Die Lettner des 13. und 14. Jahrhunderts in Elsass-Lothringen. D?hrkohp & Radicke.
Published on H-Soz-u-Kult (October, 1999)
Laien hassen Priester und das schon von alters her.[1] So lautet zumindest eine Feststellung des beruehmten spaetmittelalterlichen Predigers im Strassburger Muenster, Geilers von Kaysersberg (1445-1510). Geilers Aussage radikalisierte eine alltaegliche Wahrnehmung seiner Zeit, in der sich Laien und Kleriker hinsichtlich der spezifischen Lebensfuehrung und der daraus resultierenden persoenlichen Qualitaet in geradezu elementarer Weise voneinander unterschieden. Eine deutliche Abgrenzung zwischen Laien und Klerikern vergegenstaendlichte sich seit dem Hochmittelalter im Lettner. Der Lettner stellte eine oft mit Bildern und Figuren verzierte und mit Durchgaengen durchbrochene Mauer dar, die die im Chor zelebrierenden Kleriker von den andaechtigen Laien im Kirchenschiff trennte oder jene ueber die Zuschauer erhoehte, wenn Priester fuer kultische Handlungen auf den Lettner stiegen. <p> Jan Schirmers Untersuchung ueber Lettner des 13. und 14. Jahrhunderts in einem geographischen Gebiet, dessen Teile wir uns angewoehnt haben, mit Elsass oder Lothringen zu bezeichnen, bietet im wesentlichen nichts anderes als die auf CD-ROM gebrannte Textdatei seiner Magisterarbeit. Diese kunsthistorische Abschlussarbeit wurde in der vorliegenden Form 1993 bei Prof. Dr. Antje Middeldorf-Kosegarten in Goettingen angefertigt. Der argumentative Stil des Textes ist gepraegt von der akademischen Situation, in der er entstand. Die Auseinandersetzung mit der Forschung strukturiert die gesamte Darstellung. Der eigene Standpunkt des Autors wird gleichsam zurueckgehalten. <p> Jan Schirmer befasst sich mit der Frage, nach welchen Kriterien sich die von ihm untersuchten Lettner in elsaessischen und lothringischen Kirchen des 13. und 14. Jahrhunderts typisieren und chronologisch ordnen lassen. Seine Typologie basiert auf der Hervorhebung einiger baulicher Merkmale. Er spricht von Kanzellettner, Hallenlettner, Schrankenlettner, Bettelordenslettner und den fuer die Typologie etwas merkwuerdig konzeptionalisierten "Nicht naeher zu bestimmende[n] Lettner[n]". Wahrgenommen werden Lettner lediglich als architektonische Loesungen und nicht als baulicher Ausdruck einer sozialen oder liturgischen Funktion. Andere "Abschrankungen" des Chores vom Raum der Laien koennen aufgrund dieses Ansatzes weder als funktionale Aequivalente untersucht noch unter einer gemeinsamen Fragestellung subsumiert werden. Fragen, warum sich gerade in dieser Zeit ein klerikales Beduerfnis nach Abgrenzung ausbildete und im Lettner und anderen baulichen Formen niederschlug, bleiben unbedacht. In dieser Hinsicht wird man eher auf die auch fuer Schirmer weithin massgebliche Dissertation Kirchner-Doberers zurueckgreifen.[2] Oder man laesst sich von Duby dafuer sensibilisieren,[3] in welchen Formen sich in der fraglichen Zeit die Beziehung zwischen Glaeubigen und Klerikern im kirchlichen Raum--bis hin zur relativen Beruehrbarkeit zwischen Laien und Priester--ausgestaltete. <p> Wie gut, dass der Autor auf eine so gruendliche Arbeit wie die von Erika Doberer, damals noch Doberer-Kirchner, zurueckgreifen kann. Ihre Dissertation ueber "Die deutschen Lettner bis 1300"[4] bietet ihm eine Fuelle von Bemerkungen, Zitaten aus dem mittelalterlichen Schrifttum und Beobachtungen aelterer Forschung, die er zur Darstellung verwendet.[5] (Dem ueber 40 Seiten langen Literaturverzeichnis, in dem Doberers einschlaegige Beitraege versammelt sind, mag man lediglich ihren Artikel "Lettner" im Lexikon des Mittelalters hinzufuegen.