Klaus Zechiel-Eckes. Katalog der frühmittelalterlichen Fragmente der Universitäts-und Landesbibliothek Düsseldorf vom beginnenden achten bis zum ausgehenden neunten Jahrhundert. Wiesbaden: Reichert Verlag, 2003. 108 S. EUR 32.00 (gebunden), ISBN 978-3-89500-351-6.
Reviewed by Falk Eisermann (Handschriftenzentrum, Universitätsbibliothek Leipzig)
Published on H-German (May, 2007)
Sammelt die übrigen Brocken: Unbekannte Fragmente aus dem frühen Mittelalter
In jüngster Zeit hat die Erforschung und Katalogisierung der Fragmente mittelalterlicher Handschriften einen erfreulichen und berechtigten Aufschwung genommen. Ein Grund hierfür liegt in der Menge des Überlieferten: Mittelalterliche Fragmente sind in allen Sprachen und vielen Ländern so zahlreich erhalten, daß ihre genaue Erfassung und Beschreibung inzwischen als unverzichtbares Element der seit langem andauernden Bemühungen um die möglichst vollständige Inventarisierung des schriftkulturellen Erbes des Mittelalters verstanden wird. Auch in qualitativer Hinsicht bereichern die oftmals eher unscheinbaren, manchmal geradezu traurig anzusehenden Überreste von Text- und Bildercodices unsere Kenntnis vom mittelalterlichen Geistesleben in ganz immenser Weise. Dieser nicht ganz neuen, jedoch erst neuerdings vielerorts konsequenter umgesetzten Erkenntnis verdankt auch der hier anzuzeigende Katalog seine Existenz.
Aus einer reichhaltigen Überlieferung von Fragmenten des achten bis sechzehnten Jahrhunderts--etwa 740 Signaturen im Umfang von ca. 1.500 Blatt--hat die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, deren schmale Handschriftensammlung derzeit in mehreren Projekten erschlossen wird, mit sicherem Blick für das relativ schnell Machbare und vor allem für das Interesse des fachwissenschaftlichen (wie auch eines breiteren) Publikums das wohl spektakulärste Segment für eine Einzelpublikation ausgewählt: die frühmittelalterlichen Fragmente des achten und neunten Jahrhunderts. Es handelt sich um insgesamt 45 Signaturen, die in dem hier vorgelegten, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Katalog in wünschenswerter Akribie beschrieben und in mehr als der Hälfte der Fälle auch abgebildet werden (der Band enthält ein Frontispiz und 25 qualitativ sehr gute Abbildungen auf Hochglanztafeln; leider wurde auf die Beigabe von Maßstäben verzichtet).
Bedeutung und Perspektiven des Düsseldorfer Projekts werden in einem einleitenden Beitrag von Max Plassmann beschrieben: "Digitalisierung von Bibliotheks- und Archivgut im Schnittpunkt von Benutzung, Erschließung und Bestandserhaltung. Das Beispiel des Düsseldorfer Fragmenteprojekts" (S. 1-7). Plassmann thematisiert hier (in allerdings gelegentlich etwas unkonkreter Diktion) die aus bibliothekarischer und wissenschaftlicher Sicht unbestreitbaren Vorzüge der digitalen Darbietung gerade von Fragmenten. Diese ist, wie einer Pressemitteilung der Universität Düsseldorf vom 8. Juni 2006 zu entnehmen war, inzwischen abgeschlossen.[1] Ein zweiter einleitender Beitrag (Ulrich Schlüter: "Fragmentefunde in der restauratorischen Praxis", S. 9-12) stellt anhand einiger schöner, allerdings nicht aus dem Katalogbestand rekrutierter Beispiele die grundsätzlichen Probleme und (im doppelten Sinne) Lösungswege bei der restauratorischen Behandlung von Fragmenten dar. Dem folgt schließlich ein kurzer Einführungstext des Katalogbearbeiters Klaus Zechiel-Eckes: "Samlet die vbrigen Brocken das nichts vmbkome ... Prolegomena zu einer Auswertung des mittelalterlichen Düsseldorfer Fragmentebestandes" (S. 13-19). Zechiel-Eckes weist auf den Pilotcharakter des Düsseldorfer Projekts hin, der aus dem Umstand resultiert, daß es sich bei dem Bestand "um einen thematisch reichhaltigen, aber zu etwa 92 Prozent unbekannten Fundus handelt" (S. 18). Dieser Fundus, auf den der Leser durch die drei Einleitungsbeiträge nunmehr bereits sehr neugierig geworden ist, wird dann im Kernstück des Buches, dem Katalog der 45 frühmittelalterlichen Fragmente, erschlossen.
