Jürgen Seidl. Die Bayerischen Motorenwerke (BMW) 1945-1969: Staatlicher Rahmen und unternehmerisches Handeln. München: C.H. Beck Verlag, 2002. XXV + 30 S. + 38 Abb. ISBN 978-3-406-10711-5.
Reviewed by René Del Fabbro
Published on H-Soz-u-Kult (April, 2003)
J. Seidl: Die Bayerischen Motorenwerke
Ein weitgehend weißer Fleck auf der unternehmenshistorischen Landkarte ist die Geschichte der BMW AG. Die semifiktive, in Teilen hagiographische Züge annehmende offizielle Unternehmensgeschichte von Horst Mönnich Mönnich, Horst, BMW. Eine deutsche Geschichte, München 1991. und eine Unzahl produktorientierter Darstellungen können diesen Mangel nicht beheben. In der Regel sorgen sie eher für Verwirrung. Für die Zeit von 1945 bis 1969 liegt jetzt eine erste geschichtswissenschaftliche Monographie vor, die auf Seidls 2001 in Regensburg angenommener Dissertation beruht. Die Arbeit gliedert sich neben der Einleitung in fünf chronologisch aufgebaute Hauptteile: „BMW nach Kriegsende“ (1945-1948) „Die Währungsreform als Neubeginn“ (1948-1956), „Die Krisenjahre“ (1957-1960), „Die Neue Klasse: Das entscheidende Produkt“ (1961-1965) und „Die Expansion“ (1966-1969). Ergänzt wird das Buch durch einen Anhang mit 18 Lebensläufen beteiligter Manager, zwanzig Produktfotos sowie ein Register. Anhand von primär Vorstands- und Aufsichtsratsprotokollen sowie ergänzend Akten der Bayerischen Landesanstalt für Aufbaufinanzierung zeichnet Seidl mit einem deskriptiv-ereignisgeschichtlichen Ansatz die Unternehmensentwicklung der BMW AG nach.
Im Gegensatz zu anderen Unternehmen der deutschen Kfz-Industrie hatte BMW einen schwierigen Start und benötigte zwei Jahrzehnte, um 1964 erstmals nach 1943 wieder eine Dividende auszuschütten. Ursächlich hierfür waren zum einen zwei erhebliche Startnachteile: BMW musste die Hypothek, im Zweiten Weltkrieg mit dem Bau von Flugmotoren fast ausschließlich in der Luftrüstung engagiert gewesen zu sein, durch längerfristige Beschlagnahmen von Werken und umfangreiche Demontagen abtragen. Dabei leisteten die BMW-Werke München und Allach allein knapp 28% aller bayerischen Demontagen (S. 32). Das Werk Eisenach, wo von 1929 bis 1941 BMW-Autos gebaut worden waren, lag in der Sowjetischen Besatzungszone, weshalb eine Automobilfertigung in München-Milbertshofen erst neu aufgebaut werden musste. Das unprofitable Werk in Berlin-Spandau wurde eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen mitgeschleppt. Zum anderen – und das erwähnt Seidl nicht in dieser Deutlichkeit – zeichnete sich das Agieren des Vorstands durch ein nachhaltiges Missmanagement aus – vor allem eine chaotische, am Markt vorbei zielende Produktpolitik. Der Generaltreuhänder Hans-Karl von Mangoldt-Reiboldt (eine Art Aufsichtsratsvorsitzender) war beruflich anderweitig stark engagiert, z.B. als Präsident der Europäischen Zahlungsunion.
