Uwe Christian Dech. Sehenlernen im Museum. Ein Konzept zur Wahrnehmung und PrÖ¤sentation von Exponaten. Bielefeld: Transcript Verlag, 2003. 176 S. EUR 19.80 (kartoniert), ISBN 978-3-89942-132-3.
Reviewed by Antje Nagel (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf)
Published on H-Museum (February, 2004)
Wie muss eine kulturhistorische Ausstellung konzipiert sein, damit deren "Konsumenten" dazu animiert werden genau "hinzuschauen" und nicht mehr achtlos an den historischen Exponaten vorbeigehen, um dann aber mit größter Aufmerksamkeit alle Ausstellungstexte zu lesen? Oder sich intensivst mit den dargebotenen "Neuen Medien" zu beschäftigen? Wie bringe ich jemanden dazu, seine alltäglichen Gewohnheiten im Museum ein Stück weit abzulegen und erreiche, dass er sich genüsslich auf die zu betrachtenden historischen Gegenstände einlässt?
Die Beantwortung dieser Frage--oder zumindest eine Auseinandersetzung mit ihr--hatte die Rezensentin erwartet. Eine Auseinandersetzung mit den theoretischen und praktischen Ansätzen des Ausstellungswesens--vor allem mit denen von Gottfried Korff--schwebte mir vor. Auf die Idee, dass es sich bei dem Buch um ein rein pädagogisches Konzept handeln könnte, bin ich als Nicht-Pädagogin nicht gekommen. Doch das von Dech beschriebene "Verfahren" zum "Sehenlernen im Museum" ist ein ebensolches. Es wird gespeist durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansätzen zum Sehen und Lernen: Das Auge, so der Autor, liefere dem Menschen von allen Sinnen die größte Datenmenge über die Umwelt. Der kritische Blick aber sei eine Verbindung zwischen Sehen und Denken. Sehen sei ein physiologischer Vorgang und ein Akt der Erkenntnis, sei Wahrnehmen und Urteilen. Sehenlernen in seinem Sinne ist deshalb als die Schärfung des kritischen Blickes zu verstehen. So ist "Sehenlernen = Denkenlernen = Sehenlernen..." (S. 41).
Zusätzlich sichere und vertiefe das eigene Tun Lernen wesentlich, deshalb sei eine Eigenaktivität des Museumsbesuchers unabdingbar. Denn das Wissen muss sich vom Menschen--im wahrsten Sinne des Wortes--angeeignet werden. So verstanden, ist Lernen ein Prozess und das Museum kann als eine entsprechend "ressourcenreiche Lernumgebung" verstanden werden. Zusätzlich bedarf es jedoch des Übertragens des Gesehenen in das Alltägliche. Der Besucher, so der Autor, muss demnach eine Beziehung herstellen zwischen den musealen Ausstellungsobjekten und den Gegenständen seiner Lebenswelt, wenn etwas gelernt werden soll. Hinter all den Bemühungen um das intensivere "Sehen" der Besucher im Museum steht für den Autor letztlich die Frage der Existenz der Institution Museum selbst: Wie können Besucherbedürfnisse befriedigt werden, wie die Bedürfnisse der Erlebnisgesellschaft mit den musealen Ansprüchen von Bildung und Bewahrung der Objekte in Einklang gebracht werden. Denn nur dann hat das Museum in Zukunft Besucher und damit überhaupt eine Zukunft.
Dech lässt die Art und Weise, wie eine Ausstellung gemacht ist, ihre "Komposition", vollständig außer acht. Das im Folgenden näher skizzierte pädagogische "Verfahren" des Autors kann auf jedes beliebige Exponat in jeder beliebigen Ausstellung angewendet werden. Ergebnis des Ansatzes "Sehenlernen im Museum" ist nämlich bizarrer Weise ein Audioführer, der durch gezielte Fragen dazu anleiten soll, in der Ausstellung reflektierter hinzusehen: Der Besucher erhält an der Museumskasse einen CD-Spieler mit Kopfhörer und eine CD für den Weg durch die Ausstellung. Auf der CD befinden sich zu 15 ausgewählten Exponaten Kurzinformationen, sowie 18 gleichlautende Fragen an die Exponate. Letztere sollen immer wieder für jedes betrachtete Exponat gehört und dann für sich selbst beantwortet werden. Es handelt sich hierbei vielfach um selbstreflexive Fragen wie z.B. "Welche Frage oder welche Fragen stellen sich Ihnen beim ersten Betrachten des Exponats?" (Frage 1, S.149) oder "Welches Volumen hat das Exponat im Verhältnis zu dem Ihres Körpers?" (Frage 3, S. 150). Nach dem Fragenkomplex zum Exponat kann anschließend ein etwa vierminütiger Informationstext zu jedem Objekt abgerufen werden. Sollten sich aus der intensiven Auseinandersetzung mit den Exponaten Fragen ergeben, sollen diese auf einem dafür vorgesehenen Blatt im Museum abgegeben werden können. Das Museum würde sich dann bemühen, diese zu beantworten.