Die Katalogartikel sind nach Signaturenfolge angeordnet. Das halte ich allerdings für eine grundfalsche Entscheidung, denn ursprünglich zusammengehörige Handschriften werden nunmehr durch die Willkür der Signaturenvergabe sozusagen ein zweites Mal auseinandergerissen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei der wohl wichtigsten Handschrift des vorliegenden Bestands, einem northumbrischen Codex aus der ersten Hälfte/Mitte des achten Jahrhunderts, dessen bisher bekannte Überreste aus den Fragmenten K 1: B 215, K 2: C 118, K 15: 009, K 19: Z 8/8 und aus Leimabdrücken in zwei Inkunabeln (S. 65-66) bestehen. Es wäre Aufgabe des Bearbeiters gewesen, im Katalog (und nicht in mehreren separaten Aufsätzen) die definitive Rekonstruktion dieses bedeutsamen Codex darzubieten. Die rein formal begründete und sachlich nicht gerechtfertigte Aufsplitterung in mehrere Artikel bläht den Umfang unnötig auf und wälzt die Mühen einer erneuten Zusammenführung sowie die Heranziehung weiterer Sekundärliteratur auf den Leser ab. Außerdem führt die Aufsplitterung natürlich zu zahlreichen Informationsdoppelungen, wobei auch Fehler multipliziert werden: So wird insgesamt dreimal bei Aufzählungen der anderen zu dieser Ursprungshandschrift gehörigen Fragmente falsch auf die im Katalog nicht vorkommende Signatur "K 1: B 115" (S. 60, 65, 66) verwiesen; gemeint ist freilich: K 1: B 215.
Die Katalogisate enthalten zunächst--neben der Angabe von Neu- und Altsignatur--in zwei Schlagzeilen Autor- und Werkbezeichnungen, darunter eine Datierungszeile. Es folgen knappe kodikologische Angaben: Beschreibstoff (selbstverständlich sind alle Fragmente auf Pergament geschrieben, gelegentlich wird das Material als Kalbpergament spezifiziert; es finden sich aber auch Leimabklatsche wie im Fall eines aus der erwähnten northumbrischen Handschrift stammenden Johannes Chrysostomus-Fragments); Zahl der erhaltenen Blätter; Blattgröße; Schriftart (genannt werden: angelsächsische Majuskel bzw. Minuskel, irische Minuskel; karolingische Minuskel); Zeilen- und Spaltenzahl; gegebenenfalls Besonderheiten wie Lagenzählungen (etwa S. 45 zu K 14: 010). Auf die Angabe des Schriftspiegels wird verzichtet, da wegen des Beschnitts "in der Mehrzahl der Fälle keine präzisen Angaben zu machen gewesen wären" (S. 18-19). Jedoch hätte man bei zweispaltigen Fragmenten die Spaltenbreite und den Spaltenabstand mitteilen sollen, da diese Angaben helfen, andernorts erhaltene oder neu aufgefundene Fragmente auch in den Fällen, in denen bislang keine Abbildungen publiziert sind beziehungsweise wo kein unmittelbarer Vergleich der Stücke möglich war, mit einiger Wahrscheinlichkeit demselben Discissus zuzuordnen.
Im nachfolgenden inhaltlichen Teil jedes Katalogisats werden Blatt- bzw. Seitenanfänge und -schlüsse mitgeteilt und auf die maßgeblichen Editionen verwiesen, wobei "seltene bzw. singuläre Texte ... mehr Raum erhalten als das soundsovielte Bruchstück eines Graduale oder Missale" (S. 19). Mit einigem Stolz wird etwa der ebenfalls aus der bereits behandelten northumbrischen Handschrift stammende, "weltweit einzige Textzeuge der merowingerzeitlichen Märtyrerlegende des heiligen Justus von Beauvais" (S. 13-14) hervorgehoben. Auf die Inhaltsangabe folgen kurze Erläuterungen zu textgeschichtlichen, kodikologischen und wissenschaftshistorischen Fragen sowie zu anderen Fragmenten aus derselben Handschrift, gelegentlich ergänzt um kritische Korrekturen der Forschung und Hinweise auf die Bedeutung des jeweiligen Stücks.