Außer den seit 1949 wieder produzierten und bis Mitte der 1950er Jahre erfolgreichen BMW-Motorrädern fand der Vorstand lange kein Gewinn abwerfendes Produkt. Motorroller wurden aufgrund zu langen Zögerns des Vorstands überhaupt nicht gefertigt, womit man die Rollerkonjunktur verpasste. Die großen Auto-Modelle BMW 501 und 502 waren für den Nachkriegsmarkt aufgrund ihres hohen Preises ungeeignet und verursachten Verluste, welche sich z.B. 1953 auf 4.000 DM pro Wagen beliefen. Sie konnten durch den seit 1955 mit einer italienischen Lizenz produzierten zweisitzigen Kleinwagen Isetta nicht ausgeglichen werden. Zu einem weiteren Misserfolg wurde der BMW 600, die ulkige, aus der Not geborene ‚viersitzige Isetta´. Daneben hatte sich BMW bereits seit Beginn der 1950er Jahre wieder im Flugmotorenbau engagiert. In diesem Bereich scheiterte 1956 eine Kooperation mit Lycoming wegen der schlechten Wirtschaftslage der unter Kuratel des Bundes stehenden Tochtergesellschaft BMW Triebwerkbau. Ab 1960 fertigte der Unternehmensbereich auf Vermittlung des Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß, der sich stets engagiert für das größte Unternehmen seiner Heimatstadt einsetzte, mit einigem Erfolg Starfighter-Triebwerke im Lizenzbau. All diese unternehmerischen Experimente waren nur möglich aufgrund zahlloser Kredite – in erster Linie des bayerischen Staates –, Steuervergünstigungen und politischer Interventionen zugunsten der siechen Traditionsmarke.
Trotz aller Hilfen spitzte sich die Krise Ende der 1950er Jahre zu. Zwar versuchte der Aufsichtsrat 1957 mit einem Rettungsplan und der Einsetzung des neuen Vorstandsvorsitzenden Heinrich Richter-Brohm eine Wende einzuleiten. Der preußisch auftretende Manager scheiterte jedoch. Dies weniger an seinen neuen Methoden der Unternehmensführung und –positionierung – u.a. der später bei BMW bis zum Exzess betriebenen Marktforschung – als an dem zuletzt geradezu vergifteten Verhältnis zu den maßgeblichen Stellen des bayerischen Staates.
So ging bald die Rede von einer „Fortschleppung eines kranken Unternehmens“ und die Bayerischen Motoren Werke standen Ende der 1950er Jahre wegen Überschuldung dicht vor dem Konkurs bzw. dem Ende ihrer Unabhängigkeit. Auf der Hauptversammlung am 9. Dezember 1959 empfahl der Vorstand, ein vorliegendes Übernahmeangebot des Konkurrenten Daimler-Benz anzunehmen. Jenes Aktionärstreffen ist in die Geschichte eingegangen als der einzige Fall, in dem es den Kleinaktionären einer deutschen Aktiengesellschaft gelang, ein von Aufsichtsrat und Vorstand beschlossenes Vorhaben zu verhindern. Das bis Mitternacht befristete Übernahmeangebot der Daimler-Benz AG verstrich, und in den folgenden Jahren baute der offiziell bereits mit 7% des Aktienkapitals beteiligte Bad Homburger Unternehmer Herbert Quandt sein BMW-Engagement zur Mehrheitsbeteiligung aus, was dem bayerischen Fahrzeugbauer das Überleben sicherte.
Nach verschiedenen Strukturmaßnahmen, u.a. dem endgültigen Verkauf der Allacher BMW Triebwerkbau – einer begehrten Manövriermasse des BMW-Konzerns – an MAN, ging es mit dem Münchner Fahrzeugbauer zügig aufwärts. Hierzu trug seit Ende 1959 sowohl das erste erfolgreiche Nachkriegs-Automobil bei, der BMW 700, sowie ab 1962 die so genannte ‚Neue Klasse´, die legendäre, mit dem BMW 1500 startende Produktgruppe, welche bis heute das Grunddesign der BMW-Fahrzeuge bestimmt. Die steigenden Unternehmensgewinne führten 1966/67 – wiederum unter tatkräftiger Regie des bayerischen Staates – dazu, dass mit der Dingolfinger Glas GmbH ein bayerischer Wettbewerber übernommen werden konnte. Mit Seidls Fazit, dass „BMW als gelungenes Beispiel für den langfristigen Erfolg staatlicher Industriepolitik, die kurz- und mittelfristige Unternehmenskrisen überbrücken soll“ gelten kann, endet die Studie.
