Tammo Luther. Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938: Die Auslanddeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Nationalsozialisten. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004. 217 S. EUR 44.00 (paper), ISBN 978-3-515-08535-9.
Reviewed by Alexa Stiller (Department of History, University of Hannover)
Published on H-German (September, 2005)
Das Scheitern der traditionellen Volkstumsorganisationen im NS-Staat
Kann die national-konservative Volkstumspolitik eines Hans Steinachers, Karl Haushofers und anderer als eine oppositionelle Politik zur nationalsozialistischen Doktrin gesehen werden? Tammo Luther, der die Tätigkeiten dieser "Traditionalisten" als eine Art "völkische" Entwicklungshilfe frei von machtpolitischen Interessen auffasst, will uns in seiner Dissertation über die Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938 von dieser Sichtweise überzeugen.
Luther beginnt seine Untersuchung mit einem Problemaufriss zum Verhältnis von Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Die Wurzel allen Übels und damit die Grundlage für die Entstehung späterer Problematiken ist demnach der verspätete Nationalstaat und die mangelnde Deckungsgleichheit der Staatsgrenze mit dem Verbreitungsgebiet der deutschsprechenden Bevölkerung.
Das zweite Kapitel über die Volkstumspolitik in der Weimarer Republik beginnt mit der Rechnung, wie viele "Deutsche" aufgrund der Gebietsabtrennungen nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie außerhalb Deutschlands und Österreichs lebten. Luther kommt dabei auf 10-11 Millionen "Volksdeutscher" in Europa. Diese deutschen Minderheiten unterstützte das Auswärtige Amt, welches der hauptsächliche Träger der staatlichen Volkstumspolitik in der Weimarer Republik war, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht mit Hilfe von "Tarnorganisationen". Die Aufrechterhaltung des Status der "Volksdeutschen" als nationale Minderheit in den Gebieten Posen, Westpreußen und Ost-Oberschlesien war von besonderer Bedeutung für die Revisionsbestrebungen in den 20er Jahren. Ohne Bewohner, die man als "deutsch" bezeichnen konnte, wäre ein Anspruch auf diese Gebiete schließlich unhaltbar geworden, weshalb die Abwanderung der Deutschen verhindert werden sollte. Luther ist allerdings der Ansicht, daß nicht nur machtpolitische Interessen im Spiel waren. So habe Stresemann die Förderung der Auslandsdeutschen als uneigennützige "Hilfe zur Selbsthilfe" gesehen (S. 35) und der "Verein fuer das Deutschtum im Ausland" (VDA) habe in erster Linie kulturell und karitativ gewirkt (S. 44). Luthers Bewertung der machtstaatlichen Interessen der deutschen Regierung sowie anderer Protagonisten in den 20er Jahren bleibt damit hinter bereits bestehenden Arbeiten zurück.[1]
Zu Beginn des dritten Kapitels analysiert Luther die Unterschiede zwischen der "traditionalistischen" und der nationalsozialistischen Volkstumspolitik und macht diese an drei Punkten fest: 1. Den "Traditionalisten" sei es zwar auch um eine Grenzrevision gegangen, im Gegensatz zu Hitler und den Nationalsozialisten jedoch nicht um eine darüber hinausgehende "Lebensraumeroberung". 2. Die Volkstumstheorie der "Traditionalisten" basierte nicht auf einer Rassentheorie, wie die der Nazis, sondern sei von einer Gleichwertigkeit aller Völker ausgegangen. 3. Im Gegensatz zu Hitler waren die "Traditionalisten" nicht bereit, auf "Volksboden" zu verzichten. Das "Volkstum" sollte an Ort und Stelle unterstutzt und gehalten werden. Die Unterstützung der Volksdeutschen sahen sie zudem als "Selbstzweck" an, was meint, daß sie die eigenen Interessen der jeweiligen deutschen Minderheiten anerkannten und nicht ihre Instrumentalisierung anstrebten. Hier verfolgte Hitler eine "etatistische" Politik - wie Luther sie Steinachers Überlegungen folgend bezeichnet--welche bereit war, auslandsdeutsche Interessen preiszugeben, sollten es machtpolitische Interessen erfordern (S. 14, 60f., 100f.).
