Philippe Poirrier. Les collectivitÖ©s locales et la culture. Les formes de l' institutionnalisation, XIXe-XXe siÖ¨cles. Paris: La documentation franÖ§aise, 2002. 432 S. EUR 21.00 (broschiert), ISBN 978-2-11-005086-1.
Reviewed by Thomas Höpel (Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig)
Published on H-Museum (February, 2004)
Seit Mitte der 1980er Jahre hat in Frankreich die Beschäftigung mit der Kulturpolitik in historischer Perspektive stetig zugenommen. Pascal Ory konnte im Vorwort seiner 1994 veröffentlichten, richtungweisenden Arbeit zur Kulturpolitik der französischen Volksfront bereits unterstreichen, man könne nunmehr in Frankreich von einer etablierten Forschungsrichtung über die Geschichte der Kulturpolitik reden, die der Forschung in den anderen Ländern weit vorausgeeilt wäre. Auf Orys Arbeit als Referenzpunkt verweisen verschiedene nachfolgende Arbeiten, wobei insbesondere nach den Auswirkungen der staatlichen auf die städtische Kulturpolitik bzw. nach den Wechselwirkungen beider gefragt wurde. Eine ganze Reihe von Monographien und Sammelbänden sind seitdem entstanden. Regen Anteil daran hatte gerade der Comité d'histoire du ministère de la Culture unter Augustin Girard und die im Rahmen des Comité im Jahr 1996 gebildete Gruppe, die zu den "politiques culturelles locales" arbeitet. Der vorliegende Band zeugt davon, wie weit die Diskussion in den vergangenen Jahren bereits vorangeschritten und wie breit das Forschungsfeld inzwischen geworden ist. Er fasst die Ergebnisse einer Arbeitstagung zusammen, die vom Comité d'histoire du ministère de la Culture organisiert worden ist und illustriert zugleich ein weiteres Merkmal des Forschungsfeldes in Frankreich: Das Überschreiten disziplinärer Grenzen, verbunden mit einem disziplinübergreifenden Austausch über Methoden, Problematisierungen und Begriffe. Die einzelnen Texte des Bandes stammen daher von Politikwissenschaftlern, Musikwissenschaftlern, Soziologen und Historikern.
Der Band gliedert sich in vier große Teile, die das Theater, die Fest- und Erinnerungskultur, die Museen und die Musik thematisieren. Jeder Hauptteil wird durch eine eigene Einführung eingeleitet. Die Beiträge fragen nach Institutionalisierungsbestrebungen städtischer Kulturpolitik vom 19. zum 20. Jahrhundert, wobei, wie Philippe Poirrier in der Einleitung betont, den Professionalisierungsprozessen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auf diese Weise lässt sich zugleich sehr gut die Wechselwirkung von staatlicher und städtischer Kulturpolitik sowie von lokalen und nationalen Bestrebungen auf diesem Feld thematisieren.
Dieser grundlegenden Struktur des Bandes werden die einzelnen Abschnitte allerdings unterschiedlich gut gerecht. Besonders stringent ist dabei der Abschnitt, der sich der Entwicklung der Museen in Frankreich widmet und dabei vor allem auf die Professionalisierung der Museumskonservatoren abhebt. Dominique Poulot diskutiert zuerst die Entstehung des Konservators während der Französischen Revolution im Zuge der Debatte um Erhalt und Zerstörung des kulturellen Erbes. Gerade die massenhafte Enteignung der Kirchen- und später der Emigrantengüter und die Frage nach ihrer Einbindung in das nationale Erbe ist Ausgangspunkt für die Entstehung einer Berufsgruppe, die ihre Legitimität sowohl aus politischen als auch aus ästhetischen Anforderungen zog und sich damit zugleich in einer schwierigen Situation zwischen den Forderungen der Revolutionäre und denen der Kunsthändler und Kunstkenner sah. Chantal Georgel stellt im zweiten Beitrag dieses Teils Ergebnisse einer prosopographischen Untersuchung vor, die sich mit den Konservatoren des 19. Jahrhunderts befasst. Dabei steht die Frage im Hintergrund, wie es zum für das 19. Jahrhundert so markanten stereotypen Bild des Konservators als eines von der Welt abgekehrten, ehrenamtlich tätigen Mannes, der meist aus den privilegierten Kreisen stammt und eher konservativ-reaktionären Ansichten folgt, gekommen ist. Georgel macht deutlich, dass die nicht klar bestimmte Rolle des Museums in der Gesellschaft und das unklare Berufsbild des Konservators zu einem guten Teil dafür verantwortlich waren. Wenn das stereotype Bild auch gerade für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Berechtigung besitzt, so gilt es doch gerade für die großen Museen außerhalb von Paris nicht. Entscheidend für das 19. Jahrhundert ist hingegen die Abhängigkeit des Konservators von der jeweiligen Stadtverwaltung, die erst in der Dritten Republik allmählich in Frage gestellt wurde, weil die Republikaner die Museen stärker für die nationale Sinnstiftung einsetzen wollten. Loïc Vadelorge schließt daran an und betrachtet die Professionalisierung der Konservatoren in der