Da Seidl sich weder mit anderen Forschungsergebnissen oder -hypothesen auseinandersetzt, noch selbst Haupt- oder Nebenthesen formuliert, was auch daran liegt, dass er sich mit dem Stand der neuesten Forschung zur frühen Bundesrepublik überhaupt nicht auseinander setzt, könnte die Besprechung mit der Bemerkung schließen, es handle sich um eine halbwegs solide Zusammenfassung der BMW-Vorstands- und Aufsichtsratsakten von 1945 bis 1969, die gerade für das einer geschichtswissenschaftlichen Erforschung stets abgeneigte Unternehmen BMW einen Wert an sich darstellt. Doch liegt der Fall etwas komplizierter. Denn Seidl zeichnet als Mitautor eines Artikels, der einen so genannten ‚Analyserahmen´ für das Fach Unternehmensgeschichte vorstellt, der wiederholt durch das Adjektiv „theoretisch“ charakterisiert wird. Triebel, Horst; Seidl, Jürgen, Ein Analyserahmen für das Fach Unternehmensgeschichte, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2001), S. 11-26. Eben diesen theoretischen Rahmen führt er nach der Bemerkung, auf „die jüngst verstärkt aufgetretene Methodendiskussion in der Unternehmensgeschichte soll hier nicht eingegangen werden“, als Ersatz für die ihm offensichtlich leidige Debatte und somit quasi als Bestandteil seines Buchs ein (S. 2).
Besagter Artikel, der keinen Hinweis darauf enthält, welcher der beiden Autoren jeweils für welche Teile verantwortlich ist, entwickelt – kurz gefasst – den Gedankengang, dass Unternehmen mit ihrer Umwelt ein Netzwerk ausbildeten, in welchem die Teilnehmer „Knotenpunkte“ darstellten, die als Repräsentanten „natürlicher Personen“, Organisationen und „nicht materialisierter Ideen“ (Gibt es auch materialisierte Ideen?) zu verstehen seien. Als falsche Richtung verworfen wird eine vorrangige Entschlüsselung der inneren ökonomischen Logik von Unternehmen, wie sie die Neue Institutionenökonomik fordert, die Unternehmen übrigens ebenfalls als ein „Netz von Verträgen“ begreift. Sprachlich etwas unbeholfen verkünden Triebel/Seidl etwas, was lange bekannt ist und ohnehin keiner ernsthaft bezweifeln dürfte: „Unternehmen und Umwelt wirken [?] und beeinflussen sich gegenseitig.“ Ebd., S. 19. Bei ihren Darlegungen handle es sich „nur um einen theoretischen Rahmen“, der der Unternehmensgeschichte breitgefächerte Fragestellungen und Perspektiven eröffne. Ebd., S. 26. In der Wahl des „von der Geschichtswissenschaft bisher ausdifferenzierten Arsenals an Methoden“ sei jeder Forscher frei. Dass hier, wie behauptet, Fragestellungen und Perspektiven „eröffnet“ würden, stimmt schon insofern nicht, da sie ja bereits erkannt waren bzw. vielfache wissenschaftliche Behandlung fanden. Im Grunde wird der Gemeinschaft der Forschenden von Triebel/Seidl etwas mitgeteilt, was sie ohnehin seit Jahrzehnten weiß, und a posteriori generös etwas gestattet, was sie schon ebenso lange tut. Immerhin, neben bereits vorliegenden Studien Hierzu zählen laut Triebel und Seidl: Gall, Lothar (Hg.), Die Deutsche Bank 1870-1995, München 1995; Mommsen, Hans; Grieger, Wolfgang, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter in der NS-Zeit, Düsseldorf 1996 und Bauer, Reinhold, Pkw-Bau in der DDR. Zur Innovationsschwäche von Zentralverwaltungswirtschaften, Frankfurt am Main 1999. hier S. 25, Anm. 50. würden auch die Dissertationsprojekte der beiden Verfasser den Analyserahmen „exemplifizieren“. Ebd.
