Karsten Rudolph. Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg: Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie 1945-1991. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2004. 455 S. EUR 39.00 (paper), ISBN 978-3-593-37494-9.
Reviewed by Sibylle Gausing (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)
Published on H-German (July, 2006)
Handel für den Wandel?
Karsten Rudolph geht es in seiner Monographie um die Frage, inwiefern die im Handel mit den Ostblockstaaten engagierte westdeutsche Großindustrie zum Aufbrechen der Spannungen mit dem Systemgegner beitrug. So beleuchtet er die bislang in der Forschung eher vernachlässigten diplomatischen Aktivitäten der Industriellen, "deren Ostpolitik die Neue Ostpolitik der Ära Brandt gleichsam vorwegnahm" (S. 8). In elf Kapiteln für die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch des Systemgegensatzes konzentriert er sich besonders auf den Beginn und die Hochzeit der Industriediplomatie in den 50er und 60er Jahren. Ein eigenes Kapitel charakterisiert die führenden Protagonisten des bundesdeutschen Osthandels Otto Wolff von Amerongen, Berthold Beitz und Ernst Mommsen, wobei neben ihrer Verbandstätigkeit auch die Nachkriegsgeschichte der mit ihnen verbundenen Konzerne angerissen wird.
Rudolph konstatiert zunächst die strenge Exportkontrollpolitik der westlichen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg, die der Wiederaufnahme der westdeutschen Handelsbeziehungen mit den Staaten des sowjetischen Machtbereichs entgegenstand. Trotzdem verfolgten bundesdeutsche Eisen- und Stahlindustrielle sowie Unternehmer der chemischen Industrie und des Anlagenbaus seit Beginn der fünfziger Jahre eine pragmatische Osthandelsstrategie, die die osteuropäischen Märkte als Rohstoffbasis und Reserveabsatzgebiete betrachtete. In Folge dessen wurde im Dezember 1952 der Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft in Köln konstituiert. Offiziell "als 'private Initiative'" von den Spitzenverbänden der Wirtschaft getragen, wurde er inoffiziell als "amtliches Hilfsorgan" genutzt, um die Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern aufzubauen, mit denen keine Handels-und Zahlungsabkommen bestanden: Dies waren Rumänien, die Sowjetunion und China (S. 55).
Für Rudolph war mit der Ost-West-Konferenz der Wirtschaftskommission für Europa im April 1953 der "Durchbruch in der Nachkriegswirtschaftsdiplomatie gegenüber dem Osten" geschafft (S. 69). Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit der Sowjetunion konnten eingeleitet werden. Adenauer unterband jedoch die für Juni 1954 geplante Reise einer bundesdeutschen Industrie-Delegation nach Moskau, denn er befürchtete, daß durch sie der Eindruck einer neuen Rapallo-Politik erweckt würde.
Ein wesentliches Anliegen der westdeutschen Industriellen in den 50er Jahren war es, Deutschland- und Ostpolitik zu entkoppeln, um die Wirtschaftsbeziehungen entpolitisieren zu können. Während in Moskau mit Chruchtschew eine westhandelspolitische Trendwende mit Delegationsdiplomatie und Import aus kapitalistischen Märkten einsetzte, wurden die diplomatischen Beziehungen der Wirtschaft zum Osten allmählich auch von Adenauer akzeptiert.
Die Bundesregierung stimmte nach Erklärung der Hallstein-Doktrin normalem Warenaustausch, aber nicht offiziellen Handelsbeziehungen zu, und wollte nach Rudolph demnach "Handel ohne Wandel" praktizieren (S. 113). Trotzdem schloß Adenauer 1958 einen deutsch-sowjetischen Handelsvertrag ab, in dem der Sowjetunion gegen den Willen des Ost-Ausschusses die eingeschränkte Meistbegünstigung eingeräumt wurde. Dies stand in engem Zusammenhang mit seinen Wahlversprechungen für die Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion. Der direkte Zugang zum Kanzler fehlte den Osthändlern, wenn auch mittlerweile eine institutionelle Struktur der industriellen Interessenvermittlung existierte.
Das zu Beginn der 60er Jahre vom NATO-Rat verhängte Röhrenembargo führte zur Zerreißprobe im Verhältnis zwischen den Eisen- und Stahlindustriellen, die um mehrere große Geschäfte fürchteten, und der Regierung. Die Wirtschaftsvertreter mobilisierten für ihr Anliegen Abgeordnete, Gewerkschaften und Wirtschaftspresse und es entspann sich ein mehrmonatiges Tauziehen mit der Regierung, deren Ressorts sich ebenfalls nicht einig waren. Letztlich blieb Adenauer aber dabei, das Embargo mitzutragen, was laut Rudolph die Loslösung der Eisen- und Stahlindustrie von der amtlichen Ostpolitik einleitete.
