Andreas Weigl, Hrsg. Wien im DreiÖŸigjÖ¤hrigen Krieg. BevÖ¶lkerung--Gesellschaft--Kultur--Konfession. Wien-KÖ¶ln-Weimar: BÖ¶hlau Verlag, 2001. 776 S. EUR 49.00 (gebunden), ISBN 978-3-205-99088-8.
Reviewed by Bernd Röck (Historisches Seminar der Universität Zürich)
Published on HABSBURG (July, 2002)
Wien im Dreißigjährigen Krieg
Wien im Dreißigjährigen Krieg
Der Dreißigjährige Krieg zählt seit Schiller zu den großen historischen Forschungsparadigmen und zu den wenigen Ereigniskomplexen der frühneuzeitlichen Geschichte, die auch ein Publikum außerhalb der fachwissenschaftlichen Kreise zu faszinieren vermochten. Das hat mit charismatischen Protagonisten wie Gustav Adolph von Schweden oder Wallenstein zu tun, aber auch damit, dass er sich als ein Urereignis der mitteleuropäischen Geschichte - als Krieg aller Kriege - tief ins kollektive Gedächtnis gegraben hat. Sozusagen auf den Spuren Grimmelshausens hat es eine Göttinger Tagung 1997 unternommen, sich das Geschehen mit mikroskopischem Blick anzusehen, den Krieg "aus der Nähe" zu betrachten; diese Perspektive ist nicht neu, sie hat Vorläufer in der "Culturgeschichte" des 19. Jahrhunderts, von lokalhistorischen Arbeiten bis zu Johannes Janssens seinerzeit berühmter und umstrittener Geschichte des deutschen Volkes, geriet aber über der Frage nach den Hintergründen von Haupt- und Staatsaktionen und kriegsgeschichtlichen Aspekten gelegentlich etwas in Vergessenheit. Dabei liefert die "dichte Beschreibung" nötige Korrektive oder Bestätigungen der makrohistorischen Vogelschau - wie sie umgekehrt nicht verabsolutiert werden darf, denn nur aus "großen Fragestellungen" kann sie ihre Relevanz beziehen.
In diesen Kontext gehört das vorliegende Werk, das, wie der Herausgeber anmerkt, auch von der gerade angesprochenen Tagung in Göttingen inspiriert wurde. Geboten werden Schlaglichter auf die Geschichte Wiens während des Dreißigjährigen Krieges.
Der Herausgeber Andreas Weigl gibt einen teilweise aus den Quellen gearbeiteten Abriss der demographischen Entwicklung; Wien zählte ja zu den Städten Mitteleuropas, die an Bevölkerungszahl gestärkt aus dem Krieg hervorgingen. Der Einzugsbereich der Zuwanderung führt zu einer schon von den Zeitgenossen als ungewöhnlich bestaunten Internationalität ("Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt: Stadtwachstum und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole"). Natürlich profitierte die Stadt von der wieder gewonnenen Funktion als Hauptort der habsburgischen Erblande, vom Zustrom der Beamtenschaft und des reichen Adels, deren Bauinvestitionen Wiens Urbanistik bald nachhaltig bestimmen werden. Selbst ihre Grablegen sind auf die Hofburg hin zentriert, wie Mark Hengerer zeigt ("Zur symbolischen Dimension eines sozialen Phänomens: Adelsgräber in der Residenz").
Mit dem sozial konditionierten Blick von Reisenden auf Wien geht der Beitrag von Harald Tersch um; er bietet ein Stück Geschichte der Wahrnehmung ("Freudenfest und Kurzweil. Wien in Reisetagebüchern der Kriegszeit, ca. 1620-1650"). Christian Oggolder beschäftigt sich in seinem Kapitel mit der zeitgenössischen Flugschriftenpublizistik und dem Verhältnis von Ereignis und Stilisierung, von "Faktum" und Fiktion ("Druck des Krieges").
Arthur Stögmann führt in einem besonders instruktiven Beitrag vor, was "Konfessionalisierung" im Zentrum der Hauptmacht der Gegenreformation praktisch bedeuten konnte: Er zeigt ein Szenario von Bespitzelung, Überwachung, Kontrolle und Repression, durch das der Wiener Protestantismus und mit ihm ein guter Teil der bürgerlichen Mittelschicht in die Auswanderung gezwungen wurde ("Staat, Kirche und Bürgerschaft: Die katholische Konfessionalisierung und die Wiener Protestanten zwischen Widerstand und Anpassung 1580-1660"). Eine Nebenfrage zu seinem Text könnte sein, ob - neben der Konfessionalisierung - nicht auch die Hyperinflation der "Kipper- und Wipper - Zeit" dazu beigetragen hat, den Wiener Häusermarkt jener Zeit in Unordnung zu bringen. Das lässt sich zum Beispiel am Fall der Reichsstadt Augsburg beobachten, wo die damals ebenfalls zu registrierenden Umschichtungen im Immobilienbereich keine konfessionspolitischen Ursachen hatten.