Sucht man nun in dem Seidlschen Werk nach Kapiteln oder auch nur Textstellen, mit denen die versprochene „Exemplifizierung“ in Verbindung zu dem „theoretischen Analyserahmen“ gebracht würde, sucht man bis auf eine kurze Passage am Beginn des Buchs vergeblich. Nach der Feststellung, „daß Unternehmen wie BMW durch ein Netzwerk in ihrer Umwelt verankert sind“, was die Basis der Überlegungen bilde, heißt es hier: „Aus dieser Vielzahl der Beziehungen greift diese Studie die Beziehungen zu der Marktebene heraus, um die wirtschaftliche Entwicklung zu analysieren. Dabei werden in erster Linie der Produktionsauf- und -ausbau mit den damit verbundenen Aufgaben der Ressourcenbeschaffung sowie die mit dem Produktabsatz verknüpften Probleme erläutert.“ Des Weiteren werde „aus dem Segment der kulturellen Einflüsse der Bereich der Institutionen durchleuchtet“, was die Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen umfasse. Ferner heißt es, die „umrissenen Betrachtungsfelder werden hauptsächlich aus der Sicht der Unternehmensleitung, d.h. Vorstand und Aufsichtsrat, veranschaulicht.“ Das Ganze mündet endlich in den rätselhaften Satz: „Mit dieser Innensicht des Unternehmens auf die Ereignisse gelingt ein exklusiver Blickwinkel auf die Unternehmensgeschichte der BMW AG.“ (S. 5) Diese Aussagen werden in der Folge in keiner Weise mehr aufgegriffen und stehen wie ein erratischer Block vor dem weiten, flachen Feld deskriptiver Empirie. Das Ganze wirkt gerade so, als ob diese Sätze der bereits fertigen Arbeit nur noch mühsam übergestülpt wurden.
Um so erstaunlicher ist dies, weil es vor Hinweisen auf Netzwerke naturgemäß nur so wimmelt. Nur einige Beispiele: 1. In Zusammenhang mit einem erwogenen Verkauf des Werks Allach an die Daimler-Benz AG wird deren Aufsichtsratsvorsitzender Hans Rummel genannt. Seidl gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass Rummel 1943 bis 1945 BMW-Aufsichtsratschef und zuvor lange Jahre bereits dessen Stellvertreter war. Hier müssten bei einem Netzwerktheoretiker doch alle Sirenen schrillen (S. 35, Anm. 8). 2. Mit Fritz Fiedler beschäftigte BMW den federführenden Automobil-Konstrukteur der 1930er in München wieder. Warum beging BMW dann in den 1950er Jahren mit der Vergabe der Karosseriefertigung an externe Firmen wie Reutter und Baur (S. 79) den selben kostenintensiven Fehler wie in den 1930er Jahren in Eisenach? 3. Richter-Brohms Beziehungen zur ‚Institution´ Bayern waren derart schlecht, dass er letztlich daran scheiterte. Hierzu gibt es von Seidl nicht benutzte Quellen, aus denen dies wesentlich schärfer hätte herausgearbeitet werden können. So berichtet ein Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, dass dem schnarrigen Richter-Brohm auf der Hauptversammlung 1959 der Ruf „Steh´ auf, du Bazi!“ entgegen schallte. Offenbar in direkter Reaktion darauf wurde sein Nachfolger Gerhard Wilcke nicht müde zu betonen, wie wichtig die bayerischen Verbindungen waren. Mit dem Bankier Josef Kamm und dem Geschäftsführer der BMW Triebwerkbau Hugo Krambeck verfügte er nach eigenem Bekunden sogar über zwei „Ratgeber für Bayern“, „die mir beibrachten [...], wen man zuerst und wen erst danach besuchen müsse, wer auf wen gut, sehr gut oder auch gar nicht gut zu sprechen sei, welche Querverbindungen zwischen Staat und Stadt bestanden und welche Bedeutung der Andechser Abt Hugo Lang nicht nur im kirchlichen Bereiche sondern auch der Politik des Freistaats habe.“ Wilcke, Gerhard, Erinnerungen, Typoskript 1975, S. 32f. Kein Sterbenswörtchen über diese wichtigen Zusammenhänge bei Seidl. 