Der zweite Teil des Buches besteht aus der Schilderung des praktischen Anwendungsversuches. Dech protokolliert die Ergebnisse seines Fragekatalogs, den er an fünf Probanden aus seinem Freundeskreis getestet hat. Diese haben gemeinsam mit ihm vor dem jeweiligen Exponat die Fragen beantwortet. Dabei kamen überraschend interessante Beobachtungen und Assoziationen heraus, deren Schilderungen im Rahmen der Rezension zu weit führen würden. Methodisch stellt sich jedoch die Frage, ob nicht die Ergebnisse des Experiments durch die gemeinsame Beantwortung der Fragen verfälscht wurden. Wie fühlt sich ein "normaler" Besucher, dem ein solcher Austausch bei der Beantwortung seiner Fragen fehlt? Gerade weil die Fragen des vom Autor erstellten Fragenkatalogs aus der--sagen wir es umgangssprachlich, "Psychoecke" kommen--weiß man durch eine derartige Verfälschung der Testsituation nicht, wie groß eventuelle Widerstände bei den Besuchern sein werden. Denn schon des Autors befragte Freunde reagierten bei einigen Fragen ein wenig ratlos und unwirsch.
Insgesamt benötigt jedes Exponat eine Beschäftigungszeit von circa 15-20 Minuten. Bei 15 Objekten die sich der Besucher genauer ansehen soll, ergibt sich dadurch inklusive der Vor- und Nachinformation insgesamt ein knapp fünf Stunden umfassender Museumsbesuch. Aber stumpft nicht jeder ab, wenn man sich selbst 270 Fragen während eines Museumsbesuches beantworten soll? Macht das noch Spaß? Letztendlich steht es natürlich jedem frei, die Anzahl der Exponate zu begrenzen und sich nur mit dreien oder auch nur mit fünfen zu beschäftigen.
Die hinter allem stehende Frage nach der Besucherbefriedigung im Museum, das von Dech entwickelte Konzept und die Fragen sind schlüssig und interessant. Den daraus hervorgehenden Umsetzungsvorschlag halte ich jedoch für praxisfern. Ich würde mir wünschen, dass einige der von Dech entwickelten Fragen an die Exponate durch die Ausstellungen selbst in den Besuchern hervorgerufen würden. Denn ich glaube nicht, dass es keinerlei Bedeutung hat, wie eine Ausstellung konzipiert ist. Komponierte Bilder, inhaltliche Verknüpfungen, Gestaltungsansätze oder gar gestalterische "Mittel der Entschleunigung" wie sie beispielsweise Peter Greenaway in der Groninger Ausstellung über das Mittelalter verwendet hat[1]--in der beispielsweise im Eingangsraum das Licht abwechselnd an- und ausging, so dass nur eine bestimmte Zeit verblieb, das Objekt in der Vitrine zu betrachten, oder man gespannt auf das "nächste Mal Licht" warten musste--sind Mittel zum "Sehenlernen" im Museum. Die von Uwe Christian Dech entwickelten Fragestellungen könnten bei der Konzeption von Ausstellungen hilfreich sein, zum Beispiel Frage 6: "Wie wäre dieser Gegenstand bewegt oder belebt vorzustellen?" oder Frage 14: "Wenn Sie dieses Exponat betrachten--gibt es ähnliche Objekte, die Sie mit ihm assoziieren?" (S. 150). So könnten z.B. ungewohnt erfrischende Assoziationsketten die Besucher stutzig machen und eine Verbindung zwischen ihnen und dem Exponat im Museum entstehen lassen. So ist das Buch von Dech "Sehenlernen im Museum" anregend, bleibt aber meines Erachtens in der pädagogisch-auditiven Umsetzung stecken. Denn könnte nicht das Museum eines der letzten Reservate ohne Dauergeräuschkulisse sein! Und sind nicht die meisten Audioguides eher behindernd für das so schöne ziellose, planlose, neugierige, selbstbestimmte "Sehen" im Museum, indem sie schlichtweg Aufmerksamkeit absorbieren und textliches Wissen vor das Sehen schieben?
Anmerkung
[1]. Hel en Hemmel. De Middeleeuwen in het Noorden (Hölle und Himmel. Das Mittelalter im Norden), Groninger Museum, 14. April - 2. September 2001 http://www.groninger-museum.nl/
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Antje Nagel. Review of Dech, Uwe Christian, Sehenlernen im Museum. Ein Konzept zur Wahrnehmung und PrÖ¤sentation von Exponaten.
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