Die bewegte Ereignisgeschichte - zeitweilig drang der Krieg ja tatsächlich bis unter die Mauern der Residenzstadt vor - wird in eigenen Beiträgen behandelt (Peter Broucek, "Der Krieg und die Habsburgerresidenz"; Sonja Reisner, "Aber auch wie voriges tags außer Scharmuezieren anders nichts verricht... Die Kämpfe vor Wien im Oktober 1619 im Spiegel zeitgenössischer Quellen"). Auch die anderen "apokalyptischen Reiter" kamen, so die Pest, von der Susanne Claudine Pils berichtet - mit ausführlichen Belegen aus ungedruckten Quellen, die eine Vorstellung von den erbärmlichen Verhältnissen in den Häusern der Unterschichten während der Epidemien vermitteln ("Stadt, Pest und Obrigkeit"). Und Thomas Just gibt eine Skizze der obrigkeitlichen Armenpolitik ("Er sauge die Underthanen aus wie die Wepsen die suessen puern. Städtischer Umgang mit Armut und Bettel zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges").
Den Kontrast dazu bieten Blicke auf das Musik- und Theaterleben Wiens oder besser des Wiener Hofes (Otto G. Schindler, "Sonst ist es lustig allhie. Italienisches Theater am Habsburgerhof zwischen Weißem Berg und Sacco di Mantova"; Andrea Sommer-Mathis, "Ein pícaro und spanisches Theater am Wiener Hof zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges"). Sie zeigen eine höfische Gesellschaft, die buchstäblich am Rande des Abgrundes tanzt.
Das Buch ist insgesamt mehr als eine Aufsatzsammlung, welche das übliche Sammelsurium von "Aspekten" zu einem bestimmten Thema liefert. Herausgeber und Autoren waren ersichtlich bemüht, eine stadtgeschichtliche Synthese zu liefern und die Beiträge aufeinander abzustimmen. In erfreulich großem Umfang sind die meisten Einzelbeiträge nicht einfach nur Kondensate der Sekundärliteratur, vielmehr werden vielfach neue Quellen präsentiert und ausgewertet.
Eine wichtige Lücke konstatiert der Herausgeber selbst, nämlich das Fehlen der Wirtschaftsgeschichte; aber eine histoire totale wird man beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht erwarten dürfen. Andererseits fallen Ungleichgewichte auf. So interessant zum Beispiel der Aufsatz über die Grablegen der Aristokratie ist - er stellt mit einer Länge von über hundert Seiten gewissermaßen ein Buch im Buch dar, was, gemessen an der Relevanz des Gegenstands gegenüber anderen Themen einigermaßen hypertroph anmutet. Die wirklich relevanten Ergebnisse ließen sich in ein paar Seiten zusammenfassen - dass nämlich auch die Grablegen der Aristokratie dem Prozess der "Verhöflichung" nicht entgehen; man sich in die Nähe des Kaisers drängt, wie die Gräber sonst innerhalb der Kirchen "ad sanctos" tendieren.
Manche Beiträge (z.B. jener von Broucek) geben einen Rahmen, skizzieren allgemeine Zusammenhänge; andere wiederum präsentieren neue Forschung zu Detailfragen. Fresko und Miniatur stehen so unvermittelt nebeneinander, sehr konzentrierte, verdichtete Analysen neben erzählenden Passagen, die - durchaus zum Amusement des Lesers - auch Schwankhaftes bieten: so die Geschichte des unartigen kaiserlichen Jagdhundes Biberl, der sich unter den Augen der habsburgischen Erzherzogin Maria Anna in das Bein einer Tänzerin verbeißt. Man liest dergleichen gerne, auch wenn es zur Analyse des Dreißigjährigen Krieges wenig beiträgt.
Eine Geschichtsschreibung mit erhobenem Zeigefinger könnte sich darüber echauffieren, mit welch blasierter Selbstverständlichkeit jene soziale Schicht, der Mitteleuropa das Desaster des Krieges verdankte, offensichtlich Hauptsorgen in der Organisation von Lustbarkeiten und der Vertreibung des Gespenstes des ennui hatte. Das gilt für die Damen "bei Hofe" nicht weniger als für den pfälzischen Widerpart, den politischen Bankrotteur Christian von Anhalt, der in Wien ein überaus angenehmes Exil absolviert.
Die theatergeschichtlichen Beiträge, Kulturgeschichte par excellence, sind für sich genommen bemerkenswert und bieten - so weit dies der Rezensent beurteilen kann - manchen bisher neuen Aspekt der Wiener Theatergeschichte, zum Beispiel was die Rezeption der italienischen Oper, die Hispanisierung der habsburgischen Hofkultur oder das Ende der Tradition der englischen Wanderkomödianten betrifft. Der Text von Otto G. Schindler bringt hochinteressante und oft sehr lebensnahe Quellen, etwa zur ökonomischen Seite des Theaterlebens oder zu Aufführungen der Commedia dell'arte, bekanntlich Spektakel, zu denen in den Quellen äußerst selten Näheres überliefert ist. Indes verselbständigt sich der Beitrag, "Wien", das Thema des Buches, gerät aus dem Blickwinkel.
