1848-1949. Ein Jahrhundert deutsche Geschichte. Meyers Lexikonverlag.
Published on H-Soz-u-Kult (December, 1998)
Wie rezensiert man eine CD-ROM, die Deutsche Geschichte als Edutainment praesentiert? Bislang haben fachwissenschaftliche Foren diesen Sektor weitgehend ignoriert und die Besprechung multimedialer Aufbereitungen historischen Wissens der bunten Welt der Computer-Magazine (zumeist in kompromittierender Nachbarschaft mit blutruenstigen Spielen) ueberlassen--mit dem Ergebnis, dass weniger inhaltliche als vielmehr technische Details des virtuellen Geschichtserlebnisses im Mittelpunkt standen. Die Initiative von H-SOZ-U-KULT, sich verstaerkt dem CD-ROM-Repertoire zu widmen, ist daher mehr als begruessenswert, waere es doch hoechste Zeit, eine Debatte ueber Sinn und Unsinn sowie die Perspektiven multimedialer Wissensvermittlung zu fuehren. Die vorliegende CD scheint dazu ein geeigneter Ausgangspunkt, wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen. Wo sonst haeufig inhaltliche Leere mit bunten Effekten aufgeblaeht wird, leidet hier ein ueberzeugender Inhalt an unzureichender multimedialer Gestaltung. <p> Wer die CD-ROM eingelegt und die problemlos ablaufende Selbstinstallation abgewartet hat (das Programm erfordert Windows95/NT und die fuer diese Betriebssysteme ueblichen Mindestvoraussetzungen sowie eine Soundkarte und eine SVGA-Grafikkarte), dem bietet sich ein grafisches Panoramabild des Deutschen Reichstags. Vor und um den Reichstag herum tummeln sich 13 charakteristische Personen und Figuren, die je eines der Kapitel der CD repraesentieren und per Mausklick den Zugang zu diesen 13 Etappen deutscher Geschichte gewaehren. Jedes Kapitel zeichnet sich durch ein grafisch ansprechend gestaltetes Hintergrundsbild aus, folgt aber ansonsten einer einheitlichen Oberflaechenstruktur: Ein Mausklick in die obere Bildleiste startet einen ca. 3 minuetigen gesprochenen Einfuehrungstext, der ueber die zentralen Charakteristika und Entwicklungen der Epoche informiert. Ein Mausklick rechts aktiviert ein Submenue, das knappe Daten zu Literatur, Musik, Kunst, Wissenschaft und Technik im Rahmen einer einfachen Jahresleiste bereitstellt. Auf der linken Seite befinden sich Icons, die den Zugriff auf den Lexikonteil ermoeglichen--insgesamt ueber 1500 Stichwort-Artikel, etwa 1000 Kurzbiographien, 50 Territorien-Informationen, mehr als 1100 Bilder und Fotografien, 50 Film- und Tondokumente, knapp 100 Grafiken und Karten sowie fuenf etwa 10 minuetige historische Vortraege zu uebergreifenden Themen. Diese Materialien sind ueber das Reichstagspanorama als Gesamtheit und in den Kapiteln in entsprechender Auswahl verfuegbar. Das Herzstueck eines jeden Kapitels ist jedoch eindeutig der Kapiteltext, dem jeweils eine chronologische Uebersicht vorangestellt ist--aufzurufen per Mausklick auf die Kapitelueberschrift. Und hier beginnt das Dilemma des Rezensenten, denn die 13 Kapiteldarstellungen bilden einen geschlossenen monographischen Essay zur deutschen Geschichte, dessen inhaltlichem Niveau keine adaequate Nutzung der multimedialen Moeglichkeiten zur Seite steht. <p> Zunaechst zur inhaltlichen Dimension: Einer der groessten Vorzuege dieser CD ist die Tatsache, dass die historische Darstellung in der Hand eines einzelnen Fachhistorikers lag: Christof Dipper. Sein etwa 300 Manuskript-Seiten starker Text stiftet den Zusammenhang und