Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann. Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002. 138 S. (broschiert), ISBN 978-3-534-14774-8.
Reviewed by Gerd Schwerhoff (Technische Universitaet Dresden)
Published on H-German (April, 2005)
"Konfessionalisierung" und "Volkskultur"
1770 verfuegte Johann Nepomuk Joseph Ulrich, Pfarrer der bairischen Gemeinde Traubing, dass die Zahl der jaehrlichen Wallfahrten zum Gnadenbild der Maria auf dem Hohenpeissenberg drastisch reduziert werden sollten; statt der bisher 19 Kreuzgaenge zu dem einen halben Tagesmarsch entfernten Wallfahrtsort sollten nun vier ausreichen. Der Pfarrer argumentierte im Geiste der katholischen Aufklaerung gegen diesen "Unfug": Er wuerde von keinerlei Andacht begleitet, sondern fuehre lediglich zu Ausschweifungen und Muessiggang. Die Gemeindemitglieder wehrten sich verbissen. In ihrer schriftlichen Einlassung betonten sie, dass sich die Kreuzgaenge in der Vergangenheit als sinnvoll erwiesen haetten, um Viehseuchen, Unwetter und andere Arten von Unglueck abzuwenden. Auch seien die Kreuzgaenge sehr wohl mit Andacht geschehen, man habe oft mehr als einen Psalter gebetet und immer mit einem Segen abgeschlossen. Das Unverstaendnis und der Protest gegenueber dem eigenen Pfarrer gipfelte schliesslich in dem Vorwurf, er wolle die ganze Gemeinde "lutherisch" machen.[1]
Das Beispiel fuehrt uns in eine Zeit weit jenseits der Epoche, die Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann in ihrem Buch behandeln. Und doch waere eine moegliche Lesart des Protestes der Traubinger Gemeinde, ihn als Erfolg jenes saekularen Prozesses der "Konfessionalisierung" zu verstehen, der im vorliegenden Buch neben der "Reformation" als zweite Saeule aufscheint. Die Etablierung dieses Leitbegriffs indiziert einen erfolgreichen Paradigmenwechsel. Denn waehrend die Reformation seit jeher im Fokus der deutschen wie der angelsaechsischen Geschichtsschreibung stand, fristete das spaete 16. und das 17. Jahrhundert lange ein Schattendasein. Das in der zweiten Haelfte der 1970er Jahre von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling entwickelte Paradigma der Konfessionalisierung trug wesentlich dazu bei, diese Zeit ins historiographische Rampenlicht zu ruecken.[2] Es handelt sich also zunaechst um ein Kind der deutschen Geschichtswissenschaft--seine Uebertragbarkeit in ausserdeutsche Kontexte wird kontrovers diskutiert. Immerhin gelang es den Protagonisten des Konzeptes, mit seiner Hilfe eine gewisse Deutungshoheit ueber ein wichtiges Feld fruehneuzeitlicher Geschichte zu erobern. Zumindest untergruendig speist sich manche Kritik aus einem Unbehagen an einer drohenden Hegemonie des Konzeptes, die alternative oder komplementaere Deutungen zu marginalisieren droht. Dass Ehrenpreis und Lotz-Heumann im Buchtitel vorsichtig und neutral lediglich das "konfessionelle Zeitalter" annoncieren, ist vielleicht eine Konzession an dieses Unbehagen.