4. Schließlich hätte einem selbst ernannten Netzwerktheoretiker auffallen müssen, dass es in seiner Geschichte auf wirtschaftlicher und politischer Ebene jeweils einen ‚Knotenpunkt´ gibt, bei dem sehr viele Fäden zusammenliefen. Als diese Spinnen im Netz fungierten Herbert Quandt und Franz-Josef Strauß. Über der Frage des Verkaufs der restlichen Anteile an der BMW Triebwerkbau, die Quandt gerne behalten hätte, kam es Anfang der 1960er Jahre sogar zu einer Art Show-down zwischen den beiden ansonsten eher befreundeten Protagonisten. Dafür dass Seidl hier keine tieferen Hintergründe liefert, kann er teilweise nichts, da ihm der Zutritt zum Quandt-Archiv verweigert wurde und im Strauß-Archiv angeblich keine Dokumente hierzu existieren (S. 6f.). Hier tritt ein großes Manko aller Netzwerktheorien offen zu Tage. Oft werden sie in der Praxis partiell schon deshalb scheitern, weil entscheidende Quellen nicht zugänglich gemacht bzw. beseitigt werden (im Fall der Familie Strauß ja nicht nur Akten, sondern neuerdings auch Festplatten). Da Quandt und Strauß freilich der Schlüssel für alle ungeklärten Vorgänge der Jahre 1959 und 1960 sind, hätte Seidl wenigstens etwas mehr Material als nur die BMW-Protokolle heranziehen müssen. Seine Literaturkenntnisse sind aber nicht nur hier äußerst dünn. 5. Angesichts der immer noch ungeklärten genaueren Umstände der Übernahme von BMW durch die Quandt-Gruppe um 1960 hätte es zumindest Erwähnung verdient, dass es geradezu Quandt-Tradition war, Aktienpakete diskret aufzukaufen und Herbert Quandt diese Taktik ganz offensichtlich von seinem hiermit äußerst erfolgreichen Vater Günther übernommen hatte. So verliefen dessen Unternehmensübernahmen, etwa die der Accumulatoren-Fabrik AG (AFA), stets nach dem Muster, dass über Strohmänner große Aktienpakete gekauft wurden. Was um BMW Ende 1959 im Hintergrund genau passierte, bleibt nach wie vor im Dunkel eines der bestgehüteten Geheimnisse deutscher Wirtschaftsgeschichte. Hier stellt sich in erster Linie die von Seidl gänzlich vernachlässigte Frage, wieso Herbert Quandt zunächst Jahre lang gegen den Widerstand seines Bruders Harald und seines engsten Beraters Horst Pavel in die risikoreichen BMW-Aktien investierte, wenn er sie dann scheinbar ganz brav und mit Abschlägen an die Daimler-Benz AG weiter reichen wollte, die sein Kontrahent Flick kontrollierte. Vielleicht ist die Erklärung banal, aber möglicherweise verbirgt sich dahinter einer der am geschicktesten und vor allem diskretesten eingefädelten Coups in der Historie der Quandt-Gruppe, quasi das Meisterstück Herbert Quandts, mit dem er endgültig aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters treten wollte. Insbesondere klärt Seidl in diesem Kontext nicht, ob Quandt Ende der 1950er Jahre eventuell das 20- bis 25-prozentige BMW-Aktienpaket des Bremer Kaufmanns Hermann Krages erwarb, ähnlich wie er von diesem bereits Mitte der 1950er Jahre einen großen Bestand an Daimler-Benz-Aktien gekauft hatte. Seidl erwähnt zwar, dass Krages die Aktien veräußerte, weiß jedoch nichts über deren Verbleib zu sagen. Überhaupt ist das recherchierende Nachfassen nicht gerade die Stärke des Buchs. Oder anders gesagt: Immer wenn es spannend wird, endet Seidls Wissbegier.
Damit nicht genug: Die von Triebel und Seidl als zu kurz greifend gescholtene Neue Institutionenökonomik fragt vorrangig nach dem ökonomischen Handeln und den Binnenstrukturen von Unternehmen. Betrachtet man Seidls Darstellung in ihrer Gesamtheit, kümmert sie sich eben nicht in erster Linie um die von ihm postulierten Netzwerke, Knotenpunkte oder gar ‚nicht materialisierten Ideen´, sondern zielt mit Markt und Absatz, Produkterzeugung sowie entsprechender Ressourcenbeschaffung haargenau auf jene Elemente, deren vorrangige Betrachtung die Neue Institutionenökonomik fordert. Jedenfalls erschöpft sich Seidls BMW-Geschichte in einer – stellenweise ermüdenden – Schilderung fortwährender Finanz- und Produktereignisse. Was Mönnichs ‚Industrieroman´ an Zahlen schuldig bleibt, liefert Seidl in einer bisweilen schwindelerregenden Zahlenschlacht nach. Statt die Netzwerke seines eigenen Analyserahmens „exemplifiziert“ er also ausgerechnet die zuvor angegriffene Hardcore-Unternehmensgeschichte der Neuen Institutionenökonomik. Falls sich Seidl dessen überhaupt bewusst war, ist es freilich ein überaus ungeschicktes Vorgehen, zur Erhärtung eigener Thesen, Wasser auf die Mühlen der wissenschaftlichen Kontrahenten zu leiten.
