
Viola B. Georgi. Entliehene Erinnerung: Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag, 2003. 344 S. (gebunden), ISBN 978-3-930908-89-9.
Reviewed by Georgi Verbeeck (Universiteit Maastricht)
Published on H-German (May, 2005)
Deutschland ist wie jede westeuropische Nation schon seit langem ein Einwanderungsland. Jahrzehntelange Migrationsprozesse haben Deutschland in eine multikulturelle Gesellschaft umgewandelt. Dies ist der Ausgangspunkt fr eine Studie, die untersucht, welche Rolle das Geschichtsbewusstsein mglicherweise bei denjenigen spielt, die als Mitbrger nichtdeutscher Herkunft umschrieben werden knnen. Sie basiert auf folgendem Widerspruch: Einerseits gilt es als unumstritten, dass der Umgang mit einer spezifischen Vergangenheit das Kernthema in der Debatte um die deutsche Identitt ist. Das bedeutet, dass der Vergangenheitsdiskurs zur deutschen Schicksals-, Verantwortungs- und Verhaftungsgemeinschaft gehrt. Es geht dabei um eine durch die Abstammung bestimmte Eigenschaft, die ethnisch-kulturell definiert ist. Andererseits zwingt die Realitt des multikulturellen Zusammenlebens zu einer Reflexion ber die Art und die Mglichkeit der Integration anderer Geschichtsbilder. Falls die deutsche Nation eine Erinnerungsgemeinschaft ist, was sind dann die Konsequenzen einer Integration von Migranten mit fundamental anderen kollektiven Erinnerungen? An sich ist das Thema verbunden mit der Diskussion ber Normen und Werte, ber die Akzeptanz von der landeseigenen Leitkultur durch die Einwanderer, doch es spitzt sich in einem Punkt zu: Wie gehen in Deutschland lebende Migranten mit dem Erbe und den Lasten der spezifischen deutschen Vergangenheit um? Was vor allem fr ein hauptschlich theoretisches Problem gehalten werden mag, wird praktisch erlebbar in Schulen, in der Diskussion mit Jngeren und in Jugendgruppen.
Viola Georgi, Soziologin und Pdagogin, untersucht in Entliehene Erinnerung den Platz, den der Holocaust im Geschichtsbild der jungen Migranten in Deutschland einnimmt. Das ist in sofern problematisch, da dieser zentrale Punkt in der deutschen kollektiven Erinnerungskultur nicht selbstverstndlich zur Erinnerung dieser Jugendlichen gehrt. Der Holocaust ist nicht allein ein zentrales historisches Ereignis, sondern mit den Jahren im Westen auch zu einer moralischen Kategorie geworden. Wie verhalten sich die jngeren Migranten zu dieser moralischen Kategorie? Wie gehen die Jngeren mit einem Phnomen einer unbewltigten Episode der Geschichte um? Zu Recht verweist Georgi auf die Ausdehnung des Holocaustbegriffes. Aber mit dem Aussterben der letzten Generation von berlebenden verlagert sich das Problem des Umgangs und der Verarbeitung zur Ermittlung, Erzhlung und Vergegenwrtigung. Gleichzeitig gibt es eine Tendenz der Internationalisierung und Globalisierung des Holocaust. Der Holocaust wird zum Kernbegriff in einer europischen und weltweiten Kultur vom propagierten Schuldbewusstsein. Dass dies durch eine ideologische Manipulation zustande kommt, tut hier nichts zur Sache. Fakt ist, dass viele eine Art von mundialer Schuldkultur durchaus untersttzen. Die Globalisierung des Holocaust hat zu einer Universalisierung seiner Bedeutung gefhrt. Jede Menschenrechtsverletzung wird an ihm gemessen. Gleichzeitig erfolgt eine starke Medialisierung des Holocaust verbunden mit den Begriffen "Amerika" und "Hollywood", getragen durch die Massenmedien, die dieses Anliegen popularisieren. Dem Holocaust wird nach wie vor ein wichtiger Platz als ein historisches Ereignis eingerumt aber eher als Medienereignis denn als historisch bedeutsames Geschehnis, dass im Zusammenhang mit der Geschichtswissenschaft eine immer geringere Rolle spielt. Mit anderen Worten es wird eher zu einem politischen, sozialen und kulturellem Phnomen.
Ein Buch von solch vielversprechender Themenwahl liefert dennoch, bis auf einige theoretische berlegungen, wenige empirische Befunde. Die erste Hlfte des Werkes reflektiert die Art und Weise der Funktion des Geschichtsbewusstseins, die Wechselbeziehungen zwischen historischem Bewusstsein und ethnischer Herkunft und dem Verhltnis zwischen individuellem und kollektivem Gedchtnis. Die zweite Hlfte enthlt interessante und kritisch kommentierte Interviews mit jungen Migranten. Diese bieten einige aufschlussreiche Fallbeispiele aber zugleich wenig relevante Informationen, die aussagekrftig genug sind, um sich eine allgemeine Beurteilung ber das Geschichtsbewusstsein junger Migranten in Deutschland zu erlauben. Ebenso lsst sich der Studie nicht entnehmen, ob sich ein spezifisches Geschichtsbewusstsein positiv oder negativ auf den Integrationsprozess auswirkt. Gleichfalls unklar bleibt der Unterschied zwischen dem historischen Bewusstsein zwischen Deutschen und Migranten. Deutlich allein wird, dass die jungen Migranten ihre Vorstellungen vom Holocaust und des Nationalsozialismus mit einer individuellen politischen Stellungnahme verbinden, die mit ihren eigenen nationalen und kulturellen Besonderheiten verbunden sind. Vorbilder dafr liefern die Konflikte im Nahen Osten, die Kurdenfrage in der Trkei, Rassismus und Rechtsextremismus in ihrer neuen Heimat. Das zeigt wiederum, wie weit der Holocaust von seiner eigentlichen Geschichte entfremdet ist.
Das Buch ist weder aus einem historiographischen noch geschichtstheoretischen Interesse geschrieben, es dient vielmehr als pdagogisches Pldoyer. Fr die Autorin werden Erziehung und Lehre im Zusammenhang mit dem Holocaust zum Ausgangspunkt fr eine historisch orientierte Menschenrechtsbildung. Der Holocaust wird so zu einer universellen Kategorie, die das Bewusstsein dahingehend schrfen soll, dass jede Form von Menschenrechtsverletzung um jeden Preis vermieden werden muss. Erziehung nach Auschwitz fliet ein in die Pdagogik der Menschenrechte. Diese Ansicht ist insofern nicht ungefhrlich, als dass ein geschichtliches Ereignis verformt wird zu einem Fundament moralischer Haltungen. Falls das Ereignis der historischen Untersuchung beispielsweise unter einem anderen Blickwinkel betrachtet wird, kann das ganze Bauwerk moralischer Haltungen ins Wanken geraten. Das zeigt, wie problematisch es ist, Geschichte fr uere Ziele zu nutzen und insofern ist das Verhltnis zwischen Geschichte und ihrem "Gebrauch" stets zu hinterfragen. Vielleicht wird in dieser Hinsicht zuviel von Geschichte erwartet und zu wenig der Fakt in Rechnung gestellt, dass die Vergangenheit ein Fass voller Widersprchlichkeiten ist, ein grenzenloser Secondhandmarkt recyclebarer Produkte.
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Citation:
Georgi Verbeeck. Review of Georgi, Viola B., Entliehene Erinnerung: Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland.
H-German, H-Net Reviews.
May, 2005.
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