Gabriele Volsansky. Pakt auf Zeit. Das Deutsch-Ö?sterreichische Juli-Abkommen 1936. Wien: BÖ¶hlau Verlag, 2001. 309 S. EUR 54.00 (gebunden), ISBN 978-3-205-99214-1.
Reviewed by Juergen Nautz (Universität Gesamthochschule Kassel, Fachbereich Berufsbildungs-, Sozial- und Rechtswissenschaften)
Published on HABSBURG (February, 2002)
Nur eine Etappe am Weg zum
Nur eine Etappe am Weg zum "Anschluss"
Das Juliabkommen vom 11. Juli 1936, das unter dem Druck der Annaeherung Italiens an Deutschland zustande kam, war in offizieller Lesart ein Freundschafts- und Normalisierungsvertrag zwischen der staendestaatlichen oesterreichischen Regierung unter Schuschnigg und dem Hitlerregime, das die Basis fuer die weitere Entwicklung der bilateralen Beziehungen bis zum "Anschluss" 1938 bildete. Volsansky stellt heraus, dass eine Bearbeitung des Vertrages vom Juli 1936 auch zur Klaerung von Fragen "rund um den Anschluss" beitrage (7).
Das Juli-Abkommen besteht aus einem offiziellen Kommunique und einem geheimen Zusatzvertrag, einen Gentlemen's Agreement, deren Inhalte im Widerspruch zueinander standen. Der Vertrag enthielt Vereinbarungen auf innen- und aussenpolitischem Gebiet sowie zu wirtschaftlichen, juristischen und kulturellen Themen. Deutschland sicherte mit diesem Vertragswerk die Beachtung der Souveraenitaet und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Oesterreichs zu, einschliesslich der Frage des oesterreichischen Nationalsozialisten. Ferner verpflichtete sich die Reichsregierung zur Aufhebung der Tausend-Mark-Sperre (Berlin erliess im Sommer 1933 nach der Ausweisung des bayerischen Justizministers Frank aus Oesterreich dieses Gesetz, demnach jeder deutsche Staatsbuerger vor einer Reise nach Oesterreich 1.000 Reichsmark zu zahlen hatte, die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die oesterreichische Tourismuswirtschaft waren betraechtlich). Im Gegenzug verpflichtete sich Oesterreich zu einer Amnestie der inhaftierten Nationalsozialisten, zur aussenpolitischen Anlehnung an den Berliner Kurs und zur Aufnahme zweier Vertrauenspersonen der nationalen Opposition in die Regierung (Edmund Glaise-Horstenau und Guido Schmidt).
Die Interessenlagen bei den Vertragspartnern, die zum Juliabkommen fuehrten, konnten unterschiedlicher kaum sein. Fuer Berlin war es eine Etappe auf dem "evolutionaeren" Weg zur Eingliederung Oesterreichs in das Deutsche Reich. Wien hingegen wollte mit seinen weitreichenden Zugestaendnissen an Deutschland vor allem Zeit gewinnen; Appeasement-Politik in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Dass sich die oesterreichische Regierung durch das Juli-Abkommen eine temporaere Stabilisierung der oesterreichischen Souveraenitaet versprach, laesst sich als Option im damaligen aussenpolitischen Kraeftefeld nachvollziehen. Die Erwartung, dass sich das Staendestaatsregime innenpolitisch gegenueber den Parteigaengern der NSDAP wuerde staerken koennen, verwundert doch eher. Aber auch die nationalsozialistischen Gruppierungen in Oesterreich waren mit dem Juli-Abkommen nicht so recht zufrieden, da sie sich hinsichtlich eines Anschlusses an das Deutsche Reich offenbar noch etwas gedulden mussten.
Die Studie von Volsansky, die auf einer sechs Jahre alten Dissertation aufbaut, ist nicht die erste ueber den Gegenstand. Sie unterscheidet sich aber gegenueber dem einschlaegigen Schrifttum dadurch, dass sie den Schwerpunkt auf die Umsetzung des Juliabkommens legt. Volsansky sieht die offiziellen und inoffiziellen Arrangements im Widerspruch zueinander: So umfasse das Kommunique zum Beispiel deutsche Verpflichtungen hinsichtlich der Anerkennung der Souveraenitaet Oesterreichs und die Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten. Im Gentlemen's Agreement hingegen wuerden von der oesterreichischen Regierung einseitig weitreichende Zugestaendnisse gemacht. Fuer Oesterreich sei der Umstand problematisch gewesen, dass das Juli-Abkommen aus einer Reihe von Absichtserklaerungen, ungenauen Formulierungen und wenig konkreten Vereinbarungen bestand, so dass die Interpretationsmoeglichkeiten zu gross gewesen seien, was sich bei diesen ungleichen Partnern zu Lasten Oesterreichs auswirken musste.