Das Konzept der Konfessionalisierung stellt den Versuch dar, eine bestimmte Phase der fruehneuzeitlichen Geschichte Europas--im wesentlichen die Zeit zwischen dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und dem Westfaelischen Frieden 1648--mittels einer Leitkategorie zu erschliessen und wesentliche Spezifika dieser Epoche zu erfassen. Fruehere Ansaetze, so Heinz Schilling, haetten diese Besonderheiten gerade verfehlt. Ein geistes- und kirchengeschichtlicher Idealismus habe die sozialgeschichtlichen Wurzeln des Konfessionszeitalters ebenso wie seine machtpolitischen Eigenheiten nicht mit in Betracht gezogen. Umgekehrt stellten kritisch-marxistische Ansaetze den Eigenwert des Religioesen in Abrede und kamen so zu anachronistischen Fehlurteilen. Dabei besass die Religion in der Vormoderne einen fundamental anderen Stellenwert als in einer funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft, wo sie nur ein "Subsystem" neben anderen darstellt. Anders gesagt: Religioese Wahrnehmungen und Handlungsmaximen durchdrangen in dieser Zeit alle gesellschaftlichen Bereiche. Politik, Oekonomie und Kultur lassen sich ohne die religioese Dimension nicht angemessen verstehen. Die Konfessionsspaltung habe zunaechst nicht, wie oft behauptet, auf geradem Weg in eine Saekularisierung gemuendet, vielmehr sei es zunaechst zu einer ungeheuren und gegenueber dem Spaetmittelalter gesteigerten religioesen "Aufladung" aller Lebensbereiche gekommen. An diesem Punkt ergeben sich deutliche Beruehrungspunkte zur ausserdeutschen Forschung, etwa zu Jean Delumeaus These, eine gegenueber dem eher archaischen Mittelalter fundamentale Verchristlichung der europaeischen Gesellschaft habe erst in der Fruehen Neuzeit stattgefunden.[3]
Zugleich, und das ist eine weitere programmatische Aussage der Konfessionalisierungs-These, kam es zu einer bisher ungeahnten Verknuepfung von "Staat" und "Kirche". Der fruehmoderne Staat trieb die Konfessionalisierung entschieden voran, weil er verstaerkt die Kontrolle ueber kirchliche Institutionen als potentielle Machtkonkurrenten gewann, weil er mit Hilfe der Religion ein hoeheres Mass an staatlicher Geschlossenheit erreichen konnte und weil er mit Hilfe dieses Instrumentes die Disziplinierung und Homogenisierung des Untertanenverbandes voran treiben konnte.
Ein weiterer Kern des Konfessionalisierungs-Paradigmas ist eine Perspektivenverschiebung gegenueber der gaengigen Dualitaet Reformation-Gegenreformation. Waehrend bisher die Unterschiede zwischen den Bekenntnissen im Mittelpunkt standen, wird jetzt die funktionale Gleichgerichtetheit und Gleichartigkeit der Konfessionen betont. Dabei wird die Konkurrenz der Bekenntnisse nicht geleugnet, sie stellt geradezu den Motor dar fuer ihre Abgrenzung nach aussen und ihre Identitaetsbildung nach innen. Die Reformation wird in dieser Perspektive zu einem kurzen Initialimpuls, dem eine laengere Phase der Konfessionalisierung folgt. Aber auch die Einzigartigkeit der Reformation wird entscheidend relativiert, insofern die Kontinuitaet zum 15. Jahrhundert als einer Zeit der Reformen staerker betont wird. Damit tritt zugleich eine Eigenart des Paradigmas staerker hervor: Es handelt sich um einen Prozessbegriff, der auf religioese, gesellschaftliche und politische Wandlungsphaenomene zielt. Insofern handelt es sich um eine Spielart von Modernisierungstheorien, wie es im Kern auch die Theorie vom Prozess der Zivilisation (Norbert Elias) oder diejenige der Sozialdisziplinierung (Gerhard Oestreich) der Untertanen durch die fruehneuzeitlichen Obrigkeiten darstellen--gerade mit dem letztgenannten Ansatz ist das Konfessionalisierungs-Paradigma eng verknuepft.
Besonders wichtig fuer eine Analyse der konkreten Dimensionen des Konfessionalisierungsprozesses ist ein von Wolfgang Reinhard vorgelegtes Kategorienraster zur "methodische[n] Herstellung neuer konfessioneller Grossgruppen". Die Schaffung einer eigenen katholischen, lutherischen, reformierten oder anglikanischen Identitaet wurde nach seiner Uebersicht durch Verfahren erreicht, bei denen repressiv-ausgrenzende und konstruktiv-identitaetsstiftende Aspekte eng verknuepft waren. Dazu gehoert die Gewinnung klarer theoretischer Vorstellungen durch die Formulierung eines klaren Bekenntnisses, die Etablierung neuer Normen der Gesinnung und des Verhaltens (etwa durch Konfessionseide), ebenso planmaessige Propaganda mittels Predigten, Liedern und Bildern oder die Entwicklung von Kontroll- und Disziplinerungsinstanzen (Visitationen, Kirchenzucht), schliesslich die Schaffung eigener konfessionsspezifischer "Identitaetsmarker" bzw. die Ausgrenzung "fremder" Riten und Praktiken. In diesen Zusammenhang laesst sich gut der Protest der Traubinger Gemeinde gegen die Abschaffung ihrer Wallfahrt einordnen, die urspruenglich 1514 begruendet erst seit dem Ende des 16. Jahrhunderts aufbluehte. Zweihundert Jahre spaeter gehoerte sie offenbar zum festen Bestand Traditionsbestand katholischer Identitaet in der Region wer sie antastete, musste "lutherisch" sein.