gewaehrt eine einheitliche Perspektive auf das vorgestellte Jahrhundert. Und seine Periodisierung bestimmt auch die Gesamtstruktur der CD, wobei er weitgehend herkoemmlichen Mustern folgt, aber einige Akzentuierungen setzt: nach je einem Kapitel zur 'Revolution von 1848/49' und zur 'Reaktionszeit 1849-1859' wird das Kaiserreich in zwei Kapiteln dargestellt--'Reichsgruendungszeit 1859-1878' und 'Imperialismus 1878-1914'. Fuer das zweite dieser Kapitel ergibt sich daher eine im Vergleich mit den anderen Kapiteln auffallende Verkuerzung auf aussenpolitische Aspekte sowie eine allzu vergroebernde Sicht der Kaiserzeit ab 1897 als eine zielstrebig auf den Weltkrieg zulaufende Kette sozial-imperialistisch motivierter Fehlleistungen. 'Erster Weltkrieg' und 'Novemberrevolution 1918/19' erhalten je eine eigene Wuerdigung, die 'Weimarer Republik' wird in zwei Etappen unterteilt (1919-1930 und 1930-1933), waehrend dem Dritten Reich drei Kapitel gewidmet sind--'Machtergreifung 1933/34', 'Nationalsozialismus 1934-1939' sowie 'Zweiter Weltkrieg 1939-1943'. Die beiden Schlusskapitel befassen sich mit dem 'Zusammenbruch 1943-1945' sowie mit 'Neubeginn und doppelter Staatsgruendung', wobei Dipper den 8. Mai '45 jedoch nicht als vermeintliche Epochenscheide behandelt, sondern aus der Sicht einer 'Alltagskontinuitaet' die Verklammerung von totaler Kriegserfahrung, Kriegsende, sich ueberlagernden militaerischen, politischen, ideologischen und demographischen Katastrophen mit der zoegernden Neuorientierung unter alliierter Besatzung zu fassen versucht. <p> Die klare Darstellung, die sich stilistisch souveraen auf dem schmalen Grat zwischen essayistischer Praegnanz und wissenschaftlicher Korrektheit bewegt, kombiniert ueberzeugend Strukturanalyse und ereignisgeschichtliche Erzaehlung, reflektiert weitgehend den aktuellen Forschungsstand (soweit vom Rezensenten ueberschaut) und nimmt gelegentlich zu juengeren Kontroversen Stellung. Die sozio-politischen Aspekte stehen dabei eindeutig im Vordergrund, werden aber immer wieder um neuere Ergebnisse aus kultur- und alltagsgeschichtlichen Forschungen bereichert. Einwaende liessen sich lediglich bei bestimmten interpretatorischen Entscheidungen erheben, wie z.B. bei der allzu 'imperialistischen' Perspektive auf das Kaiserreich, die sich kurioserweise sowohl in der Analyse (die Aussenpolitik des Deutschen Reiches als schrittweise, in den Weltkrieg fuehrende Eskalation) als auch in der Erzaehlperspektive (Kritik an der aussenpolitischen Ambivalenz des wilhelminischen Deutschland vom Standpunkt der imperialistischen Agitationsvereine aus) niederschlaegt. Solche Einwaende scheinen aber angesichts der Funktion des Textes unangebracht, dessen Qualitaet weit ueber dem Durchschnitt vergleichbarer Edutainment-Produkte steht und zwischen Handbuch und Schulbuch vermittelt. <p> Diesem Basistext stehen fuenf Vortraege, aus der Feder Dippers und von ihm gesprochen, zur Seite, die den gesamten Zeitraum betreffend uebergreifende Themen in den Blick nehmen. 