[6]) Schirmer loest sich vor allem negativ von ihr, indem er Doberers Bemuehungen um eine vielfaeltige Kontextualisierung des Lettnerbaus in gesellschaftliche Zusammenhaenge ausschliesst. <p> Das eigentliche Problem eroeffnet sich fuer den Autor dadurch, dass ihm das fuer eine kunsthistorische Arbeit konstitutive schoene Objekt fehlt. Die von ihm beschriebenen Lettner stehen heute nicht mehr. Ihre einstige Gestalt laesst sich nur noch durch alte Abbildungen, teilweise auch schriftliche Bemerkungen und Analogieschluesse rekonstruieren. <p> Saekulare Umorientierungen motivierten die Zerstoerung der Lettner. Eine veraenderte Wahrnehmung erlaubte Umgestaltungen im kirchlichen Raum nicht nur zur Zeit der Reformation und des Tridentinums, sondern auch im Zeitalter der buergerlichen Revolutionen. Nicht bei der Einfuehrung des protestantischen Kultes 1529 wurde der Lettner im Strassburger Muenster beispielsweise abgebrochen, sondern erst im Zuge der Rekatholisierung 1681, als der Bischof Wilhelm Egon von Fuerstenberg ein Jahr spaeter den Chor auf Kosten des Lettners vergroessern liess. <p> Neben der Analyse der Forschungsliteratur sowie der Erfassung der erhaltenen Monumente und Fragmente in Verknuepfung mit der stilistischen Analyse des Materials bezeichnet Schirmer es anfaenglich als das wesentliche Ziel seiner Arbeit, erstmals eine relative Chronologie der nachweisbaren Lettner des 13. und 14. Jahrhundert im Elsass und in Lothringen zu erarbeiten. Dennoch wird die Rekonstruktion der Lettner den groessten Raum in dieser Arbeit einnehmen. <p> Kirchner-Doberer hat bereits eine Typologie entworfen, die das Geruest fuer den Katalog von Kirchen abgibt, die Schirmer untersuchen will. Diese Typologie will Schirmer noch praezisieren. Die Interpretation der baulichen Gestalt und - soweit erschliessbar - der figuerlichen Ausstattung der Lettner soll ihm dabei helfen. Schirmers Arbeit teilt sich in mehrere aufeinander aufbauende Kapitel, aus denen inhaltlich zwei hervorragen. Ersten wird die Lettnertypologie auf phaenomenologischer Basis in Auseinandersetzung mit der massgeblichen Arbeit von Doberer-Kirchner entfaltet. Zweitens wird ein umfangreicher Katalog von Kirchen ausgearbeitet,[7] deren Lettner in dieser Arbeit rekonstruiert und typisiert werden. Der Leser erhaelt viele Informationen zur Baugeschichte dieser Kirchen, aber auch ueber die der Kathedralen in Chartres und Paris, die ausfuehrlich zum Vergleich herangezogen werden. <p> Im Anschluss an die Formgeschichte der rekonstruierten Lettner verspricht das Inhaltsverzeichnis, dass, anders als der Zeitrahmen des Titels nahelegt, eine These ueber die Entstehung der Lettnertypen im spaeten 12. (sic!) und 13. Jahrhundert formuliert werden soll. Ihre Entstehung wird-- das kann nach den methodischen Entscheidungen zur typologischen Darstellung nicht mehr verwundern--nicht mit dem Umbruch der klerikalen Organisation, der gern ereignisgeschichtlich als Ende des Investiturstreites bezeichnet wird, oder mit der institutionellen Reflexivitaet des kirchlichen Betriebs (Gregorianische Reform) Verbindung gebracht. Selbst die liturgische Funktion bleibt ein untergeordneter Gesichtspunkt. Schirmer leitet die verschiedenen Formen der Lettner aus dem Zusammenwachsen je verschiedener kirchenbaulicher Elemente ab, z.B. soll der Kanzellettner aus der "Verbindung einfacher Schranken" erwachsen sein und aus dem Wunsch nach einem erhoehten Leseplatz. Die Publikation schliesst mit einem reichen Abbildungsteil (128 Tafeln zaehlt der Autor). <p> Ein typisierender Blick, der von den Bedingungen fuer die Entstehung kultureller Objekte absieht, verfuehrt zu anachronistischen Assoziationen. Schirmer spricht sicherlich in aller Unschuld, in der Sache aber wie aus reichsdeutscher Perspektive, vom "elsaessisch-lothringischen" Raum. Elsass- Lothringen ist keine historische Landschaft. Der Autor selbst schildert, wie im Hochmittelalter Dioezesan- und Herrschaftsgrenzen seinen Betrachtungsraum zergliederten. Besonders ungluecklich sind Begriffsbildungen, die wie der Ausdruck "elsaessisch-lothringischer Lettner" neben der (nicht bestehenden) raeumlichen eine mentale Einheit postulieren. Der Autor scheitert mit dem Versuch, die praktische Beschraenkung seiner Untersuchung auf Kirchen im Elsass und in Lothringen mit sachlichen Strukturen zu rechtfertigen. <p> Schirmer versucht, in einer zeitlosen formbetrachenden Anschauung der Objekte Lettner, deren Ikonographie und bauliche Vorbilder zu rekonstruieren. Die Bildsprache erhaelt keine Grammatik, sie wird in ihrer Form nicht erklaert, sondern zusammengepuzzelt. Bauliche oder aesthetische Analogien werden chronologisch aufgereiht, so dass das fruehere Objekt die Form des spaeter entstandenen "erklaert."[8] Die verschiedenen Figuren beim Strassburger Figurenschmuck muten den Autor so an, dass er sie nicht in die Pariser Tradition stellen will. Sie werden nicht mehr nach ihrer Bedeutung fuer die Typologie des Lettners befragt, sondern selbst zum Gegenstand eines kunsthistorischen Kommentars. Die Plausibilitaet der rekonstruierten Teilobjekte (Bildprogramme) vermindert sich eminent, wenn man nicht die impliziten aesthetischen Kategorien des Autors teilt.[9] <p> Die Untersuchung mutiert zuweilen zu einer Huldigung gegenueber den schoenen Gegenstaenden. Die wesentlichen Argumente beziehen sich auf subjektive Anmutung und objektive Assoziation. Schirmer liefert einen Kommentar zu den Lettnerbauten; eine Einordnung in den historischen Kontext unterbleibt. <p> Installation und Handhabung der CD-ROM selbst sind einfach. Die Systemvoraussetzungen duerften den gaengigen Ausruestungen (Windows 3.xx oder hoeher, kompatibler PC ab 486 oder Apple Macintosh, jeweils mit mindestens 8 MB Arbeitsspeicher) entsprechen. Ueber die missliche oder unnoetige Darstellung auf CD-ROM kann ich mich kurz fassen, weil Produkte des Verlages in dieser Liste bereits vorgestellt wurden. Besonders ist auf Regula Schmidts Rezension der thematisch naheliegenden CD-ROM Beckermanns ueber das Grabmal Heinrichs III. in Goslar zu verweisen.[10] <p> Am einfachsten bewegt man sich durch den Text, nachdem man ihn durch einen Ausdruck wieder zu einem Buch gemacht hat. Wie gross die Affinitaet zum Buch ist, signalisiert der vorab schon eingegebene Druckbereich der ganzen Arbeit (S. 1-295). Noch nicht einmal die in der Darstellung als Beweismittel zitierten Abbildungen sind durch ein Kontextmenue aufzurufen. Der Leser wird gezwungen, eher umstaendlicher als im Buch die Bilder ueber die Ansicht "Lesezeichen und Seite" zu suchen und das gewuenschte Bild sichtbar zu machen. Der Export von Textpassagen ist moeglich, aber wenig komfortabel. <p> Nachdem dem Rezensenten Zweifel gekommen waren, welche inhaltlichen Gruende es geben koennte, diese Arbeit als CD-ROM zu vertreiben, hat sich durch eine Nachfrage beim Verlag Folgendes ergeben: Die Kosten seien fuer den Autor minimal, so beschied der Verlag, und zudem biete die Arbeit mit einer Textdatei gegenueber einer gedruckten Textseite den spezifischen Vorteil, eine Suchfunktion anwenden zu koennen. Gerade bei modernen Autoren, bei denen man davon ausgeht, dass Autor und Leser mit aehnlichen Kategorien die Wahrnehmung der Wirklichkeit organisieren, sollte der Verzicht auf ein--zugegeben zeitaufwendig herzustellendes-- gutes Register gerechtfertigt und nicht als Zugewinn gepriesen werden. Ein gutes Register erfasst und strukturiert die Datenmenge besser, als wenn der Leser mit Hilfe des Suchbefehls versuchen muss, zu bestimmten Inhalten zu gelangen. Aufgrund der typologischen Gliederung kann der Leser auch fuer das rein praktische Nachschlagen nicht mit einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis erfassen, wo die fuer ihn relevante Kirche behandelt wird, und gleichfalls nicht, wo sich Auskuenfte zu spezielleren Sachverhalten wie z.B. den Bildprogrammen der Lettner befinden. Die CD-ROM