Im Petitdruck stehen dann Angaben zur "Provenienz" (genauer hätte die Bezeichnung wohl "Geschichte" gelautet), wobei hier auch handschriftliche Einträge auf den Fragmenten zitiert werden, gelegentlich unkommentiert und undatiert, etwa bei K 6: 014 (S. 36). Bei der Provenienz wäre durchaus auch die Fundsituation nochmals zu erläutern gewesen; da zahlreiche Stücke aus dem (Haupt-)Staatsarchiv Düsseldorf stammen, hätte man bei den Provenienzen auf die S. 16-17 zusammenfassend dargelegten archivalischen Hintergründe wenigstens kurz verweisen sollen, die Herkunft aus dem Archiv ist bei kursorischer Benutzung jetzt nur an der Angabe der Altsignatur ablesbar. Am Schluß stehen Angaben zur Literatur, wobei nochmals betont sei, daß viele Stücke hier überhaupt erstmals vorgestellt werden, so etwa Plinius in K 6: 009 (S. 34); Martianus Capella und Isidor in K 6: 014 (S. 36); Priscian in K 6: 015-1 (S. 37).
Auf Lokalisierungen durch Schriftbefund wird klugerweise verzichtet. Gewünscht hätte man sich gelegentlich indes nähere Charakterisierungen der Schrift und Begründungen für sekundär abgeleitete Lokalisierungen wie bei K 8:056 (S. 40), wo es, mit implizitem Bezug auf ein von Bernhard Bischoff lokalisiertes, inzwischen verschollenes Fragment aus derselben Handschrift, lediglich "Nordwestdeutschland (?)" heißt. Auch in der Frühmittelalterforschung sollte sich der Gedanke etablieren, daß man schwierige, umstrittene oder hypothetische Datierungs- und Lokalisierungsvorschläge lieber erläutern sollte, statt apodiktische Setzungen anzubieten. Diese erschweren die Nachvollziehbarkeit der Mitteilungen und sind außerdem oftmals nur kurzzeitig in Geltung. Denn die Erfahrung lehrt, daß die wenigen wirklichen Expert/inn/en auf dem Gebiet der frühmittelalterlichen Paläographie über Datierungs- und Lokalisierungsfragen zumeist uneins sind--manchmal in nachgerade dramatisch zu nennender Form, bisweilen auch mit sich selber, man vergleiche etwa die auf S. 61 zitierten Korrekturen Bischoffs zu einer von ihm selbst vorgenommenen und ihm wohl rückblickend allzu präzise erscheinenden Zuweisung einer Handschrift. Wissenschaftsmethodisch ist es allemal plausibel und rechtschaffen, Unsicherheiten einzugestehen und dadurch den Leser zu einem eigenen Urteil zu nötigen, als diesem das Trugbild etwa eines sicheren Wissens um Datierungs- und Lokalisierungsfragen vorzugaukeln.
Die vorgebrachte Kritik am Aufbau und an einzelnen darstellerischen Aspekten des Katalogs berührt vor allem den Aspekt der Benutzerfreundlichkeit, dem man eine höhere Aufmerksamkeit von Seiten des Bearbeiters gewünscht hätte. Inhaltlich läßt der Band indes kaum Wünsche offen, er ist vorzüglich bearbeitet und gestaltet und beschreibt die Fragmente in wissenschaftlich angemessener Form. Gemeinsam mit der digitalen Präsentation wird er zweifellos den Zweck erfüllen, den Düsseldorfer Handschriftenfragmenten zukünftig einen festen Platz in der Forschung--und dank des reichhaltig beigegebenen Abbildungsmaterials vielleicht auch in der akademischen Lehre--zu sichern.
Note
[1]. Siehe http://www.ub.uni-duesseldorf.de/home/ueber_uns/projekte/fragmente/vorbemerkung; vgl. auch den Bericht in H-Soz-Kult vom 22. Juni 2006: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/projekte/id=179 (letzter Zugriff auf beide: 24. April 2007).
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Citation:
Falk Eisermann. Review of Zechiel-Eckes, Klaus, Katalog der frühmittelalterlichen Fragmente der Universitäts-und Landesbibliothek Düsseldorf vom beginnenden achten bis zum ausgehenden neunten Jahrhundert.
H-German, H-Net Reviews.
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