Im eigentlichen Hauptteil der Arbeit folgt eine chronologische Beschreibung der Ereignisse im Lichte des Spannungsverhältnisses zwischen "Traditionalisten" und Nationalsozialisten. Nach der Machtübernahme Hitlers forderten die "Traditionalisten" die Schaffung einer zentralen volkstumspolitischen Organisation. Rudolf Hess gründete schließlich den "Volksdeutschen Rat" (VR), der von September 1933 bis Anfang 1935 bestehen sollte. Karl Haushofer war als Präsident eingesetzt worden, sein Sohn Albrecht als dessen Vertreter und Hans Steinacher als Geschäftsführer. Das Ziel des VR war, die Volkstumspolitik einheitlich auszurichten und vor allem einen Zugriff auf die staatlichen Finanzmittel zu erlangen, doch das Auswärtige Amt vereitelte diesen Plan. Es war wie andere staatliche Institutionen nicht bereit Kompetenzen an den VR abzugeben, wodurch dieser schließlich über den Status einer beratenden und vermittelnden Instanz nicht hinauskam. Wesentlich bedeutender und einflussreicher unter den "traditionalistischen" Organisationen als der VR war jedoch der "Volksbund der Deutschen im Ausland" (VDA). Hans Steinacher war im April 1933 an die Führungsspitze gelangt und hatte aus dem ehemaligen "Verein" einen "Volksbund" gemacht, sowie das "Führerprinzip" eingeführt, wodurch er die gesamte Tätigkeit des VDA kontrollierte. Luther zufolge sahen die Mitglieder in "Steinacher den richtigen Mann, um den Verein vor übermäßigen Eingriffen seitens der NSDAP zu bewahren und die ... Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten" (S. 69).
Mit dem Erstarken der Auslandsabteilung der NSDAP unter Ernst Wilhelm Bohle erhielt der VDA einen nationalsozialistischen Gegenspieler, der beanspruchte, sich um alle Deutschen im Ausland zu kümmern, gleich ob deutscher Staatsangehörigkeit oder nicht. Bohles Politik, möglichst viele Deutsche im Ausland in die NS-Bewegung zu ziehen, wurde von den "Traditionalisten" als Bedrohung für die deutschen Minderheiten gewertet, weil sie Repressionen der jeweiligen Regierungen als Folge einer offensiven nationalsozialistischen Agitation fürchteten.
Der Konflikt zwischen Bohle und Steinacher verschärfte sich laut Luther als Bohle von Hess in den Volksdeutschen Rat berufen wurde. Schließlich sollte dies ein Grund fuer das Scheitern des VR Anfang 1935 sein; zudem hatten mangelnde Akzeptanz durch die Parteigliederungen und die schwindende Rückendeckung durch Hess zum Ende dieses Gremiums beigetragen. Doch auch Bohles mittlerweile in NSDAP A.O. (Auslandsorganisation) umbenannte Organisation sollte Macht einbüssen: Hess traf im Juli 1935 eine Kompetenzabgrenzung, die vorsah, daß der VDA und der Volksdeutsche Rat fuer die "Volksdeutschen" in Europa und den USA zuständig waren, während die A.O. nur die "Reichsdeutschen" im Ausland und zusätzlich die "Volksdeutschen" in Übersee betreuen durfte.
Mitte Oktober 1935 schuf Hess eine neue Zentralstelle zur Koordinierung der Volkstumspolitik. Als Leiter ernannte er Otto von Kursell, einen Deutschbalten, "alten Kämpfer" der Partei und Mitglied der SS. Das "Büro von Kursell", welches getarnt arbeitete, sollte die verschiedenen Stellen im NS-Staat, d.h. Partei und staatliche Behörden, auf eine einheitliche Linie in der Volkstumspolitik einschwören. "Volksdeutsche" und Reichsinteressen sollten sich dabei die Waage halten. Luther wertet die Ernennung von Kursell als Erfolg der "Traditionalisten", denn Bohles Einfluss war gemindert und von Kursell stand ihnen freundlich gesinnt gegenüber (S. 132).