Die Vertreter der Konfessionalisierungs-These fragen nicht nach der "theologischen Wahrheit". Bisweilen ist ihnen kritisch vorgehalten worden, sie wuerden das zeitgenoessische Ringen darum als tiefsten Impetus der Epoche zugunsten einer funktionalen Betrachtungsweise ignorieren. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig: Denn selbstverstaendlich gehoeren die subjektiven religioesen Ueberzeugungen der Akteure zu den zentralen Wirkfaktoren des Konfessionalisierungsvorgangs. Seine Vertreter unterstellen den Zeitgenossen ja keinen rein instrumentellen oder gar machtzynischen Umgang mit der Religion. Nur beschaeftigt sie sich eben weniger mit den Intentionen der Akteure als mit den--zum Teil ungeplanten--Folgen und Nebenfolgen dieses Ringens um Wahrheit.
Andere Kritikpunkte wiegen schwerer. So wird gegenueber der Behauptung einer Parallelitaet der Hauptkonfessionen das spezielle Profil des Katholizismus mit seinem Traditionalismus, seiner autonomen Kirchlichkeit und seiner individuellen Gewissenszucht qua Beichte herausgestellt. Forscher wie Winfried Schulze haben umgekehrt die Schluesselrolle der Konfessionalisierung als Signatur der Epoche ueberhaupt bestritten und ihm "Pluralisierung" und "Saekularisierung" als Alternativ- und Begleitkonzept entgegengestellt. Weite Bereiche von Politik und Gesellschaft der Fruehen Neuzeit, etwa das Recht, sei durchaus konfessionsneutral gewesen. Zudem habe es vielerorts weitreichende Ansaetze zur Multikonfessionalitaet gegeben (Paradebeispiel waeren die Niederlande), Ansaetze zu einem pragmatischen Neben- und Miteinander der verschiedenen Bekenntnisse.
Ein weniger prinzipieller Einwand geht geradezu in die entgegengesetzte Richtung und kritisiert die enge zeitliche Verortung des Konfessionalisierungsargumentes. Mag der Augsburger Religionsfrieden von 1555, zumindest im deutschen Kontext, einen plausiblen Anfangspunkt markieren, weil sich die Konfessionen seit dieser Zeit--zumindest vorlaeufig--mit der konkurrierenden Existenz anderer Bekenntnisse abfanden und die immer noch angestrebte Wiederherstellung der christlichen Einheit auf unbestimmte Zeit verschoben, so ist der Endpunkt Mitte des 17. Jahrhunderts hoechst fragwuerdig. Religion und Konfessionalisierung, so z.B. Helga Schnabel-Schuele, behielten bis ins Jahrhundert der Aufklaerung hinein "ihre verhaltenssteuernde und legitimierende Funktion"; von einer "Dekonfessionalisierung" koenne nur sehr bedingt die Rede sein. Dieses Argument wurde inzwischen von einer Reihe von Fallstudien untermauert und auch unser Eingangsbeispiel weist in diese Richtung.
