Bettina Müller-Ueltzhöffer. Der 500jährige Rechtsstreit des Klosters Neresheim um die Erlangung der Reichsunmittelbarkeit: Zugleich ein Beitrag zum Rechtsgang vor den höchsten Reichsgerichten in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2003. 229 S. EUR 37.80 (gebunden), ISBN 978-3-631-51063-6.
Reviewed by Joachim Schmiedl (Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar)
Published on H-German (September, 2004)
Ein doppeltes Ziel verfolgt die vorliegende Untersuchung über einen klösterlich-landesherrlichen Rechtsstreit am Ende des Alten Reiches. Einerseits wird der Hergang und das Ergebnis der Auseinandersetzung um die Reichsunmittelbarkeit des ostschwäbischen Klosters Neresheim mit dem Haus Oettingen-Wallerstein geschildert. Andererseits werden in diese Darstellung wichtige Informationen über den Rechtsgang und die Institutionen der Rechtsprechung auf Reichsebene eingeflochten.
1095, im Jahr der Ausrufung des Ersten Kreuzzugs, wurde das Kloster Neresheim von der Grafenfamilie Hartmann und Adelheid von Dillingen und Kyburg gestiftet, ursprünglich als Chorherrenstift, doch bald in ein Benediktinerkloster umgewandelt, das eine Zeitlang als Doppelkloster fungierte. Zu den Stiftungsgütern gehörten neben dem Kloster auch einige Dörfer in der Umgebung. Die Begünstigsten der Stiftung waren der Heilige Stuhl und der Benediktinerorden, wodurch Neresheim als eine Gründung im Umkreis der Gregorianischen Reform erscheint. Bullen mehrerer Päpste von Urban II. bis Bonifaz VIII. bestätigten diese Schenkungen und die damit verbundenen Privilegien der klösterlichen Autonomie.
Die Vogtei, das heißt die Vertretung in weltlichen Geschäften, übernahm das Stiftergeschlecht, in der Bulle Urbans II. freilich eine deutlich eingeschränkte Aufgabe, deren sich die von den Mönchen zu wählenden und einzusetzenden Inhaber als "dem Ort nützlich" zu erweisen hatten. Die wichtigsten Aufgaben des Vogtes waren die Vertretung des Klosters bei Vermögenstransaktionen, der Schutz vor Feinden und die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit. Nach dem Aussterben der Stifterfamilie 1258, in der Zeit des Interregnums, ging die Vogtei auf das Bistum Augsburg über, dessen Bischof der damals noch einzige lebende Sohn, Hartmann von Dillingen, war. Doch eignete sich der benachbarte Graf Ludwig von Oettingen 1260 gewaltsam die Vogteiherrschaft über das Kloster an. Zwar erkannte ein Schiedsspruch des Regensburger Bischofs Albertus Magnus 1263 die Vogteirechte des Augsburger Bischofs an, gestand den Oettingern jedoch zu, das Kloster Neresheim als Pfand zu behalten, bis die Schulden des Augsburger Bischofs beim Oettinger Grafen beglichen seien.
Dieser Vergleich bildete für die Oettinger die Rechtsbasis über fünf Jahrhunderte hinweg. Auf dieser Grundlage konnten sie ihre Rechte über die Personen der Klosterdörfer (Hintersassen) und das Territorium weiter ausbauen, bestätigt durch Lehensbriefe der Kaiser. Ein Vertrag vor einer herzoglichen Kommission in München 1583 erkannte ausdrücklich die von den Oettingern beanspruchte Landeshoheit über Neresheim und seine Besitzungen nicht an. Das Vogteirecht wurde seinerseits vom Kloster auch nur in modifizierter Form anerkannt. Doch in detaillierten Regelungen wurden von dem Vertrag, der fast 200 Jahre Bestand hatte, die gegenseitigen finanziellen Rechte und Pflichten festgelegt. Unklar bleibt, auf welcher Grundlage die Neresheimer Prälaten nach dem Dreißigjährigen Krieg eine Ladung zu zwei Reichstagen erhielten, aber nicht persönlich daran teilnahmen.