Zwischenkriegszeit. Vadelorge zeigt, dass es nur zu einer partiellen Professionalisierung kommt, die vor allem die Konservatoren der großen Kunstmuseen in und außerhalb von Paris betrifft und die auf einer eigenen Berufsorganisation, einer spezifischen Ausbildung an der École du Louvre, neuen Praktiken der Inventarisierung und Präsentation beruht, die vor allem die Auffassung der Pariser Museologen widerspiegeln. Kleine Kunstmuseen und besonders Gesellschaftsmuseen werden allerdings hiervon dauerhaft ausgespart und in die zweite Reihe verbannt. Dieser Prozess beruht zugleich auf einem dauerhaften Kompromiss zwischen Städten und Staat, der die Nationalisierung des kulturellen Lebens in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbereitet. Die großen Städte begreifen die Modernisierung der Museen als eine Möglichkeit, die Attraktivität der Städte vor allem im touristischen Bereich zu stärken und akzeptieren eine stärkere staatliche Reglementierung. Sylvie Octobre wendet sich dann abschließend der Entwicklung des Berufs des Konservators nach 1945 zu. Sie zeigt den tiefgreifenden Wandel, der sich seit 1945 vollzogen hat und der sich in einer Zunahme der beruflichen Mobilität, in einer Erweiterung der wissenschaftlichen Qualifikation um Verwaltungs- und Managementkompetenzen offenbart. Die dabei angestrebte Homogenisierung und Standardisierung des Berufes mit klar definierten Ausbildungsgängen, Abschlüssen etc. steht allerdings im Widerspruch zur Breite der verschiedenen Museumsarten, vom Kunstmuseum, über das naturkundliche Museum zum Geschichtsmuseum, und zur Größe der unterschiedlichen Museen und ihrer jeweiligen Anbindung an den Staat bzw. an territoriale oder lokale Gewalten.
Der Teil, der sich dem Theater widmet, beschränkt sich im Gegensatz zu den anderen drei Teilen auf die Entwicklung nach 1945. Er nimmt vor allem das Wechselspiel zwischen lokalen und regionalen Instanzen und dem Staat im Zuge der Dezentralisierungsanstrengungen und den daraus hervorgegangenen neuen institutionellen Strukturen im Theaterbereich in den Blick. Pascale Goetschel betrachtet dabei das 1946 im Elsass geschaffene Centre Dramatique de l'Est, das zwar auf Initiative der Städte Mulhouse, Colmar und Strasbourg entstand, das der Staat aber zugleich intensiv finanziell förderte und als Vorbild für weitere derartige Unternehmen in anderen Landesteilen verstand. Serge Reneau betrachtet am Beispiel des Kulturhauses von Le Havre die kulturelle Zusammenarbeit und die konfligierenden Ansätze von Stadt und Staat. Die Verschränkung von kulturellen Innovationen und politischen Gegensätzen wird von Serge Proust am Beispiel des Festivals von Avignon untersucht. Alice Blondel stellt das Ineinandergreifen von staatlicher und städtischer Kulturpolitik anhand der Centres dramatiques nationaux (CDN) und der Scénes nationales dar, die eine zentrale Stellung in der aktuellen französischen Theaterpolitik einnehmen. Während der Staat mit den CDN vor allem auf eine künstlerisch hochwertige kreative Theaterlandschaft in der Provinz zielt, streben die lokalen Akteure mit dem Theater vor allem lokale Identifikationsstiftung und breite Akzeptanz beim Publikum an. Diese unterschiedlichen Interessen und auch der begrenzte Interventionsspielraum in die künstlerische Leitung stärken die Position der jeweiligen Direktoren, die großen Handlungsspielraum besitzen.
Der Abschnitt, der sich der Feier- und Erinnerungskultur zuwendet, fasst drei Aufsätze zusammen, die die Verknüpfung von kulturellen Inszenierungen mit politischen Zielsetzungen behandeln. Olivier Ihl macht das an der Praxis der Straßenbenennung insbesondere im 19. Jahrhundert, Christophe Dubois an der politischen Instrumentalisierung eines katholischen Festes in Lyon und Patrick Garcia anhand der Feiern zum zweihundersten Jahrestag der Französischen Revolution in den französischen Provinzstädten deutlich. Allerdings wird auch die unterschiedliche Wertigkeit und damit Haltbarkeit bestimmter Traditionsbestände deutlich: Während die Französische Revolution nämlich auch 200 Jahre danach noch das politische Lager polarisiert, was an der unterschiedlichen Höhe der Subventionen für die Feierlichkeiten zum bicentenaire deutlich wird, die von rechten bzw. linken Departementsverwaltungen bewilligt werden, gerät die antirepublikanische Ausrichtung des ursprünglich katholischen Lyoner Festes nach 1945 in Vergessenheit. Das Fest wird erst zu einem kommerziellen Ereignis und schließlich sogar Teil einer städtischen Imagekampagne. Lässt das schon den allgemeinen Schluss zu, dass sich politische Konflikte zugunsten von Identifikationsbedürfnissen allmählich auflösen, wie dies Jean-Clément Martin in seiner Einleitung zu diesem Abschnitt andeutet?