Ein letzter zentraler Einwand kommt von Seiten einer theoretisch und konzeptionell argumentierenden Mikrogeschichte und kritisiert, etwa in Person von Heinrich Richard Schmidt, die etatistische Engfuehrung der Konfessionalisierungsthese. Sie konzentriere sich allzu stark auf die Aktivitaeten der weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten und nehme die Bevoelkerung lediglich als passives Objekt von herrschaftlicher Massnahmen wahr. Allzu schnell werde dabei die Ebene der Normen, der kirchlichen und staatlichen Disziplinierungsabsichten als gesellschaftliche Wirklichkeit ausgegeben. Dabei sei es ueber laengere Zeitraeume hinweg und zum Teil ueberhaupt nicht gelungen, die Bevoelkerung an die neuen Denk- und Verhaltensanforderungen anzupassen. Natuerlich gebe es Veraenderungen im Bereich der Religiositaet, die jedoch nicht allein durch obrigkeitliche Einwirkungen hervorgerufen worden seien. Vielmehr seien die religioesen Laien und die Kirchgemeinden selbststaendige Gestalter des religioesen Lebens gewesen; die religioesen Modelle und Anforderungen "von oben" seien "unten" zum Teil ignoriert, zum Teil aufgegriffen, zum Teil aber auch fuer die eigenen Beduerfnisse adaptiert und modifiziert worden. Schilling und Reinhard haben die zumindest partielle Berechtigung derartiger Kritik seit langem anerkannt. Inwieweit sich die Kritik produktiv in den Konzeptrahmen "Konfessionalisierung" integrieren laesst und zu seiner Erweiterung fuehrt, ist eine empirisch weiterhin offene Frage. Das "mikrohistorische Potential" zur Detailforschung, das etwa in Reinhards oben skizziertem Raster steckt, ist nach seiner eigenen Wahrnehmung bisher noch kaum genutzt worden.
Soweit einige Grundzuege der Konfessionalisierungs-Diskussion, die von Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann und Stefan Ehrenpreis immer klug abwaegend und mit breiter Fachkenntnis dargestellt werden. Der sachlich informierte Leser hat hier ein nuetzliches Vademekum einschlaegiger Forschungspositionen vorliegen. Fuer den thematisch unkundigen Benutzer ist das Buch leider von begrenztem Wert. Das liegt nur zum geringeren Teil daran, dass der Behandlung des konfessionellen Zeitalters letztlich gegenueber den Kontroversen um die Reformation doch nur wenige Seiten eingeraeumt wird. Vor allem ist zu bemaengeln, dass die Kontroversen aus ihrem historischen Kontext geloest und auf eine Darstellung historischer Ereignisse, Strukturen und Prozesse verzichtet wird. Dieser Mangel ist nicht den Autoren, sondern der Reihe "Kontroversen um die Geschichte" anzulasten; bisherige Rezensionen haben zu diesem Punkt bereits das Notwendige gesagt.[4]
Aber zurueck zum Thema Konfessionalisierung. Die Kritik der Mikrogeschichte lenkt den Blick auf ein Forschungsfeld, dass im angesprochenen Band nur am Rande vorkommt, und zwar im Kontext der "laendlichen Reformation" (pp. 40-41). Die Rede ist vom Paradigma der "Volkskultur" bzw. der "Volksfroemmigkeit". In vielerlei Hinsicht kann es als ein Komplementaerkonzept zur Konfessionalisierung angesehen werden. Auch die Volkskulturforschung nahm in den 1970er Jahren ihren Aufschwung. Allerdings kamen die Initialimpulse eher aus der angelsaechsischen und franzoesischen Forschung.[5] Die Volkskultur wurde als eine Lebenswelt mit eigenen Verhaltensregeln und Denkformen, mit eigenen Festen, Riten und Werthaltungen beschrieben. Diese Lebenswelt gerade auf dem Land erschien weitgehend statisch und von der christlichen Hochkultur abgesondert. Sie war gepraegt von der zyklischen Zeiterfahrung von Saat und Ernte. Durch diesen Zyklus wurde auch der Rhythmus der Feste und Rituale vorgegeben; sie dienten dazu, die Gemeinschaft zu befestigen und mit den Toten zu kommunizieren, sie boten der Jugend Gelegenheit zu kollektiven Aktivitaeten und emotionaler Entladung. Von den Fruchtbarkeitsbraeuchen bis hin zur Heilkunde sei diese Welt von einer magisch-mythischen Grundeinstellung durchtraenkt gewesen. Im Verlauf der Fruehen Neuzeit dann habe der Generalangriff der Hochkultur diese Volkskultur veraendert und unterhoehlt, im Verlauf eines weitgehenden Akkulturationsprozesses sei die alteuropaeische Welt fundamental gewandelt worden.
