Martina Winkler. Karel Kramar (1860-1937). Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und ModernisierungsverstÖ¤ndnis eines tschechischen Politikers. MÖ¼nchen: R. Oldenbourg Verlag, 2002. 413 S. EUR 49,00 (gebunden), ISBN 978-3-486-56620-8.
Reviewed by Peter Haslinger (Collegium Carolinum München)
Published on HABSBURG (March, 2003)
Historische Persoenlichkeiten zwischen Biographie, Werk- und Diskursanalyse
Historische Persoenlichkeiten zwischen Biographie, Werk- und Diskursanalyse
Auf den Politiker Karel Kramar trifft sicher der Begriff "schillernd^Ó zu: Während des Weltkriegs wegen Hochverrats zunächst zum Tode verurteilt und später amnestiert, wurde er als führende Persönlichkeit der tschechischen Nationaldemokraten der erste Ministerpräsident der Tschechoslowakei, konnte sich im politischen Leben des jungen Staates jedoch nicht behaupten und spielte nach seinem Ausscheiden aus dem Amt 1919 nur mehr eine marginale Rolle. Das Thema, das Martina Winkler in ihrer Dissertation behandelt, ist daher kein einfaches: Die Biographie eines Politikers zu verfassen, der eine immer sichtbare, doch nur schwer zu fassende Rolle spielte und sich trotz seiner Marginalisierungserfahrung nur zu einem Teil radikalisierte. Bislang wurden die Gründe für Kramars Misserfolg weitgehend personalisiert - vor allem unter Verweis auf seinen Gegenspieler, Präsident T. G. Masaryk. Ob dieses Scheitern allerdings in der Person von Kramar selbst oder vielmehr in allgemeinen historischen Entwicklungen begründet lag, dieser Frage widmet sich Martina Winkler.
Angesichts der Konjunktur, die Lebensbilder von Politikern in der tschechischen Historiographie in den 1990er Jahren aufwiesen, verbalisiert die Autorin auch ein Abgrenzungsbedürfnis dem Genre traditionell gearbeiteter Biographien gegenüber. Winkler geht es in ihrer Arbeit in erster Linie um die Entwicklung des Denkens von Kramar, das sie als typisch, wenn auch keineswegs als bestimmend für den tschechisch-nationalen Diskurs veranschlagt, "in seinen Ideen werden die Einflüsse der unterschiedlichsten Diskurse und verschiedener Entwicklungsphasen erkennbar^Ó (S. 11). Weder die Biographie noch die politische Tätigkeit von Karel Kramar bilden die Kernbereiche der Arbeit, sondern über weite Strecken dessen publizistisches Wirken und die Korrespondenz aus seinem umfangreichen Nachlass.
Winkler wählt für die Nachzeichnung der konzeptionellen Entwicklung im Denken Kramars ein Stufenmodell, dem eine Bündelung zentraler Motive zugrunde liegt. Vier Großkapitel behandeln Karel Kramars Verhältnis zur tschechischen Nation, zu anderen europäischen Nationen, zur Frage der Demokratie und zu Moderne und Tradition. Zwei Zwischenkapitel versuchen, "Generationserlebnisse, die auch Kramar teilte^Ó, als chronologisches Strukturelement einzufügen (die Jahrhundertwende und der Erste Weltkrieg).
Zunächst wird die Entwicklung des tschechischen nationalen Diskurses in Anlehnung an Miroslav Hrochs Phasenmodell, das weitere Teile der Arbeit begleitet, nachgezeichnet. Auf der Grundlage einer Analyse der Verwendung zentraler Begriffe (Nation, Volk, Rasse und Stamm) bilanziert Winkler, dass die begriffliche Reflexion bei Kramar nur sehr begrenzt gewesen sei und er keine allgemein gültige Definition von Nation entwickelt hätte. Kramar hielt sich aus intellektuellen Debatten wie um den "Sinn der tschechischen Geschichte^Ó weitgehend heraus - so stand er im Handschriftenstreit zwar auf die Seite der Wissenschaft, ohne jedoch, wie Masaryk, einen kompromisslosen Kampf aufzunehmen.