empfiehlt sich damit als Medium nicht aus technischen, sondern aus finanziellen Gruenden. Sie erleichtert den Zugang zum Markt der Fachliteratur. <p> Schirmers Arbeit erweist sich als kenntnisreich und informativ fuer denjenigen, der sich fuer die einstige Gestalt der Lettner in den in der chronologischen Uebersicht[11] aufgelisteten Kirchen interessiert. Wer dagegen beansprucht, Erklaerung und Einordnung dieser baulichen Manifestationen im kirchlichen Raum zu erhalten, wird enttaeuscht. Die Entscheidung fuer das Medium der CD-ROM rechtfertigt sich nicht durch die Art der Darbietung; sie signalisiert nur neue publizistische Moeglichkeiten. <p> Anmerkungen: <p> [1]. Das Zitat lautet korrekt. "Ir leyen hassen uns pfaffen / und ist auch ein alter hass zwischen euch und uns." Vgl. Johann Geiler von Kaysersberg, Die Emeis. Dis ist das buch von der Omeissen, und auch der Herr der koennig ich diente gern, Strassburg Johann Grueninger 1516, 28v. Zur Stelle vgl. Bob Scribner, You hate us priest, in: Peter A. Dykema and Heiko A. Oberman (Hgg.): Anticlericalism in late medieval and early modern Europe, Leiden ; New York ; Koeln : Brill, 1994, (Studies in medieval and reformation thought; 51), S. 167-207. <p> [2]. Kirchner-Doberer, Erika: Die deutschen Lettner bis 1300, Diss. Wien 1946, S. 148ff. <p> [3]. Duby, Georges: Das Zeitalter der Kathedralen, Kunst und Gesellschaft 980-1420, Frankfurt a.M. 1992, S.394. <p> [4]. Kirchner-Doberer, Erika: Die deutschen Lettner bis 1300, Diss. Wien 1946. <p> [5]. Schirmer, Lettner, S.19 bietet inhaltlich nichts anderes als eine Umstellung von Doberer-Kirchner, Die deutschen Lettner, S. 142. <p> [6]. Doberer, Erika: Artikel "Lettner", in: Lexikon des Mittelalters, Bd.5, Sp. 1914-1915. <p> [7]. Alle Namen der behandelten Kirchen aufzuzaehlen, waere sehr aufwendig, ich nenne einige wichtige: ehemalige Benediktinerinnenkirche Sainte-Richarde (heute Saints-Pierre-et-Paul) in Andlau, die Kirchenbauten in Colmar, die ehemalige Dominikanerkirche in Guebwiller, die ehemalige Benediktinerkirche in Marmoutier (heute Saint-Etienne), Kirchenbauten in Metz, die ehemalige Benediktinerkirche in Murbach (heute Saint-Leger), Saint- Florent in Niederhaslach, ehemalige Abteikirche (jetzt Sainte-Marie et Sainte- Gundelinde) in Niedermuenster, Kathedrale Saint-Etienne in Toul, Notre-Dame in Rouffach, Saint-Georges in Selestat, die grossen Strassburger Kirchenbauten, Kathedrale Notre-Dame in Verdun, Kirchenbauten in Wissembourg innerhalb des geographischen Rahmens. <p> [8]. Schirmer, Lettner, S.48: "Eingestellte feine doppelte Dreipassarkaden ohne Vierpass finden sich bereits am Chartreser Lettner, doch wird aus diesen Beispielen ersichtlich, dass der Strassburger "Lettnermeister" die aktuellsten Gestaltungsformen der Pariser Architektur seiner Zeit gekannt haben muss. Ein Vergleich mit der bekannten Lettnerarchitektur der Mitte des 13. Jh. bestaetigt diese Aussage. Der Chartreser Lettner ist nach heutigem Wissen ueber den erhaltenen Denkmaelerbestand sicher das Vorbild fuer nachfolgende Hallenlettner des 13. Jh. (s. Taf. 19)." <p> [9]. Schirmer, Lettner, S.62: "Im Jahre 1415 wurde auf dem Lettner ein grosses Silberkreuz aufgestellt, das jedoch nicht mehr existiert. Ein Kruzifix auf einem Triumphbalken wurde 1489 angebracht. 1529, im Jahr der Protestantisierung des Muensters, wurde es bereits wieder entfernt und ist heute nicht mehr nachzuweisen." <p> [10]. Schmid, Regula: Rezension der CD-ROM: Beckermann, Wolfgang: Das Grabmal Kaiser Heinrichs III: in Goslar, (Beitraege und Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters, 3), Goettingen: Duehrkohp und Radicke 1998, in H-SOZ- U-KULT am 11.5.1999. <p> [11]. Schirmer, Lettner, S. 34f.
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October, 1999.
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