Greift das Konzept der Volkskultur weit ueber das Feld des Religioesen hinaus, so lassen sich doch die "Volksreligiositaet" (so eher der in Frankreich gebraeuchliche Begriff) bzw. die "Volksfroemmigkeit" (so die deutsche Begriffsbildung) als Teil dieser Volkskultur verstehen und interpretieren. In dieser Fassung koennte das Konzept einen moeglichen alternativen Interpretationsrahmen fuer unser Eingangsbeispiel bieten. Wo der gelehrte Pfarrer "Andacht" einfordert, halten die Gemeindemitglieder den rituellen Vollzug des Psalmengebetes und der Segenshandlung fuer zentral. Die Widerstandsaktionen der Traubinger Gemeinde koennten als "eigensinniger" Protest des Volkes gegen die Akkulturationsversuche der Eliten gedeutet werden.
Vorteile und Faszination eines solchen Ansatzes sind schnell benannt. Erstens stehen nicht die lange dominierenden gesellschaftlichen Eliten und ihre Wahrnehmungen, sondern die Vertreter der namen- und gesichtslosen Masse der Bevoelkerung im Mittelpunkt des Interesses. Zweitens interessierten sich die Erforscher der Volksfroemmigkeit jetzt tatsaechlich fuer die religioese Praxis und weniger fuer die Auspraegungen der theologischen Dogmen und fuer den institutionellen Kirchenapparat. Drittens rueckten damit bisher kaum beachtete Quellen als Informationsressourcen in den Mittelpunkt: Visitationsakten und Kirchenzuchtprotokolle, Andachts- und Mirakelbuecher, Kalender, Sagen, Bruderschaften und der Gebrauch von Bildern und magischen Formeln.
Schnell geriet das Konzept aber auch ins Kreuzfeuer der Kritik. Historiker wie Richard Trexler machten darauf aufmerksam, dass die Entgegensetzung von Volk und Elite einem ideologischen Konstrukt entspringt.[6] Diese Ideologie wurde von humanistischen Gelehrten geschaffen, um den Aberglauben und die Ungebildetheit des einfachen Poebels abzuqualifizieren und um die eigene Bildung und Froemmigkeit vor dieser dunklen Hintergrundfolie in um so hellerem Licht erstrahlen zu lassen. Auch wenn diese Sicht der Dinge im 20. Jahrhundert geradezu umgedreht wurde und dem Volk nunmehr in romantischer Verklaerung eine eigene kulturelle Identitaet zugeschrieben wurde, handele es sich, so die Kritiker, um einen unstatthaften Essentialismus.
In der Kritik stehen beide Komponenten des Leitkonzeptes. Das "Volk" kann kaum als trennscharfe Traegerschicht einer eigenen religioesen Praxis gelten. Alle Versuche, diesen Terminus zu praezisieren, laufen in die Irre. Weder ist es mit den viel beschworenen Unterschichten identisch, denen sicherlich viele Angehoerigen der niederen Geistlichkeit angehoeren. Noch koennen umgekehrt alle Angehoerigen der Oberschichten aus dem "Volk" ausgesondert werden, waren doch gerade Angehoerige des Adels an vielen Festen, Riten und Praktiken beteiligt. So zerfaellt "das" Volk in viele sehr heterogene Teilgruppen. Dazu kommt ein weiteres Problem. Zwar ist es das erklaertes Ziel des "popular culture" Ansatzes, das Volk auf die Buehne des historischen Geschehens zu holen. Aber was seine Rolle im historischen Wandlungsprozess hin zur Moderne anbelangt, so besitzt es lediglich den Status von Komparsen. Die den tragenden Subjekten einer alten Form von Religiositaet werden im Verlauf des Akkulturationsprozesses zu Objekten obrigkeitlichen Zugriffs degradiert, die diesem Zugriff zwar vielleicht heroischen, aber letztlich erfolglosen und folgenlosen Widerstand entgegensetzen. So verlief sich die Wallfahrt auf den Hohenpeissberg Anfang des 19. Jahrhunderts trotz der Proteste langsam im Sande.
