Abschnitt über „Dritte Wege“ als derjenige Röpkes, dessen Kapitalismuskritik sich „bei genauerem Hinsehen […] auf die bloße Ablehnung wettbewerbsbeschränkender Monopolbildungen“ reduziert (S. 169, S. 177) – Teil eines Wirtschafts- und Gesellschaftsbildes, das Greven mit detaillierten Nachweisen als „antimodern“ und „rückwärtsgewandt“ einstuft (S. 173f.).
Zugleich vermag er zu zeigen (S. 176f.), dass Röpke in seinen politischen Entwürfen die völkerrechtliche Wiederauferstehung der „traditionellen deutschen Kleinstaaten“ anstrebte, „wie sie vor 1866 bestanden hat[ten]“. Korrigiert Greven damit die bei Hans-Peter Schwarz anzutreffende Aussage, kein Publizist könne „mit größerem Recht die geistige Vaterschaft der Bundesrepublik in Anspruch nehmen“ als eben Röpke Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 393. , so weist er im Fall Meineckes die Auffassung Peter Graf Kielmanseggs zurück (S. 50), Meineckes Schrift „Die deutsche Katastrophe“ bezeuge nur dessen „Ratlosigkeit“ angesichts des ihm „gänzlich unerklärlich[en] […] Zivilisationsbruch[s]“ in Deutschland. Kielmansegg, Peter Graf, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 9. In den Mittelpunkt seiner eigenen („kontingenztheoretischen“) Analyse rückt Greven – unter Verweis auf ähnlich gelagerte Überlegungen Arnd Hoffmanns Hoffmann, Arnd, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 2005 (rezensiert von Uwe Barrelmeyer: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-033>). – Meineckes Kapitel „Der Zufall und das Allgemeine“. Sein Ergebnis lautet, dass sich bei Meinecke durchaus „klare realpolitische und realsoziologische“ Aussagen finden (S. 52).
Fünf der vierzehn Autoren, die Greven einbezieht, waren bereits vor 1945 Professoren (Jaspers, Meinecke, Peters, Röpke, Weber). Drei gelangten nach dem Zweiten Weltkrieg auf Professuren (Kogon, Löwenthal, Schelsky). Bei Kogon skizziert Greven einfühlsam dessen Entwicklung vom Spann-Schüler und rechtskatholischen österreichischen Publizisten zum Partner des Linkskatholiken Dirks als Mitherausgeber der „Frankfurter Hefte“ (S. 196f.). Mit Schelskys „Wiederaufstieg als Soziologe“ setzt er sich vor dem Hintergrund „seiner steilen Karriere im nationalsozialistischen Deutschland“ auseinander (S. 250, S. 252) und zitiert René Königs Urteil, wonach für das „Wiedereindringen zahlloser erwiesener Nationalsozialisten in den akademischen Lehrbetrieb […] in der Soziologie weitgehend Helmut Schelsky verantwortlich war“. König, René, Leben im Widerspruch, München 1980, S. 189. . Zu Recht vermerkt Greven (S. 251), dies habe König nicht „am persönlichen Umgang und an der Zusammenarbeit“ mit Schelsky gehindert (vgl. dazu Königs eigene Begründung Ders., In eigener Sache, in ders., Soziologie in Deutschland, München 1987, S. 9-20, hier S. 12f. ). Unerwähnt bleibt jedoch desen Aussage, er habe „stillschweigend den Verkehr mit [Schelsky] abgebrochen“ Ebd., S. 13. – offenkundig infolge Schelskys Rolle bei der Wiederberufung Karl Heinz Pfeffers Vgl. König, Leben, S. 188; ders., Kontinuität oder Unterbrechung – Ein neuer Blick auf ein altes Problem, in ders., Soziologie, S. 388-440, hier S. 421f. , der in dem unsäglichen „Handbuch der Judenfrage“ für die „Reinigung des deutschen Volkskörpers vom Einfluß der rassefremden […] Judenschaft“ geworben hatte.
Grevens Studie schließt eine Lücke. Mit ihrem analytischen Ansatz wie auch mit ihren Einzelinterpretationen fordert sie auf zu weiteren Überlegungen. Gelegentlich provoziert sie Widerspruch. Zusammengenommen ist dies das Beste, was man von einem Buch sagen kann.
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Rainer Eisfeld. Review of Greven, Michael Th., Politisches Denken in Deutschland nach 1945: Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
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