Eines der Hauptthemen Winklers stellt Kramars Positionierung zwischen Ost und West dar, die auch mit einigen biographischen Hinweisen illustriert wird. Kramar sei von den Grobkategorien "Ost^Ó und "West^Ó ausgegangen, habe jedoch den "Osten^Ó als slavische Gemeinschaft mit Russland "als Orientierungspunkt, als Sinnstifter und Idealbild^Ó (S. 267) wahrgenommen - beeindruckt zeigte sich Kramar z. B. von einem Besuch bei Lev Tolstoj 1890, den Winkler kurz schildert, oder von den Werken Dostojevskijs. In der Atmosphäre des Fin de siecle diente Russland für Kramar als Anknüpfungspunkt zur Entwicklung kulturpessimistisch motivierter Alternativen zum bürgerlichem Westen - eine Verkörperung seiner Russophilie fand Kramar, wie Winkler öfters festhält, immer wieder in seiner russischen Frau Nadezda. Dieses positive Russlandbild trat zwar aufgrund der Ereignisse 1905 etwas zurück, findet sich jedoch in den Überlegungen Kramars zu Verfassungsprojekten aus den Jahren 1919 und 1914 wieder, etwa in der oft zitierten Konzeption eines slavischen Großreiches unter Einschluss der "Zarenreiche^Ó Polen und Böhmen.
Die Westanbindung der Tschechoslowakei wurde von Kramar nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen, aber immer mehr problematisiert. Kramars Bild vom "Westen^Ó, den er vor der Jahrhundertwende allgemein als "oberflächlich, emotionslos und ohne Mitgefühl^Ó bezeichnete (S. 158), hatte sich inzwischen differenziert. Im Kapitel "Karel Kramar als Vertreter des Bürgertums^Ó reflektiert Winkler dessen großbürgerlichen Lebensstil, der durchaus in Orientierung auf westeuropäische Vorbilder erfolgte. Frankreich symbolisierte gerade nach 1919 - in seiner Gegnerschaft zu Deutschland - für Kramar die positivste westliche Nation, während er Großbritannien lange Zeit durchaus distanzierter wahrnahm, vor allem aufgrund der konzilianteren Haltung Großbritanniens gegenüber Deutschland und wegen der Anglophilie des Kreises um Masaryk.
Deutschland verkörperte in Kramars Denken den Westen in seiner negativsten Form und stellte durch seine oberflächliche Zivilisierung den eigentlichen Widerpart zu Russland dar. Seine Einstellung gegenüber Deutschland, "Nachbar und Dämon^Ó (S. 245), erklärt Martina Winkler mit den Jugenderfahrungen Kramars im nordböhmischen Issertal und seine Sozialisierung in den deutsch-böhmischen Konflikt, der die Deutschen als herrschsüchtig, kalt und gefühllos erscheinen ließ; aus einem gewissen Respekt für die deutsche Kultur folgerte Kramar die Notwendigkeit eines tschechischen Einholens. Ebenso negativ blieb Kramars Einstellung gegenüber den Juden, die er vor allem in einer direkten Verschränkung mit den Deutschen wahrnahm. Sein Antisemitismus, der bereits früh entwickelt war, findet sich jedoch vor allem in der privaten Korrespondenz.
In einem weiteren Abschnitt widmet sich Winkler Kramars Verhältnis zum Staat, wobei sie konstatiert, "Kramar war ein leidenschaftlicher Staatsmann, aber ein nur sehr widerwilliger Staatstheoretiker^Ó (S. 103). Bei der Beschreibung seiner Positionen zum böhmischen Staatsrecht verweist Winkler auf Kramars durchwegs konstruktives Verhältnis der Habsburgermonarchie gegenüber, "nicht das böhmische Staatsrecht stand also im Widerspruch zum Projekt Österreich, sondern der theresianische Zentralismus^Ó (S. 108). In diesem Zusammenhang wertet Winkler martialische Aussagen Kramars aus dem Jahr 1914 von einem Kampf zwischen Germanen- und Slawentum keineswegs als jenen tiefen Einschnitt, der das endgültige Abrücken Kramars von der Habsburgermonarchie verdeutlicht hätte.