'Kontinuitaeten und Brueche', 'Die politischen Parteien', 'Buergertum', 'Wirtschaftliche Ordnung und soziale Frage' sowie 'Frauen' sind sie ueberschrieben und fassen damit Schwerpunkte zusammen, die auch in den Kapiteltexten vorherrschend waren (mit Ausnahme der geschlechtergeschichtlichen Perspektive, die ansonsten fehlt). <p> Das redaktionelle Material des Lexikonteils faellt diesem Darstellungsteil gegenueber ab, ist aber fuer sich genommen auch von beachtlichem Niveau: die Stichwortartikel sind zwar nicht immer kongruent zum monographischen Teil und wie bei der grossen Zahl kaum anders zu erwarten gelegentlich nicht auf dem neuesten Stand, aber stets zuverlaessig informierend. Die Kurzbiographien decken nicht alle genannten Personen ab, fuegen stattdessen nach nicht ersichtlichen Kriterien neue Persoenlichkeiten hinzu und sind von hoechst unterschiedlicher Qualitaet und Umfang. Die betraechtliche Anzahl (>1000) ist positiv hervorzuheben. Das Bildmaterial wirkt in der Auswahl oft beliebig, ist ebenfalls kaum auf die Kapiteltexte abgestimmt und dient vor allem illustrativen Zwecken--diese jedoch werden dank hoher Aufloesung und der Moeglichkeit von Vergroesserungen voll erfuellt. Aehnliches gilt fuer die Film- und Tondokumente, die schon der knappen Anzahl wegen impressionistische Tupfer bleiben. Das Grafik- und Kartenmaterial ist nicht zuletzt dank der hervorragenden grafischen Qualitaet sehr nuetzlich, wenngleich man sich eine groessere thematische Breite wuenschen koennte. Auch hier fehlt leider die Abstimmung mit dem Basistext--dem fragwuerdige Kartenanimationen wie 'Die Entstehung des grossdeutschen Reiches 1933-1944' sogar nachgerade widersprechen. <p> Der Eindruck unzureichender Koordination der Einzelteile wird jedoch zur aergerlichen Gewissheit, wenn man nach der multimedialen 'Orchestrierung' dieser Materialien und der Nutzung der medienspezifischen Moeglichkeiten fragt. Multimedial ist an dieser CD-ROM allenfalls das laestige Brummen des Laufwerks und der gelegentliche Systemabsturz bei gleichzeitig im Hintergrund aktiven Programmen. Die vielfaeltigen und reichen Materialien sind schlicht ueberhaupt nicht multimedial verbunden: weder gibt es eine Hyperlink-Struktur, die es ermoeglichte, im lexikalischen Teil erfasste Personen, Begriffe, Abbildungen etc. zu erkennen und die Materialien direkt aus dem Kapiteltext heraus aufzusuchen, noch ist es moeglich, bei aufgeschlagenem Text in die lexikalischen Menues zu wechseln. Die zusaetzlichen, unverstaendlicherweise vom Rest getrennten Daten zur kulturellen Entwicklung beschraenken sich auf Urauffuehrungs-/ Veroeffentlichungs- und Entdeckungs-Daten, die sinnfrei auf einer Zeitleiste angeordnet sind. Der 'Territorienteil', von dem aus Pietaet bislang nicht die Rede war, ist nicht nur unvollstaendig, sondern auch noch verwirrend. Und selbst die schoenste Abbildung oder Grafik verliert ihren Wert, wenn sie unzureichend erlaeutert und aus dem Zusammenhang gerissen wird. Eine wie auch immer geartete didaktische Fuehrung durch den Datenschatz findet nicht statt, gleichzeitig wird aber auch der Weg zu einer ungezwungenen, spielerischen Erschliessung der Dokumentation nachhaltig erschwert. Dazu kommt die mangelnde Koordination der Einzelteile, die ihren Hoehepunkt in der selbstlaufenden Multimedia-Show findet, die nach dem Start (bis auf Widerruf) zunaechst automatisch anhebt: waehrend sich Dipper in seinem Basistext alle Muehe gibt, eine kritische Distanz zur Sonderwegsthese zu wahren, vor 'rueckwaerts gewandten Prophetien' warnt, immer wieder nach der Kontingenz historischen Geschehens fragt und viele Interpretationen als 'vom Ende her gesehen' kritisiert, macht sich die Tonbild-Show, von der Katastrophe der Weltkriegsniederlage