Überhaupt haben Feste, Oper und "Kurzweil" innerhalb des Buches eine überragende Stellung, während eben andere Themen zu kurz kommen. Man ahnt, dass dem Herausgeber hier eben kompetente Autoren und eine Autorin zur Verfügung standen, während wir - zum Beispiel -über das Handwerk, über die Versorgung der Stadt, über ihre Physiognomie oder über die Wiener Juden und andere Randgruppen fast nichts erfahren. Auch scheint mir, dass die spannungsreiche Symbiose - oder auch der Antagonismus - zwischen Hof und Bürgerstadt schärfer hätte konturiert werden können.
Solche Einwände sollten aber nicht im Vordergrund stehen. Dazu sind die Beiträge dieses Buches in ihrer Gesamtheit einfach zu gehaltvoll. Das Buch ist nun unverzichtbare Grundlage für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema "Stadt und Dreißigjähriger Krieg"; ein prominentes Pendant zu Thomas Wolfs Untersuchung "Reichsstädte in Kriegszeiten" von 1991. [1]
Weigls Buch ist auch deshalb begrüßenswert, weil es in einer Zeit der postmodernen Verunsicherung auch einmal wieder konkrete Sozialgeschichte bietet: Niemand wird heute mehr an die Möglichkeit der Quantifizierung des Historischen so fest glauben, wie das in den 70er Jahren vorkam; und dass Geschichte ihre "Wirklichkeit" nur in Texten hat, also nur über sprachliche Objektivierung greifbar wird, ist eine banale Einsicht, die implizit jeder Arbeit mit Schriftquellen zu Grunde liegt. Doch sind Bevölkerungsstatistiken, Familienrekonstruktionen oder Abstraktionen von Schichtenstrukturen durch Modelle und Zahlenwerke eben auch Spiegelungen des Historischen, allerdings von einem anderen Abstraktionsgrad als "Erzählungen" (die ja ihrerseits Abstraktionen von Realität sind).
Wie nun ordnen sich die Befunde des vorliegenden Werkes in derzeit diskutierte makrohistorische Modelle ein? Zunächst liefern die penibel ermittelten demographischen Fakten, zu denen auch seriöse Schätzungen der Bevölkerungszahlen gehören (1660: ca. 65000 - 70000 Einwohner auf dem heutigen Stadtgebiet), einen weiteren Mosaikstein zur Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen des Krieges. Sie zeigen, wie differenziert an dieses Problem herangegangen werden muss; immerhin gab es Städte, die über die Hälfte ihrer Einwohnerschaft verloren, während Wien, wie bemerkt, an Bevölkerung gewann und einem Fall wie Hamburg an die Seite zu stellen ist. Wann in der Donaumetropole die ökonomischen Folgen des Krieges wirklich überwunden waren (einige Indizien deuten anderswo darauf hin, dass dies in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts der Fall war), darauf gibt das vorliegende Buch keine Antwort.
Dass Aspekte der Disziplinierung und zugleich der Staatsbildung deutlich hervortreten, liegt auch an den thematischen Vorgaben; wer sich mit dem Armenwesen oder mit der Gesundheitspolitik frühneuzeitlicher Städte beschäftigt, wird den "Druck von oben" immer registrieren. Auch die Konfessionalisierungsbestrebungen, die in Wien direkt vom Kaiserhof ausgingen, machen deutlich, was "Verdichtung frühmoderner Staatlichkeit" heißen kann. Die Frage ist nur, ob diese Entwicklungen als spezifische Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges gefasst werden können. Die italienischen Condottieri - Kriege des Quattrocento, die Türkenkriege etwa oder die Kriege Karls V. waren, indem sie etwa zum Anziehen der Steuerschraube nötigten, damit zum Ausbau der Bürokratien und zur Konzentration der militärischen Ressourcen zwangen, nicht weniger "Staatsbildungskriege" als der Dreißigjährige Krieg. An seinem Ende stehen "verdichtete" Territorialstaaten und eben auch eine habsburgische Landesherrschaft, die ihre "Haupt- und Residenzstadt" in festem Griff hatte, wie es gelungen war, andere Sonderstrukturen zu eliminieren oder in ihrer Bedeutung zu beschneiden. Aber weder war dieser Staatsverdichtungsprozess 1648 abgeschlossen, noch hatte er seinen Anfang erst 1618 genommen.
Anmerkung:
[1]. Thomas Wolf, Reichsstädte in Kriegszeiten. Untersuchungen zur Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Isny, Lindau, Memmingen und Ravensburg im 17. Jahrhundert (Memminger Forschungen 2, Memmingen: Verlag der Memminger Zeitung, 1991).
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Citation:
Bernd Röck. Review of Weigl, Andreas; Hrsg., Wien im DreiÖŸigjÖ¤hrigen Krieg. BevÖ¶lkerung--Gesellschaft--Kultur--Konfession.
HABSBURG, H-Net Reviews.
July, 2002.
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