
Laurence Cole. FÖ¼r Gott, Kaiser und Vaterland: Nationale IdentitÖ¤t der deutschsprachigen BevÖ¶lkerung Tirols, 1860-1914. Frankfurt: Campus Verlag, 2000. 100 S. EUR 51,00 (kartoniert), ISBN 978-3-593-36453-7.
Reviewed by Reinhard Stauber (Historisches Seminar der Universität München)
Published on HABSBURG (June, 2001)
Deutsch und heilig: Zur politischen Kultur Tirols
Deutsch und heilig: Zur politischen Kultur Tirols
Auf den ersten Blick mag es ungewoehnlich erscheinen, ein scheinbar selbstverstaendliches Thema zum Gegenstand einer in jeder Hinsicht gewichtigen Untersuchung zu machen, wie dies der am Londoner Birkbeck College forschende Historiker Laurence Cole im hier vorzustellenden Buch tut. Coles Werk stellt die im Kontakt mit hervorragenden Sachkennern wie Ernst Bruckmueller in Wien und Hans Heiss in Bozen ueberarbeitete und von Charlotte Tacke fluessig uebersetzte Neufassung einer am Europaeischen Hochschul-Institut in Florenz entstandenen Dissertation dar, die Stuart Woolf, Michael G. Mueller und Heinz-Gerhard Haupt betreut haben.
Aber bereits in der knappen und konzisen Einleitung umreisst Cole mit sicheren Strichen die Relevanz seines Themas, der "nationalen Identitaet" der deutschen Bevoelkerung Tirols zwischen 1860 und 1914. Es geht dabei um die Ausformung des komplexen Zusammenspiels von "deutscher" kultureller Identitaet, regional verwurzeltem Patriotismus und dynastisch-staatlicher Loyalitaet in einem Kronland der Habsburger-Monarchie, das bis 1914 einen hohen Anteil an italienischsprachiger Bevoelkerung hatte (ca. zwei Fuenftel), um Pruefsteine des Verhaeltnisses der "deutschen Tiroler" zur Grundoption des "Deutsch-Seins", deren Realisierung nach den Ereignissen von 1866 bis 1871 politisch unmoeglich wurde, sprachlich-kulturell aber weiterhin anziehend blieb. Die bewusste Abkehr von jeder "oesterreichischen" Eigenidentitaet zugunsten eines zunehmend voelkisch aufgeladenen Bekenntnisses zum Deutschtum durch radikale Gruppen, anti-romanische Ressentiments, aber auch Bekenntnisse zu den Loyalitaetsangeboten, wie sie die traditionsreiche Dynastie oder die Religion bereitstellten, gehoerten zu den grundsaetzlich Reaktionsmustern auf diese Herausforderung, die Cole in seiner Studie untersucht.
Damit gewinnt er auf verschiedenen Ebenen Anschluss an wichtige Diskussionen der juengeren Forschung und uebertraegt sie auf sein Fallbeispiel Tirol, etwa an die von James Sheehan und Dieter Langewiesche immer wieder betonte Vielgestaltigkeit und Varianz der "deutschen" Geschichte auch nach 1871 und ihre virulent bleibende regional-foederale Komponente, Anschluss auch - und hier liefert das Studium peripher gelegener Gebiete besonders instruktives Material - an die Vermeidung einer zu einseitig auf die Werdung des Nationalstaats hin zielenden Betrachtungsweise (gespiegelt im Fall der Doppelmonarchie in der Teleologie des geradezu unvermeidbaren Auseinanderbrechens des unzeitgemaessen Kaiserstaats), Anschluss natuerlich auch an das Sichtbarmachen der in Eric Hobsbawms und Terence Rangers gluecklicher Formel von der invention of tradition umschriebenen Methoden, wie alte Riten und Praktiken fuer neue, nationale Ziele eingespannt werden konnten.