Der Wechsel im Kanzleramt von Adenauer zu Erhard bedeutete keine grundlegende Wende in der Osthandels- und Ostpolitik. Auf das im März 1963 abgeschloßene dreijährige Handelsabkommen zwischen Warschau und Bonn folgten solche mit Rumänien, Ungarn und Bulgarien. Zudem kam es zur Errichtung westdeutscher Handelsmissionen in osteuropäischen Ländern. Die Sowjetunion blieb bei diesem Normalisierungsprozeß allerdings weiter ausgeklammert.
Die Bundesregierung wurde Schritt für Schritt gezwungen, die Diskriminierung des Ostblocks in den Kredit- und Bürgschaftsfragen aufzugeben. Rudolph macht für den allmählichen Wandel der bundesdeutschen Außenpolitik neben der mittlerweile praktizierten Nachgiebigkeit bei den Briten, Franzosen und Italienern vor allem die "Pendeldiplomatie" von Wolff von Amerongen, Beitz und Mommsen verantwortlich (S. 229). So war die Bundesregierung seiner Ansicht nach zunehmend auf die vertraulichen Kenntnisse der Industriellen angewiesen, die diese bei ihren Wirtschaftsreisen oder Gegenbesuchen der Osthandelspartner erwarben. Die Osthändler nahmen demnach eine "Pionierfunktion" ein. Sie kamen in dieser Hinsicht der SPD und FDP immer näher, während sich der BDI immer noch gegen eine Öffnung nach Osten sperrte.
Die Regierung Kiesinger entfernte sich stillschweigend von der ostpolitischen Strategie, die Satellitenstaaten ökonomisch von Moskau abzulösen. Rudolph resümiert, daß die große Koalition sich in punkto Osthandel vor allem durch Improvisationskunst auszeichnete und ihre Ostpolitik keine rote Linie hatte.
Aus Angst vor Dumping sprach sich die Industrie trotz allem Engagement im Osthandel weiter für die Beibehaltung von Maximalkontingenten und Einzelgenehmigungen bei darüber hinausgehenden Importen aus. Somit galt auch die weitere Liberalisierung des Osthandels der sozialliberalen Koalition im August 1970 als Vorleistung für die Erneuerung der handelsvertraglichen Beziehungen zwischen Bonn und Moskau. Die Industrie griff der Neuen Ostpolitik Brandts effektiv durch neue geschäftliche Initiativen bei rhetorischem Understatement für die westlichen Alliierten unter die Arme und schloß zu Beginn der 70er Jahre spektakuläre Ostgeschäfte ab. Rudolph betont aber, daß der Durchbruch der neuen Ost- und Osthandelspolitik nur aufgrund äußerer Bedingungen gelang: Dies waren die Beendigung des Wirtschaftskrieges durch die Amerikaner, die Wiederentdeckung des Ostens als industriellem Reservemarkt sowie die deutlich gewandelte Wahrnehmung der Sowjetunion in der Öffentlichkeit. Er hebt zudem hervor, daß der Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft und die westdeutschen Industrieunternehmen mittlerweile "nicht länger im Schatten", sondern "unter dem Schirm" der regierungsamtlichen Ostpolitik operierten, was sie ihre Pionierfunktion kostete (S. 305).
Kennzeichnend für die Wirtschaftsbeziehungen zum Osten in den 70er Jahren waren Kooperationsabkommen, die aber zumeist nicht weit über die klassischen Kompensationsformen hinauskamen. Wie Rudolph feststellt, konnten die westdeutschen Industriellen bei Verhandlungen zu Abkommen zwischen sowjetischen Planbehörden und Einzelunternehmen aber noch einmal entscheidenden Einfluß auf die praktische Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten nehmen.
Die Neue Ostpolitik der sozialliberalen Regierung und die bilaterale Kooperationspolitik in den siebziger Jahren führten nach Rudolph zum Ende der aktiven Ostpolitik der westdeutschen Industrie. Schienen zum einen Ausdehnung und Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen ausgeschöpft, war die Industrie zum anderen nicht in der Lage, ein eigenes Konzept für die zukünftigen Handelsbeziehungen zu entwickeln. Hinzu kamen erschwerend die aufbrechenden ökonomischen Krisen der osteuropäischen Volkswirtschaften in der ersten Hälfte der 80er Jahre, der Krieg in Afghanistan und die Unruhen in Polen. In den Staaten des Ostblocks wurde nicht länger auf große Entwicklungsprojekte, sondern auf Rationalisierung und Reinvestition in marode Industrieanlagen gesetzt. Die Wiederanknüpfung an die frühen 70er Jahre gelang nicht mehr, bevor der sozialistische Binnenmarkt endgültig zusammenbrach und der RGW implodierte.