Ebenso steht es mit der zweiten Komponente, den angeblich eigenen Formen von "Froemmigkeit" und Religiositaet. Was als vermeintlich alte, womoeglich sogar noch vorchristliche Traditionen ausgegeben wird, entpuppt sich oft erst als Ergebnis sozialer und mentaler Wandlungsvorgaenge. Ein gutes Beispiel sind "volksmagische" Praktiken, Heilmagie, Abwehrzauber oder Wahrsagerei. All diese Formen sind mit christlich-liturgischen Elementen durchsetzt und beziehen sich so immer wieder auf die Hochkultur bzw. -religion. Eine Einheitlichkeit laesst sich kaum erkennen, und eine Abgrenzung zur Kultur der Eliten ist nur schwer moeglich. Aehnlich verhaelt es sich mit der katholischen Wallfahrt. Oft als Ausdruck volksreligioeser Praxis gewertet, handelt es sich dabei in der Fruehen Neuzeit doch auch immer um ein obrigkeitlich inspiriertes, gelenktes und kontrolliertes Verhalten. Was die Bauern in Traubing am Ende des 18. Jahrhunderts eigensinnig verteidigten, war alles andere als eine uralte Tradition, sondern ein zweihundert Jahre zuvor etabliertes Element des katholischen Konfessionalisierungsprogramms.
Vertreter des Volkskultur-Ansatzes haben die Gueltigkeit der Kritik schnell anerkannt und sich bemueht, sie in ihr Paradigma zu integrieren. Weder von ihren Traegergruppen noch von ihren Gegenstandsbereichen selbst, so konstatieren etwa Roger Chartier oder Norbert Schindler, lasse sich klar zwischen Eliten- und Volkskultur unterscheiden. Die Differenz zwischen ihnen mache sich vielmehr "an den unterschiedlichsten Formen ihrer sozialen Aneignung und ihres Gebrauchs" fest. Diese "praxeologische Wende" der Volkskulturforschung fuehre zur Aufgabe alter Suggestionen von Einheitlichkeit, wo eigentlich Diversifizierung und Differenzierung erforscht werden muesse.[7] Als Generationsgenosse von Heinz Schilling hat vor allem der--leider frueh verstorbene--Bob Scribner das Konzept der Volksreligion kritisch weiterentwickelt. Er sieht in der Mikroperspektive der historischen Anthropologie, in der ethnologischen Beschreibung religioeser Denk- und Verhaltensformen ohne das verzerrende Prisma des "offiziellen Glaubens" (aber durchaus in Bezug auf diesen!) einen gangbaren Weg weiterer Erkenntnis.[8] So zeichnete er z.B. das Bild eines Volksglaubens, der stark an magiegetraenkten "Sakramentalien" orientiert war und einer Schaufroemmigkeit huldigte. Dieser Volksglaube bewies eine erstaunliche Resistenz gegenueber allen Versuchen der Entzauberung durch die reformatorischen Eliten und lebte auch in einer speziellen protestantischen Volkskultur fort.
Ein Vergleich der beiden zunaechst so unterschiedlich erscheinenden Konzepte "Konfessionalisierung" und "Volkskultur" zeigt, so kann man resuemieren, einige zentrale Gemeinsamkeiten. Beide relativieren deutlich die herkoemmliche Epochenzaesur der Reformation: die Konfessionalisierungstheorie durch die Betonung der Aehnlichkeiten zwischen den Bekenntnissen, die Volkskulturforschung (vor allem in der Version von Scribner) durch die Akzentuierung der Traditionalitaet religioeser Kulturen in der Fruehen Neuzeit. Beide Konzepte entspringen der Theorielandschaft der 1970er Jahre und tragen--bei durchaus unterschiedlichen Bewertungen--alle Kennzeichen einer Modernisierungstheorie. Beide sind deswegen in das Kreuzfeuer einer Kritik geraten, wobei der Kritik am Etatismus im Fall der Konfessionalisierung den Einwaenden gegen die Verdinglichung und die Romantisierung des Volkes im Fall der "popular culture" funktional entspricht. In Reaktion auf diese Kritiken wurde das Spektrum der handelnden "Subjekte" und der diesen Subjekten zur Verfuegung stehenden Handlungsoptionen deutlich erweitert. Neben die Eliten von Staat und Kirche traten auch die Gemeinden bzw. die einzelnen Glaeubigen, die obrigkeitliche Sinn- und Deutungsangebote auswaehlen, adaptieren und veraendern. Schliesslich weisen die modifizierten Varianten der beiden Konzepte ueber die Epoche der Reformation und des konfessionellen Zeitalters hinaus. Der Tod der Wallfahrt auf den Hohenpeissberg bedeutet ebenso wenig den Sieg eines saekularen Weltbildes wie das Ende einer eigenstaendigen "populaeren" religioesen Praxis. So erkennen die Historiker des 19. Jahrhunderts hier vielmehr die Signatur eines zweiten konfessionellen Zeitalters, zu dem ganz selbstverstaendlich auch neue Wallfahrtskonjunkturen gehoerten.[9]
Anmerkungen
[1]. Rebekka Habermas, Wallfahrt und Aufruhr: Zur Geschichte des Wunderglaubens in der fruehen Neuzeit (Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag, 1991), S. 131-132, 134.