Der vierte Teil des Bandes wendet sich schließlich kulturpolitischen Bestrebungen auf dem Feld der Musik, insbesondere der populären Musik, zu. Der Beitrag von Pascale Ammar-Khodja, Frédéric Joly und Emmanuel Négrier fällt hier ein wenig aus dem Rahmen, da er sich mit dem Festival von Radio France in Montpellier befasst, das sich vor allem klassischer Musik zuwendet. Aber auch in diesem Beitrag werden das Wechselspiel von nationalen und regionalen/lokalen kulturpolitischen Akteuren sowie Institutionalisierungsprozesse, in diesem Falle am Beispiel eines renommierten Festivals, behandelt. Philippe Gumplowicz behandelt die Entwicklung von Gesangvereinen und populären Musikgesellschaften in den französischen Städten des 19. Jahrhunderts. Anfangs vor allem privater Initiative entspringend wurden sie seit der Dritten Republik auch von den Stadtverwaltungen gefördert, die sich im Rahmen des Hygienediskurses von Musikerziehung läuternde, volkserzieherische Wirkungen versprachen, welche die städtischen Unterschichten von Müßiggang und Alkohol abhalten sollten. Zugleich spielten republikanische Gleichheitsmaximen eine Rolle, wurde der Zugang zu Musik für alle als Akt sozialer Gerechtigkeit gesehen. Populäre Musik als Integrations- und Demokratisierungsfaktor spielte auch für die Förderung populärer Musik seit den 1980er Jahren eine gewisse Rolle. Auslöser für eine verstärkte Förderung auf lokaler Ebene war dabei die neue Kulturpolitik Jack Langs, die das kulturpolitische Feld von der Hochkultur auch auf Bereiche wie Rock, Techno oder Rap ausweitete. Philippe Teillet zeigt, wie in den Städten auf diese symbolische Öffnung des Kulturpolitikfeldes reagiert wurde, welche Ziele damit verfolgt und welche Konsequenzen dies hatte. Sophie Patrice veranschaulicht die generellen Aussagen Teillets am Beispiel einer im Jahr 1989 in Lille eröffneten Konzertstätte, dem Aéronef, die vor allem der Veranstaltung von Rockkonzerten diente und die zu 50% mit öffentlichen Mitteln finanziert wurde. In beiden Beiträgen wird das Zusammenspiel von städtischer und staatlicher Kulturpolitik deutlich, die mit diesen Projekten sowohl soziale Ziele, insbesondere die Integration der benachteiligten Jugend in urbanen Konfliktzonen, als auch ökonomische Ziele, vor allem die Erhöhung der Attraktivität der Städte im interstädtischen Wettbewerb, verfolgen.
Der Gesamteindruck des Bandes ist überwiegend positiv. Ein breites Spektrum an Themen wird behandelt, allerdings wäre eine stärkere Integration der einzelnen Teile, die gerade beim Abschnitt zum Museum gelungen ist, wünschenswert gewesen. Allerdings versteht sich der Band, wie Vincent Dubois in seinem Nachwort unterstreicht, vor allem als eine Anregung für weitere Arbeiten. Er weist so darauf hin, dass eine stärkere Orientierung auf die Akzeptanz der konzipierten Kulturpolitik bei den Empfängern, beim Publikum nötig scheint. Zugleich sieht er als Problem die alleinige Fokussierung auf den französischen Fall, was die von offizieller Seite vorgebrachte These von der "Exception française" allzu leicht ungefragt akzeptiert. Eine vergleichende Betrachtung würde aber gestatten, bestimmte im nationalen Fall erkannte Innovationen und Prozesse in einen größeren Rahmen zu stellen und deren Auslöser und Logik besser zu verstehen. Gerade auf dem Felde der Kulturpolitik haben die Städte schon relativ früh begonnen, sich über Entwicklungen und spezifische Lösungsversuche in anderen Städten, und zwar im nationalen wie internationalen Rahmen, auszutauschen und zu informieren.
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Citation:
Thomas Höpel. Review of Poirrier, Philippe, Les collectivitÖ©s locales et la culture. Les formes de l' institutionnalisation, XIXe-XXe siÖ¨cles.
H-Museum, H-Net Reviews.
February, 2004.
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