Karsten Rudolph arbeitet in seiner Studie anschaulich die Wege der westdeutschen Großindustrie bei ihrem Bemühen heraus, den Osthandel wieder aufleben zu lassen, zu etablieren und stetig auszuweiten. Er kann dabei ihre Pionierfunktion in den 50er und 60er Jahren für die offizielle Ost- und Osthandelspolitik der Bundesrepublik zeigen, die sie vor allem durch die Reisediplomatie erreichten. Damit verbunden waren eigene Konzepte der Industriellen und daraus abgeleitete Forderungen nach außenhandelspolitischen Rahmensetzungen an die Bundesregierung. So wird ebenso die Entwicklung der ostpolitischen Ziele von Regierung und Parteien abgebildet, aus deren Differenzen und Verschiebungen wechselnde Koalitionen zwischen Industrie und politischen Akteuren resultierten. Das Kapitel zum Röhrenembargo führt dem Leser die ganze taktische Bandbreite der industriellen Diplomatie im institutionellen bundespolitischen Rahmen vor Augen.
Bei der Beschreibung und Bewertung der Entscheidungsprozesse der Akteure stützt sich Rudolph nicht nur auf archivalische Quellen, sondern bezieht sich häufig auf Presseartikel, Interviews und Reden der Entscheidungsträger. Dies zieht an manchen Stellen die Frage nach sich, ob tatsächlich die interne Diskussion oder nicht eher die von den Handelnden intendierte Außenwirkung als Begründung für bestimmte Handlungen herangezogen wird. So erscheint auch Rudolphs Schlußfolgerung zu den biographischen Skizzen der führenden industriellen Entscheidungsträger etwas überinterpretiert bzw. nicht gut genug begründet. Rudolph geht davon aus, daß ihre "durchaus politisch verstandene Mission" für den Osthandel eine entscheidende Rolle spielte (S. 230). Bezogen auf die Motivation von Beitz könne der Handel auch als eine "Form der Wiedergutmachung gegenüber den Völkern Osteuropas" gesehen werden (S. 251). Wie die beschriebenen Abläufe zeigen, ging der Wille zur Verständigung jedoch vor allem anderen mit dem pragmatischen betriebswirtschaftlichen Blick auf die Ostgeschäfte einher. So wehrte sich neben dem BDI auch der Ost-Ausschuß immer wieder gegen eine seiner Ansicht nach zu weitreichende Liberalisierung des Handels. Die Monographie zeigt, daß die politische Mission der im Osthandel engagierten Industrie immer dort aufhörte, wo die wirtschaftlichen Konzessionen begannen. So traf beispielsweise im Kampf gegen die Importliberalisierung 1970 nicht nur auf den BDI bezogen der Eindruck zu, daß "die Politik die Wirtschaft ostpolitisch überholte" (S. 291).
Daß der Autor die realwirtschaftliche Bedeutung der Osthandelsgeschäfte im Text nur in groben Zahlen skizziert, entspricht seiner Intention, vor allem die diplomatische Dimension erschließen zu wollen. Dies verkürzt aber gleichzeitig die Sichtweise auf die Bedeutung des Handels, der die Grundlage für die Diplomatie darstellt bzw. wiederum von deren Ergebnissen bedingt ist. Die Auflistung der Außenhandelsdaten im tabellarischen Anhang bietet einen zusammenfassenden Überblick aus der Makroperspektive. Das Bild hätte sich durch eine genauere Aufschlüsselung für die im Text genannten Geschäfte der einzelnen Unternehmen aber noch erweitern lassen.
Der Innerdeutsche Handel wird am Rande thematisiert. Da er von Seiten der Bundesrepublik als Binnenhandel galt und nicht vom Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft mitbetreut wurde, ist die Vernachlässigung folgerichtig. Vor diesem Hintergrund verwundert aber die etwas wahllose Einbeziehung der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen, gerade weil es in Bezug auf die öfter angesprochenen Liberalisierungs-, sowie Kredit- und Bürgschaftsfragen ähnlich gelagerte Probleme gab, deren Handhabung Rudolph aber nicht betrachtet. Insgesamt jedoch ist Rudolph mit seiner Monographie eine gut lesbare Studie gelungen, die sein Urteil, daß die westdeutsche Industrie eine "historische Leistung Š für die Entspannungspolitik" erbracht habe, unabhängig von der Gewichtung der dahinter stehenden Intentionen solide belegt.
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Citation:
Sibylle Gausing. Review of Rudolph, Karsten, Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg: Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie 1945-1991.
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