Seidls Buch enthält eine derart ungewohnte Häufung von Logik-, Sach- und Grammatikfehlern wie auch Stilblüten (meist in Form merkwürdig schiefer Sätze), dass die Vermutung aufkeimt, es habe weder ein formales noch ein fachliches Endlektorat genossen. Da diese Fehler in einer solchen Menge auftreten und die schlampige Redaktion ein ständiges, die Lektüre begleitendes Ärgernis darstellen, seien hier zumindest einige gemäß der vorab genannten Rubriken aufgelistet.
Logik- und Sachfehler: 1. Der BMW-Finanzier Castiglioni sei, so Seidl, durch „Spekulationen während der Inflationszeit reich geworden“. Castiglioni war bereits sehr wohlhabend, wie Seidl zuvor selbst schreibt: „[...]im Ersten Weltkrieg einer der reichsten und einflussreichsten Finanziers in Mitteleuropa“. Sein Finanzimperium löste sich nicht 1926, sondern bereits 1924 auf. (S. 9, Anm. 2) 2. 1942 wurde man gezwungen, die Motorradfertigung nach Eisenach zu verlagern (S. 10f.). Von wem denn? 3. BMW baute in den 1930er Jahren keine „großen Limousinen“, sondern agierte in der Mittelklasse (S. 11). 4. „Anlagen“ wurden in eine „Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG)“ umgewandelt (S. 13). Anlagen können keine Gesellschaft werden. 5. Die vom „Deutschen Staat“ [!] forcierte Fertigung von Flugzeugmotoren hatte BMW zu einem der größten und bedeutendsten Rüstungsbetriebe im Dritten Reich gemacht. „Für die Alliierten bedeutete dies, dass das Unternehmen [...] nach dem 8. Mai 1945 als Exempel für die Entmilitarisierung galt (S. 14). Ein Rüstungsbetrieb als Exempel für Entmilitarisierung? 6. Das Raussendorf-Vielfachgerät sei „ein wichtiger Umsatzträger des Milbertshofener Werks“ gewesen. In Tabelle 1 werden aber gerade einmal zehn produzierte Vielfach-Geräte mit einem Umsatz von 2.500 RM ausgewiesen (S. 21f.). 7. Die Unsicherheit in der Personalplanung, so Seidl, ließe sich aus Tabelle 4 ablesen. Hieraus ergibt sich allerdings eine mehr oder weniger kontinuierliche Entwicklung (S. 23). 8. Tabelle 13 enthält Beträge in Reichsmark und D-Mark, diese werden addiert und dann zu Mark (M). (S. 58) Die Gleichung hieße demnach: RM + DM = M. 9. Seidl bewertet die Vorstandsentscheidung von 1953, keinen Motorroller zu bauen als „schwerwiegende Fehlentscheidung“, obwohl er selbst darlegt, dass die Absatzzahlen für Roller 1955 einbrachen und der BMW-Prototyp wegen durchschnittlichem Design und durchschnittlicher Technik geeignet war, das BMW-Image zu schädigen (S. 68f.). Die Fehlentscheidung muss demnach viel früher gelegen haben. 10. 4.000 DM sind kein Viertel von 13.000 DM (S. 94). 11. Der italienische Industrielle Renzo Rivolta wird bei Seidl zu Renzo Rivolto (S. 103). 12. Die Beschlagnahme, zuerst als Vorteil gewertet, wird in der Kapitelzusammenfassung zum Startnachteil erklärt (S. 118f.). 13. Aus Tabelle 28 geht hervor, dass BMW 1951 mit 50% der Beschäftigten in der bayerischen Kfz-Industrie nur 14% des Umsatzes erwirtschaftete, dieses Verhältnis sich 1956 aber auf 12,4% zu 13,6% belief. Auf diese enorme Verbesserung innerhalb weniger Jahre und die Gründe dafür geht Seidl überhaupt nicht ein (S. 127). 14. Seidl versichert, der im Protokoll einer Aufsichtsratssitzung „nicht genannte deutsche Investor war Herbert Quandt“, ohne zu erklären, wie er auf diesen Namen kommt, wenn er nicht genannt war (S. 144). 