Aber auch Kursell konnte keine einheitliche Linie in der Volkstumspolitik bringen. Nach einem Streit mit Himmler erwirkte dieser Kursells Absetzung und hievte einen ihm getreuen SS-Obergruppenführer in das Amt: Am 1. Februar 1937 übernahm Werner Lorenz, vorheriger Leiter des SS-Oberabschnitts Danzig, die Dienststelle von Kursell, die fortan "Volksdeutsche Mittelstelle" (VoMi) hieß. Die VoMi erhielt den Auftrag, die Volksgruppen im Ausland zu einigen und bestehende Konflikte zu lösen. Die Durchsetzung des Nationalsozialismus sollte dabei zwar gefördert werden, aber gleichzeitig nicht die außenpolitischen Strategien Hitlers gefährden. Im weiteren Verlauf wurden die Kompetenzen der A.O. gänzlich auf die Unterstützung der Reichsdeutschen reduziert und der VDA der VoMi untergeordnet. Steinacher behielt zwar vorerst seinen Posten, hatte aber kaum noch Einfluss, bis er schließlich von Hess am 19. Oktober 1937 beurlaubt wurde. Ausschlaggebend für die Absetzung Steinachers war seine kompromisslose Haltung in der Südtirolfrage gewesen. Dadurch, daß Hitler dieses Gebiet aus machtpolitischen Erwägungen Mussolini zusprach, sei die völlige Änderung der Volkstumspolitik von der traditionellen zur nationalsozialistischen Variante vollzogen worden, so Luthers Fazit (S. 158).
Problematisch an diesem Buch ist vor allem der einseitige Blick. Luther benutzt in erster Linie Quellen des Auswärtigen Amtes und die Nachlässe von Steinacher und Haushofer, dagegen wenig Quellen der nationalsozialistischen Volkstumsorganisationen. Die von Luther verwendeten Dokumente haben zudem schon etliche Historiker vor ihm ausgewertet, so daß er deren Untersuchungen kaum etwas hinzuzusetzen vermag.[2] Darüber hinaus übernimmt Luther die Schilderung der Ereignisse direkt aus seinen Quellen: Erinnerungen und Interpretationen von Steinacher sowie Karl und Albrecht Haushofer werden nicht kritisch hinterfragt. Daraus entstehen zwei entscheidende Probleme, welche die gesamte Arbeit durchziehen: 1. Kommt Luther über ein Narrativ nicht hinaus, die Analyse bleibt in der Herausarbeitung der Gegensätze zwischen den "Traditionalisten" und den Nationalsozialisten stecken. 2. Sind diese sich vermeintlich antagonistisch gegenüberstehenden Protagonistengruppen bei Luther normativ besetzt.
Daß man Unterschiede zwischen den traditionellen Volkstumspolitikern und den Nationalsozialisten ausmachen kann, haben auch schon andere historische Arbeiten hervorgehoben, jedoch verweisen diese auch auf die gemeinsamen Ziele und Wurzeln der beiden Gruppierungen, die in der völkisch-nationalistischen Bewegung liegen.[3] Schließlich bildeten national-konservative und völkische Gruppierungen ein Ferment des Nationalsozialismus, und wenn eine Organisation wie der VDA als Gegenspieler der Nationalsozialisten dargestellt und damit der Eindruck erzeugt wird, der VDA hätte eine Art "Opposition" zum NS dargestellt, dann ist dies nur wenig geeignet, die Strukturen der Volkstumspolitik in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus offenzulegen und zudem schlichtweg falsch.
Die Kategorien der Volkstumspolitik, d.h. was "deutsch" ist und wer als "Deutscher" gelten konnte, bleiben bei Luther unhinterfragt. Leichte Irritationen tauchen auf, wenn es um Zahlenangaben über die deutschen Minderheiten geht. Hier schreibt Luther, daß Zahlen schwanken können, je nach dem, ob nach der Muttersprache, Umgangssprache oder dem Bekenntnis zum Volkstum (S. 26, Anm. 73) oder nach "aktueller Sprachgemeinschaft" und "ursprünglicher Abstammung" (S. 28, Anm. 94) gefragt wurde. Die sich aus dieser Unklarheit ergebene Problematik sieht Luther nicht. Im gleichen Sinne wird auch die These, den "Traditionalisten" sei es um das "Volk" gegangen, während die Nazis statt dessen die Kategorie der "Rasse" eingeführt hätten, nicht weiter diskutiert und Unterschiede bleiben unklar.