und der 'Stunde Null' ausgehend, auf den Weg rueckwaerts in die Geschichte, um nach den Gruenden des deutschen Desasters zu suchen. <p> Wer also braucht eine solche CD-ROM? Als Nachschlagewerk ist der Datenbestand bei aller Fuelle doch zu eingeschraenkt. Als Handbuch fuer den Hausgebrauch ist der Deutschland-Ploetz praktischer. Schueler und Studenten werden sich kaum von der unattraktiven Praesentation fesseln lassen, zumal keines der beiden Sinnbestandteile der Genrebezeichnung 'Edutainment' ernsthaft zur Geltung kommt. Fuer den Schulgebrauch ist die Konzeption zu monographisch, und Fachhistoriker finden eventuell benoetigte Abbildungen und Daten auch andernorts. Angesichts der inhaltlichen Qualitaet letztlich aller Materialien dieser CD ist das abschliessende Urteil deprimierend: niemand braucht diese CD. Ein illustriertes Buch mit Darstellungsteil und lexikalischem Anhang waere nicht nur komfortabler und augenfreundlicher, sondern auch ansprechender gewesen. Und vielleicht haette man dort auch ein Literaturverzeichnis unterbringen koennen. <p> Um wenigstens einige Ueberlegungen zur eingangs eingeforderten Diskussion ueber die Perspektiven elektronischer Medien in den Gesellschaftswissenschaften beizusteuern, schliesse ich mit wenigen allgemeinen Bemerkungen. <p> Derzeit scheint es auf dem CD-ROM Markt nur zwei Arten von Zielgruppen zu geben: die breite Masse und die Fachwelt. Waehrend erstere vor allem mit populaerwissenschaftlich unterfuetterten Spektakeln bedient wird, finden die elektronischen Massenspeichermittel in der Wissenschaft zoegerlich, aber zunehmend Verwendung fuer lexikalische Hilfsmittel, Datenkompendien oder Textsammlungen. Damit kommt das neue Medium aber nicht aus der Bipolaritaet von 'Computerspiel vs. Datenbank' heraus und etabliert sich schon gar nicht als ernstzunehmende Alternative zum Buch. Nur wenige Beispiele fuer eine gelungene multimediale Gestaltung von 'Edutainment' lassen sich nennen, und fuer Hinweise zu historischen Untersuchungen, die in multimedialer Gestalt erschienen sind, waere ich dankbar--ich kenne nicht eine. Dabei bietet das Medium durchaus Moeglichkeiten, die sich zur Darstellung komplexer historischer Vorgaenge geradezu anbieten und dem laengst ueber schriftliche Texte hinausgreifenden heutigen Quellenbegriff sogar angemessen sind. Aber selbst auf einer textorientierten Zwischenebene lassen sich Darstellungsformen denken, die erheblich effektiver von der Mehrdimensionalitaet multimedialer Gestaltung Gebrauch machen. Die hier vorgestellte CD haette ein erster Schritt in diese Richtung sein koennen, wenn das immense Datenwerk untereinander und mit dem Grundtext verknuepft worden waere; wenn der Darstellung ein Literaturverzeichnis als Subtext beigefuegt worden waere; wenn das Bildmaterial weniger illustrativ ausgerichtet gewesen waere und statt huebschen, aber sinnfreien Abbildungen von Erstausgaben oder Handschriften wichtiger Quellen die Quellentexte selber haetten abgerufen werden koennen; wenn Gesamtkonzeption und redaktionelle Betreuung von einer fachlichen Hand betreut oder zumindest ueberwacht worden waeren. Dann haette das Werk seine Berechtigung als multimediale Publikation unter Beweis gestellt und nicht nur Laien, sondern vielleicht sogar den einen oder anderen Fachhistoriker interessieren koennen.
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