Obwohl Kramar die Demokratie 1918 begrüßt hatte, wandelte er sich rasch zu ihrem Kritiker. Demokratie bedeutete für ihn dabei "eine besondere, erstrebenswerte Form politischer Kultur, eine positive Art des Umgangs miteinander^Ó (S. 295), wobei Winkler die immer geäußerte Vermutung, Kramar sei ein kompromissloser Monarchist gewesen, auf das reelle Maß zurückschraubt: Seine Loyalität der Person Franz Josephs gegenüber habe Kramar mit einer Distanzierung gegenüber den Habsburgern durchaus verbunden. Bei Kriegsende habe er sich in der Frage nach Republik oder Monarchie als Pragmatiker erwiesen, der die beste Regierungsform angestrebt hätte.
Kramar habe auch auf einem parlamentarischen System bestanden und Wahlen zur Legitimierung der Regierung für notwendig gehalten. Dabei ging er von Gemeinwohlvorstellungen aus und wandte sich gegen den dominierenden Einfluss der politischen Parteien - deren bestimmenden Ausschuss, die petka, kritisierte Kramar, wenn auch nicht aus formalen Gründen. Er war am Idealbild einer adels- und proletariatsfernen Elite orientiert, die den Anspruch des gebildeten Bürgertums auf Vormachtstellung unterstrich, und hielt in diesem Zusammenhang das allgemeine Wahlrecht für problematisch, da dadurch wenig gebildete Schichten und mit ihnen die Sozialdemokraten einen unerwünschten Einfluss auf die Staatsgeschäfte ausübten.
Bei der Analyse von Kramars Position in der sozialen Frage verweist Winkler mehrfach auf den Einfluss des Berliner Ökonomen Adolph Wagner, bei dem Kramar studiert hatte und wodurch er einen bürgerlichen Kapitalismus, repräsentiert durch ein aktives Unternehmertum, mit sozialem Problembewusstsein und der Befürwortung eines aktiv auftretenden Staates zu verbinden gelernt hatte - Ziel war immer das Prosperieren der "kleinen Nation^Ó im zwischennationalen Konkurrenzkampf. Der Einzelne wurde von Kramar als natürlicher Bestandteil der Nation angesehen - dementsprechend hatten sich Klasseninteressen dem Dienst an der Nation unterzuordnen.
Nach der Staatsgründung verfocht Kramar die Konzeption von der Tschechoslowakei als einem tschechischen Nationalstaat und lehnte die Erweiterung der Nation etwa um die Deutschen in den böhmischen Ländern durch einen staatsbürgerlichen Nationsbegriff strikt ab. In einem eigenen Abschnitt beschäftigt sich Winkler ausführlicher mit Kramars Sympathien für die faschistischen Bewegungen, die er auch als "neuen Nationalismus^Ó bezeichnete. Trotz aller Bedenken gegenüber ihren tschechischen Repräsentanten sah Kramar darin einen Anlauf zu einer stringenten Zusammenfassung der Bevölkerung in der Nation und damit als Ausweg aus der bürgerlichen Desorientierung -auch seiner antiwestlichen wie auch antisozialistischen Richtung wegen. Dennoch sei Kramar, so Winkler, keineswegs als Faschist oder uneingeschränkter Bewunderer der Bewegung zu bezeichnen; er war bereits zu etabliert und im Lebensalter zu weit fortgeschritten, um deren Radikalismus viel abgewinnen zu können.
In ihrem letzten Kapitel untersucht Winkler das Verhältnis von Kramar der Moderne gegenüber, die er keineswegs gänzlich ablehnte, sondern trotz einer gewissen Technikfeindlichkeit in beschränktem Maße als Chance begriff. Dabei lehnte er verschiedene Erscheinungsformen - Individualismus, Großstadtleben, Zentralismus, Nivellierung, Bürokratisierung - ab und ließ sich von einem statischen, bewahrenden Gesellschaftsbild leiten, das jedoch Veränderung und Verbesserung ausgesetzt sei. Wie Winkler in ihrer Auseinandersetzung mit Kramars Fortschrittsbegriff anmerkt, verstand er "Fortschritt^Ó nie unkritisch, jedoch als "organische^Ó Weiterentwicklung und damit als eine im Grunde positive Kraft.