Die antidemokratische Linie der Volkstumsideologen sowie ihre Überhöhung und Mythologisierung des "deutschen Volkes" ist jedoch hinlänglich erforscht. Die "Traditionalisten" waren nicht nur Wegbereiter des Nationalsozialismus, sondern weitgehend auch Gesinnungsgenossen der Nationalsozialisten.[4] Luthers Behauptung, daß ihre Arbeit frei von machtpolitischen Interessen gewesen sei, ist nicht haltbar.
Es muss schließlich auch verdächtig erscheinen, wenn 1935 mit Otto von Kursell ein SS-Mann die Volkstumspolitik übernimmt. Während Luther ein Interesse Himmlers an diesem Bereich erst ab Herbst 1936 sieht, werten andere Historiker bereits die Ernennung Kursells als Beginn des Einflusses der SS auf die Volkstumspolitik.[5] Luther fällt auch nicht auf, daß die Mitarbeiter Kursells größtenteils SS-Mitglieder waren und sich sogar personelle Kontinuitäten von 1935 bis 1945 beweisen lassen. Beispielsweise begann Günther Stier seine Karriere im Büro von Kursell. Später leitete er die Hauptabteilung "Menscheneinsatz" im Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums und war führender Kopf bei dem Siedlungsprojekt des RKF in der Zamosc, wofür er nach dem Krieg von einem polnischen Gericht zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Die Aufdeckung der Einflussnahme von SS und SD sowohl in der staatlichen Volkstumspolitik als auch auf die deutschen Minderheiten im Ausland ist jedoch von zentraler Bedeutung für die Analyse der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik.
Luthers Argumentation zielt darauf ab, die "Traditionalisten" von jeglichem Beitrag am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen freizusprechen. Und diese offenkundige Intention ist verantwortlich für die Schwächen und Auslassungen des Buches. Eine Arbeit zur nationalsozialistischen Volkstumspolitik von 1933 bis 1939, die sich vielmehr mit Kontinuitäten, Gemeinsamkeiten und Kooperationen zwischen traditionellen und nationalsozialistischen Volkstumsprotagonisten beschäftigt, bleibt somit nach wie vor eine noch zu schließende Forschungslücke.
Notes
[1]. Vgl. Norbert Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der Weimarer Republik: Die Subventionierung der deutschen Minderheit in Polen 1919-1933 (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1973).
[2]. Noch immer wegweisend ist die Arbeit von Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Aussenpolitik 1933-1938 (Frankfurt a.M.: Metzner, 1968); Ronald M. Smelser, Das Sudetenproblem und das Dritte Reich 1933-1938: Von der Volkstumspolitik zur nationalsozialistischen Aussenpolitik (München: Oldenbourg, 1980).
[3]. Vgl. Martin Broszat, "Die voelkische Ideologie und der Nationalsozialismus," Deutsche Rundschau 84 (1958): S. 53-68; Gerhard Weidenfeller, VDA: Verein fuer das Deutschtum im Ausland. Allgemeiner Deutscher Schulverein (1881-1918): Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Nationalismus und Imperialismus im Kaiserreich (Frankfurt a. M.: Lang, 1976).
[4]. Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus: Deutsche Geschichtswissenschaft und der "Volkstumskampf" im Osten (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000).
[5]. Valdis Lumans, Himmler's Auxiliaries: The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe, 1933-1945 (Chapel Hill and London: University of North Carolina Press, 1993).
If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: https://networks.h-net.org/h-german.
Citation:
Alexa Stiller. Review of Luther, Tammo, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938: Die Auslanddeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Nationalsozialisten.
H-German, H-Net Reviews.
September, 2005.
URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=11139
Copyright © 2005 by H-Net, all rights reserved. H-Net permits the redistribution and reprinting of this work for nonprofit, educational purposes, with full and accurate attribution to the author, web location, date of publication, originating list, and H-Net: Humanities & Social Sciences Online. For any other proposed use, contact the Reviews editorial staff at hbooks@mail.h-net.org.