Diese von der Autorin ausführlich präsentierten Entwicklungen bildeten das Material für einen Rechtsstreit, den die Grafen von Oettingen-Wallerstein und das Kloster Neresheim ab 1739 vor dem Reichskammergericht in Wetzlar und parallel dazu vor dem Reichshofrat in Wien ausfochten. Anlass war ein von den Grafen inkriminierter Holzverkauf des Klosters Neresheim an auswärtige Untertanen. Beide Prozesse werden von Müller-Ueltzhöffer in ihren juristischen Schritten und Argumentationsgängen behandelt als Beispiele für den Rechtsgang vor den obersten Institutionen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der Verlauf der Darlegungen ist eine Rehabilitierung dieser oft unterschätzten Institutionen und zeigt die hohe juristische Qualität und Ernsthaftigkeit, mit der Auseinandersetzungen verhandelt wurden. 25 Jahre zog sich der Rechtsstreit hin. Vor dem Reichskammergericht wurde er von Prozessbevollmächtigten beider Parteien geführt. Nachdem die auf die Klageerhebung folgende Replik und Duplik zu keinem Ergebnis geführt hatte, erging 1753 ein Zwischenurteil, das beide Parteien zur Ergänzung ihres Materials aufforderte. Daraufhin reichten die Oettinger 1755 eine sogenannte Triplik ein, die im Druck 369 Seiten umfasste und die Geschichte des Klosters aus dem Blickwinkel der Grafenfamilie darstellte. Es handelte sich dabei um einen juristischen Schriftsatz auf beachtlicher wissenschaftlicher Höhe. Ebenso kann die vom Kloster daraufhin eingerichte Quadruplik als vorbildlich bezeichnet werden, die mit 358 gedruckten Seiten und mehreren hundert handschriftlichen Seiten Beilagen dem Umfang der gegnerischen Schrift in nichts nachstand. Nachdem durch diese Schriften klar war, dass die Chancen der Oettinger schwanden, kam es zu Vergleichsbemühungen. An deren Ende stand 1764 der Verzicht der Oettinger Grafen auf ihre Vogteirechte und die Entlassung des Klosters Neresheim in die Reichsunmittelbarkeit. Auf der anderen Seite hatte das Kloster diesen Sieg teuer zu bezahlen. Finanzielle Entschädigungen beliefen sich auf etwa 200.000 fl. Die Vehandlungen vor dem Reichshofrat führten zu dem Ergebnis, dass sich nach weiteren finanziellen Zugeständnissen des Klosters auch die Nebenlinien der Oettingen-Wallersteiner mit dem Vertrag einverstanden erklärten und das Kloster in das Reichsprälatenkollegium und die Kreisversammlung des Schwäbischen Kreises aufgenommen werden konnte. Lange konnten sich die Mönche ihrer Reichsunmittelbarkeit jedoch nicht erfreuen, da knapp vierzig Jahre später mit der Besitzergreifung des Klosters durch die Fürsten von Thurn und Taxis auf der Grundlage des Reichsdeputationshauptschlusses und der Aufhebung des Klosters das (vorläufige) Ende einer 700jährigen Geschichte gekommen war.
Bettina Müller-Ueltzhöffer gelingt es, nicht nur eine Fallstudie zu einem langen Rechtsstreit zu schreiben. Vielmehr zeigt sie eindrucksvoll die Arbeitsweise von Reichskammergericht und Reichshofrat auf. Die Funktionsträger beider Institutionen zeichneten sich durch hohe juristische Qualifikationen aus. Die lange Dauer der Verhandlungen und der Umfang der dabei produzierten Anklage- und Verteidigungsschriften zeigt, dass die Urteile nicht leichtfertig gefällt wurden, sondern unter sorgfältiger Abwägung der vorgebrachten Argumentationen. Durch die in die Präsentation des Rechtsstreits eingeflochtenen Informationen über die Reichsinstitutionen bekommt der Leser einen detaillierten Einblick in Personal und Funktionsweise der beteiligten Gerichte und des Zusammenspiels von oberster Reichsbehörde, Reichsgerichten und landesherrlichen Ansprüchen und Erwartungen. Die fortschreitende Erschließung der Akten wird sicher zur weiteren exemplarischen Aufarbeitung ähnlicher Fälle führen.
Auffallend ist, welchen hohen Preis das Kloster für die Erlangung der Reichsunmittelbarkeit zu zahlen bereit war. Dass es dazu fähig war, wird noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass zur selben Zeit die prächtige Abteikirche nach den Plänen von Balthasar Neumann entstand, die 1795 fertiggestellt wurde. Die rechtliche Freiheit des Klosters muss wohl auf dem Hintergrund zunehmender Bedeutung der Zwischeninstanzen gesehen werden, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Stellenwert der Reichsunmittelbarkeit wachsen ließ. Dass diese Freiheit aber nur wenige Jahrzehnte später das Kloster, wie viele andere Institutionen auch, nicht vor der erneuten Mediatisierung schützen konnte, gehört zu den für die Betroffenen tragischen und aus der Perspektive der Zeitgenossen nicht voraussehbaren Entwicklungen.
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Joachim Schmiedl. Review of Müller-Ueltzhöffer, Bettina, Der 500jährige Rechtsstreit des Klosters Neresheim um die Erlangung der Reichsunmittelbarkeit: Zugleich ein Beitrag zum Rechtsgang vor den höchsten Reichsgerichten in der Mitte des 18. Jahrhunderts.
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