So sei die Umsetzung des Abkommens von einer Fuelle bilateraler Konsultationen und einer Reihe von Zusatzvertraegen gekennzeichnet. Die Strategie der deutschen Regierung sei es gewesen, das Abkommen auf moeglichst viele Bereiche auszudehnen, nach eigenen Interessen zu interpretieren, neue Punkte in die Gespraeche mit einzubeziehen, die oesterreichische Seite durch eine Flut von Antraegen und Beschwerden zu ueberfordern. Der oesterreichischen Bevoelkerung sollten vor allem positive wirtschaftliche Ergebnisse einer Kooperation mit dem Nationalsozialismus verkauft werden. Wien versuchte der Beschwerdeflut aus Berlin mit dilatorischer Behandlung die Dynamik zu nehmen und so Zeit zu gewinnen. Zeit zu gewinnen in der Hoffnung auf eine Oesterreich freundlichere aussenpolitische Lage, war ja ein wesentliches Argument fuer die Vertragsunterzeichnung gewesen.
Die Erfolge der Verzoegerungsstrategie waren freilich nur kurzfristiger Natur. Den nationalsozialistischen Pressionen konnte Oesterreich nur widerstehen, wenn es Partner fand, die es in seinem Abwehrkampf gegen die nationalsozialistische Destabilisierung unterstuetzten. Diese vage Hoffnung stellte sich ja alsbald als falsch heraus, als London die Tschechoslowakei der Appeasement-Politik opferte, Italien sich immer mehr an Deutschland ausrichtete und Frankreichs Schwaeche aussenpolitisch ueberdeutlich wurde.
Volsansky stellt heraus, dass sich beide Parteien nicht an die Abmachungen, die sie mit dem Juli-Abkommen getroffen hatten, gehalten haben. Das Juli-Abhommen konnte nach Auffassung Volsanskys die Eigenstaatlichkeit Oesterreichs kurzfristig aufrecht erhalten. Man kann sich freilich fragen, nachdem man das Buch gelesen hat, ob das nicht auch ohne Abkommen der Fall gewesen waere. Die Asymmetrien im Verhaeltnis zwischen dem alleingelassenen kleinen Oesterreich und den beutehungrigen nationalsozialistischen Machthabern in Deutschland fielen eindeutig zu Gunsten des Reiches aus. Und dies bestaetigt auch das Fazit der Autorin: "Das Abkommen vom Juli 1936," bilanziert Volsansky, "praesentiert sich somit als ein letztlich gescheiterter Versuch der Regierung Schuschnigg, das eigene Regime und eine formelle staatliche Souveraenitaet zu erhalten, indem sie dem nationalsozialistischen Aggressor am Verhandlungsweg weitreichende Zugestaendnisse einraeumte. Fuer den reichsdeutschen Vertragspartner stellte die Uebereinkunft dagegen lediglich eine, aus realpolitischen Gruenden gewaehlte, Etappe auf dem Weg zum Anschluss Oesterreichs dar."
Das vorliegende Buch wurde auf der Basis umfangreichen Quellenmaterials geschrieben. Es ist eine quellengesaettigte und handwerklich gute historische Studie zu einem Spezialthema und wird einem interessierten Fachpublikum einige interessante Details und Analysen an die Hand geben. Die Autorin betont ihre Ausrichtung an den nichtpublizierten Primaerquellen. Allerdings haette sie etwas mehr Sorgfalt auf das Recherchieren der Sekundaerliteratur und der gedruckten Quellen verwenden koennen; es gibt mehr Rezentes zum Thema als uns das Literaturverzeichnis Glauben machen will.
Zum Schluss einige Anmerkungen zu einem wohl subjektiven Unbehagen bei der Lektuere: Die fast durchgaengige Verwendung des Attributs "reichsdeutsch" fuer Haltungen und Aktionen der Reichsregierung haben den Rezensenten nachhaltig irritiert. Diese Usance bewirkte, dass der Rezensent beim Lesen immer darauf wartete, wann denn der deutschnationale Pferdefuss auftauchen wuerde. Natuerlich hat der Rezensent der Verfasserin damit Unrecht getan, schliesslich bezeichnet sie ja die Regierung Schuschnigg als "autoritaer". Vielleicht haette das Lektorat gut daran getan, die Autorin von den unnuetzen Adjektiven und eben dem Missverstaendlichen abzubringen. Die Studie haette es verdient.
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Citation:
Juergen Nautz. Review of Volsansky, Gabriele, Pakt auf Zeit. Das Deutsch-Ö?sterreichische Juli-Abkommen 1936.
HABSBURG, H-Net Reviews.
February, 2002.
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