Insgesamt ist dem Werk Martina Winklers das Bedürfnis, sich von traditionellen Biographien zu lösen und zu neuen, innovativen Ufern aufzubrechen, deutlich anzumerken (etwa in dem begrüßenswerten Versuch einer Kulturalisierung des Hrochschen Phasenmodells). Winkler verweist auch explizit auf dunklere Facetten der Persönlichkeit Kramars (und stellenweise auch Masaryks). Zwar ist der Zugang, sich einer Person über deren Werk und dessen diskursives Umfeld anzunähern, grundsätzlich zu begrüßen, doch bleibt zu konstatieren, dass das Ergebnis hinter den in der Einleitung hervorgerufenen Erwartungen deutlich zurückbleibt.
Die Strukturierung der Arbeit bringt dabei auch praktische Probleme mit sich: Winkler beschränkt unter Verweis auf frühere Arbeiten von Hans Lemberg und Stanley B. Winters die chronologisch-biographische Nachzeichnung von Kramars Leben auf bloß vier Seiten im Rahmen der Einleitung. Wer weitere Angaben benötigt, ist auf eine Durchsicht der in der Textanalyse verstreuten Hinweise angewiesen. Verwirrend sind die oft kaum kenntlich gemachten zeitlichen Sprünge. Zudem erfahren die Leser über die Rezeption Kramars bei seinen Kontrahenten und Anhängern wenig, auch werden die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen für das Wirken Kramars im wesentlichen vorausgesetzt. Kompakte Werkanalysen finden sich nur stellenweise, wie in der Besprechung von Kramars Die russische Krisis. Ansonsten erschwert die oft nur über die Fußnoten eruierbare Zusammenführung verschiedener Textsorten (Reden, Publizistik, unveröffentlichte Überlegungen, politische oder private Korrespondenz) das Verständnis für die jeweiligen Kontexte und das diskursive "Geschick^Ó Kramars.
Nicht zuletzt wird das ambitionierte methodische Programm, das im Rahmen der Einleitung als Kombination mehrerer Ansätze vorgestellt wird, in der Darstellung selbst nur fragmentarisch und unter Zuhilfenahme zahlreicher, nicht immer schlüssiger Exkurse umgesetzt, ohne dabei einen kompakten Gesamteindruck zu hinterlassen. Eine Konzentration auf einen oder zwei leitende Ansätze, wie z. B. die kritische Diskursanalyse, hätte hier verhindert, dass die verwendete Terminologie den Kontexten, die sie beschreiben, nicht immer angemessen ist. Auch bleibt einiges bei der zu begrüßenden Erschließung neuer methodischer Ansätze unberücksichtigt: Die Russlandwahrnehmung Kramars leitet Winkler z. B. mit einem Überblick über die Orientalismustheorie ein; Verweise auf die Pan- oder Austroslavismusforschung finden sich demgegenüber selbst im Literaturverzeichnis so gut wie keine.
Der Anspruch, historische Sachverhalte plastisch auf den Punkt zu bringen, führt Martina Winkler bei der Gewichtung von Details zu treffsicheren Einschätzungen. Viele allgemeinere Passagen leiden jedoch unter den sehr breit vorgetragenen Thesen, wobei das Spezifische im Denken Kramars im Vergleich zu anderen tschechischen Politikern oder Denkern oft aus dem Blick gerät oder unklar bliebt, in welchen Bereichen Kramar den tschechischnationalen Diskurs tatsächlich prägte und wo er vor allem rezipierte. Eine stringentere Trennung der diskursanalytischen von der politikgeschichtlichen und biographischen Analyseebene hätte daher das Potential der Arbeit sicherlich besser zur Geltung gebracht.
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Citation:
Peter Haslinger. Review of Winkler, Martina, Karel Kramar (1860-1937). Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und ModernisierungsverstÖ¤ndnis eines tschechischen Politikers.
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