15. Bei der Schilderung von Sanierungsbemühungen ist erst von einer Kapitalerhöhung die Rede, dann plötzlich von einem Kapitalschnitt, also dem genauen Gegenteil, ohne dass geklärt würde, wie dies zusammenhing (S. 248). 16. In einer Kapitelüberschrift wird die ´Neue Klasse´ als „Das Entscheidende Produkt“ bezeichnet (S. 256). Sie ist aber kein Einzelprodukt, sondern eine ganze Gruppe verschiedener Produkte. 17. 1964 ging der Absatz des BMW 1500 zurück, „da die Kunden den BMW 1600 als dessen Nachfolger interpretierten und somit hauptsächlich den neuen Wagen orderten.“ Daraufhin änderte der Vorstand das Produktionsprogramm „zu Gunsten der stark gefragten Typen BMW 1800 und BMW 1800 TI“ (S. 289). Wie passt das zusammen? 18. Das Unternehmensjubiläum 1966 wird zum „Betriebsjubiläum“ degradiert (S. 292). 19. Die erheblichen technischen Mängel des BMW 1500 erwähnt Seidl bei der ausführlichen Schilderung des Produktionsstarts mit keiner Silbe (S. 290). In der Kapitelzusammenfassung (S. 364) werden diese drastischen Mängel dann plötzlich benannt. 20. Zu einer Annexion der CSSR konnte es 1939 nicht kommen, da es sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab (S. 399).
Stilblüten: 1. „Die Tätigkeit des Historischen Archivs von BMW in den vergangenen Jahren ergab, dass viele Aussagen in Mönnichs Arbeiten falsch sind.“ (S. 3; S. 17) 2. Was ist unter einer „Neuordnung der historischen Aktivitäten innerhalb der BMW AG“ zu verstehen? (S. 4) 3. Im Quellenverzeichnis findet sich eine „Liste der verwandten Akten“. (S. 6; S. 28) 4. „Erst nach der Einnahme Berlins durch die Rote Armee am 2. Mai 1945, der Absichtserklärung über die Einrichtung einer Viermächteverwaltung Berlins am 5. Juni 1945 und der ersten Sitzung der vier Stadtkommandanten am 11. Juli 1945 erlangte die Münchner Zentrale wieder Nachrichten aus der Hauptstadt.“ (S. 23) Wann genau, kann sich der Leser selbst aussuchen. 5. „Die Arbeiten für die US-Army [...] entlasteten den bayerischen Arbeitsmarkt“ (S. 48). 6. Einen Termin verfehlte man „immer weiter“ (S. 69). 7. BMW war „selbst in der Lage, eigene Karosserien zu produzieren“ (S. 90). 8. „Die BMW R 24 lehnte sich, um Entwicklungskosten zu sparen, stark an das Vorkriegsmodell mit 250 ccm an.“ (S. 119) Ein Motorrad spart also Entwicklungskosten. 8. BMW verkaufte „im ersten Jahr 1956 nur 120 Stück“ (S. 120). 9. Motorraderlöse bestritten „fast ausschließlich den gesamten Umsatz“ (S. 121). 10. Es sollte „eine neue Karosserie für den 8-Zyl.-Motor gezeichnet werden“ (S. 129). 11. „Zwischenzeitlich entfachte [...] ein regelrechter ‚Pressekrieg´“. (S. 200) 12. Es kam zu einer „Verringerung des Aufsichtrats“ (S. 263) und ein Arbeitnehmervertreter hätte den Aufsichtsrat verlassen müssen, „da dem Unternehmen nach den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes mindestens zwei Arbeitnehmervertreter als Mitglieder angehören mussten“ (S. 263). 13. „Der BMW 1500 [...] schuf eine Marktnische“ (S. 274) statt sie zu besetzen. 14. Ein Kapitel schildert „Das vorläufige Ende der BMW-Kleinwagen“ (S. 284). 15. „Ob sein [Sonnes] Meinungsumschwung durch die Einflussnahme Quandts bzw. Wilckes herbeigeführt wurde, kann nur angenommen werden.“ (S. 302) 16. Es kam zu einem „Verkaufsende der Marke Glas“ (S. 330) und einer „unternehmensentscheidenden Hauptversammlung“ (S. 373).