[2]. Die wichtigsten Aufsaetze sind jetzt bequem greifbar in Wolfgang Reinhard, Ausgewaehlte Abhandlungen (Berlin : Duncker & Humblot, 1997); Heinz Schilling, Ausgewaehlte Abhandlungen zur europaeischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, hg. von Luise Schorn-Schuette und Olaf Moerke (Berlin: Duncker & Humblot, 2002).
[3]. Jean Delumeau, Le Catholicisme entre Luther et Voltaire (Paris: PUF, 1971).
[4]. Uwe Goppold: Rezension zu: Ehrenpreis; Lotz-Heumann. In: H-Soz-u-Kult, 18.04.2003, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-041. Johannes Suessmann: Rezension von Ehrenpreis /Lotz-Heumann in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9, 15.09.2003, URL: http://www.sehepunkte.historicum.net/2003/09/1327.html. Das Problem wird im uebrigen dadurch nicht geringer, dass im selben Verlag eine zweite Reihe "Geschichte kompakt" erscheint, die sich den Anspruch gestellt hat, Basis- und Orientierungswissen zu vermitteln. Hier wird auf Anmerkungen ebenso verzichtet wie auf die Darstellung von Forschungskontroversen. Diese planmaessige gegenseitige Isolierung von "Wissen" und "Deutung" befriedigt weder vom Standpunkt der Erkenntnistheorie noch von demjenigen der akademischen Lehre. Sie verdient entschiedenen Widerspruch! Viele gelungene Textbooks auf dem angelsaechsischen Markt legen ebenso wie die Baende der Oldenburg-Einfuehrungen in Deutschland davon Zeugnis ab, dass Rezipientenorientierung nicht auf Kosten der Wissenschaftlichkeit gehen muss.
[5] Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe (New York: New York University Press, 1978); Robert Muchembled, Culture populaire et culture des elites dans la France moderne (Paris: Flammarion, 1978). Interessant ist in diesem Zusammenhang die voellig andere--naemlich positivere--Bewertung des fruehneuzeitlichen Akkulturationsprozesses durch Robert Muchembled in seinem spaeteren Werk L'invention de l'homme moderne(Paris: Fayard, Pluriel, 1988).
[6] Richard C. Trexler, "Reverence and Profanity in the Study of Early Modern Religion," in Kaspar v. Greyerz, Religion and Society in Early Modern Europe 1500 - 1800 (London: Allen & Unwin, 1984), S. 245-269
[7] Norbert Schindler, Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der fruehen Neuzeit (Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992), S. 11-12.
[8] Robert W. Scribner, "Volksglaube und Volksfroemmigkeit. Begriffe und Historiographie," in Hansgeog Molitor/ Heribert Smolinsky (Hg.), Volksfroemmigkeit in der Fruehen Neuzeit (Muenster: Aschendorf, 1994), S. 121-138; vgl. auch weitere Beitraege in Robert W. Scribner, Religion and Culture in Germany (1400-1800), ed. Lyndal Roper (Leiden: Brill, 2001).
[9] Olaf Blaschke, Hg., Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter (Goettingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002). Bereits klassisch David Blackbourn, Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Nineteenth-Century Germany (Oxford: Oxford University Press, 1993).
If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: https://networks.h-net.org/h-german.
Citation:
Gerd Schwerhoff. Review of Ehrenpreis, Stefan; Lotz-Heumann, Ute, Reformation und konfessionelles Zeitalter.
H-German, H-Net Reviews.
April, 2005.
URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=10416
Copyright © 2005 by H-Net, all rights reserved. H-Net permits the redistribution and reprinting of this work for nonprofit, educational purposes, with full and accurate attribution to the author, web location, date of publication, originating list, and H-Net: Humanities & Social Sciences Online. For any other proposed use, contact the Reviews editorial staff at hbooks@mail.h-net.org.