Endlich sind die zahlreichen Grammatikfehler zu bemängeln. Wendungen wie „mit dem Offizierskreuzes“ (S. 9; S. 2), „deren hohe quantitativen Vorgaben“ (S. 21), „Bericht über das Monat“ (S. 55; S. 99), „Besonders an den Ausfuhren [...] belegt [...] die kontinuierlich wachsende Bedeutung“ (S. 118), der BMW 501 wurde „die Leistungsanforderungen [...] nicht gerecht“ (S. 120), circa ein Drittel der Produktion wurde „anverkauft“ (S. 153), „die bayerischen Finanzministeriums“ (S. 198), „seine Amt“ (S. 245), „Die Geschäftsentwicklung [...] liefen“ (S. 246), „weitere Gesprächen“ (S. 259), „eines Vorstandmitglied“ (S. 260), „den Serienstart [...] gemeistert werden“ (S. 262), „Da das Bayerisches“ (S. 266), „konnte der Serienproduktion beginnen“, „der zusätzlichen Arbeitskräftebedarf“ (S. 271), „am Führungsanspruchs“ (S. 272) sind ständige und ärgerliche Stolpersteine der Lektüre.
Aus quellenkritischer Sicht fällt auf, dass das Agieren der Beteiligten zu Lasten einer kritischen Würdigung stark im Vordergrund steht. Hier schlägt sich die Tendenz zur Glättung von Konflikten in der Quellengattung der Vorstands- und Aufsichtsratsprotokolle eindeutig in der Darstellung nieder. So drängt sich z.B. immer wieder die Frage auf, wie und wieso es zwischen 1945 und 1960 zu den vielen unternehmerischen Fehleinschätzungen seitens der Vorstands- und Aufsichtsgremien kam. Insbesondere stellt sich dem Leser immer deutlicher die Frage, ob es sich bei BMW in Bayern um einen Sonderfall handelt, eine Art casus sui generis mithin, der sich hinsichtlich seiner Geschichte und seiner Stellung im Freistaat mehr oder minder deutlich von allen anderen Unternehmen unterscheidet. Diese wichtigen und sich geradezu aufdrängenden Fragen werden weder gestellt noch beantwortet, wodurch eine große Chance für die Unternehmensgeschichte vertan wurde. In der denkbar unfruchtbarsten Weise kommt Seidls Studie hier die hermeneutische Festlegung auf „die Innensicht des Unternehmens auf die Ereignisse“ in die Quere.
Die Tatsache, dass Seidl während der Abfassung seiner Arbeit selbst BMW-Angestellter war, d.h. die Studie von BMW bezahlt ist, wird überhaupt nicht erwähnt. Die Finanzierung von Unternehmensgeschichten sozusagen durch die Forschungsgegenstände selbst ist ja bekannterweise Glück und Elend der Unternehmenshistoriographie zugleich. Freilich sollten gerade in dieser Forschungsrichtung die Autoren – schon allein aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit – ihre Geldgeber nicht verschweigen.
Eine abschließende Wertung der Arbeit muss zwiespältig bleiben. Trotz aller formalen, inhaltlichen und wissenschaftlichen Mängel stellt die Arbeit die erste nicht rein produkttechnisch orientierte Monographie über einen wichtigen Abschnitt der BMW-Geschichte dar, die zumindest die Ereignisgeschichte auf Basis systematischen Aktenstudiums darstellt. Hierin liegt der eigentliche Wert der Studie. Auf der anderen Seite peilte Seidl ja weit Höheres an. Mit der praktischen und vor allem ergebnisorientierten Umsetzung des von ihm mitverantworteten „Analyserahmens“ zeigt er sich indes völlig überfordert. Ihn mit ein paar Sätzen zu erwähnen, dann aber eine völlig konventionell-deskriptive Studie vorzulegen, die im Wesentlichen die Perspektive von Vorstand und Aufsichtsrat referiert, bleibt gänzlich ohne den angestrebten und letztlich auch versprochenen intellektuellen Mehrwert. Dieser Teil des Projekts ist komplett gescheitert. Und so verharrt eine theoretisch neu fundierte Unternehmensgeschichte weiterhin im Reich „nicht materialisierter Ideen“.
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René Del Fabbro. Review of Seidl, Jürgen, Die Bayerischen Motorenwerke (BMW) 1945-1969: Staatlicher Rahmen und unternehmerisches Handeln.
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April, 2003.
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