Cole studiert den komplexen Sachverhalt der "Nationswerdung" aus regionaler und lokaler Perspektive; er versteht ihn als primaer kulturellen Prozess, "in dem rivalisierende soziale Gruppen um die dominierende Interpretation der Nation oder Gesellschaft konkurrieren" (S. 18), als nie eigentlich abgeschlossenen sozialen Diskurs. Mit Recht zeichnet er deswegen in seiner Einleitung neben einer Grundlegung der historischen Existenz Tirols im 19. Jahrhundert und neben methodologischen Reflexionen die historiographische Behandlung seines breit aufgespannten Themenfelds nach, ausgehend von der oft im Sinne eines "Sonderwegs" argumentierenden Darstellung des "Heiligen Landes Tirol", wozu er sich schon in einer mitunter recht deutlich formulierenden Bestandsaufnahme in der Zeitschrift Zeitgeschichte geaeussert hat. [1] Ueberzeugend arbeitet er so heraus, warum "Rechte", "Freiheit" und "Einheit" des Landes in der historisch- politischen Semantik Tirols bis heute eine so grosse Rolle spielen: Sie wurzeln gleichermassen in drei ganz unterschiedlichen historischen Erfahrungsschichten, der Sonderstellung Tirols innerhalb des Verbundes des habsburgischen "Gesamtstaats" in der fruehen Neuzeit, den nationalen Konflikten um 1900 wegen des Status der italienischsprachigen Landesteile und schliesslich in der Suedtirolfrage des 20. Jahrhunderts.
In fuenf grossen Schritten fuehrt Coles mit instruktivem Bildmaterial versehener und durch ein Register erschlossener Text Befunde und Argumente zum Anspruch der deutschen Sprachgruppe auf kulturelle Hegemonie in einem multiethnischen Kronland vor. Dabei geht es zunaechst um die in Innsbrucker und Wiener Archiven quellenmaessig breit abgestuetzte Untersuchung des symbolischen Instrumentariums von zwei grossen Landesfesten: Waehrend bei der Vorbereitung der Feier zum 500. Jahrestag des Uebergangs Tirols an das Haus Habsburg 1863 (Kap. 2) durchaus fortschrittliche Stroemungen Platz griffen, die in Fragen der Schul- und Religionspolitik die an Staatsaufsicht bzw. Toleranz orientierte Linie der Wiener Regierung unterstuetzen wollten, stellte die Zentenarfeier des Tiroler Aufstandes 1909 (Kap. 5) mit Schuetzenfestzug, Festschiessen und Gottesdienst auf dem Berg Isel in Anwesenheit Franz Josephs eine Manifestation der hegemonialen katholisch-konservativen Stroemungen und ihrer Sicht von Deutsch-Tiroler Identitaet dar, wenngleich die (von Wien ausdruecklich so gewuenschte) Praesenz des italienischen Landesteils 1909 verhaeltnismaessig stark war.
Ausgehend von den konservativen Gegenentwuerfen zu den liberalen Versuchen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Bekenntnis zum Deutschtum, Loyalitaet zum Kaiserstaat und Verankerung im Land unter einen Hut zu bringen, schildert Cole im Kap. 3 die Kohaesionskraft des politischen Katholizismus und Klerikalismus in der fuer Tirol charakteristischen Sonderform des Herz-Jesu-Kults, der seinen ersten Hoehepunkt 1796 erreichte, als das Land sich im Augenblick des Angriffs der Armeen Napoleons formell dem Schutz dieses Sinnbilds der Liebe und des Leidens Christi unterstellte. Cole integriert damit die oft vernachlaessigte religioese Komponente in die Analyse nationaler Bewegungen und zeigt ihre grosse Bedeutung vor Ort vor allem fuer die Mobilisierung der laendlichen Bevoelkerung (durch Presseerzeugnisse wie den Tiroler Volksboten) und die Verbreitung antisemitischer Urteile.
Mit besonderem Interesse (und Gewinn) liest man das Kernstueck des Buchs, das knapp hundert Seiten umfassende Kap. 4 ueber die Stilisierung des Anfuehrers des Aufstands von 1809, Andreas Hofer, zum Tiroler Nationalhelden. Bemerkenswert spaet erst, ab etwa 1880, setzte diese Inszenierung ein, als Hofer auch in der Wiener Zentrale als politische Integrationsfigur akzeptabel geworden war. Cole liefert einleitend wichtige Beitraege zur Interpretion des Aufstandes von 1809 und zu dessen langfristigen wirtschaftlichen, politischen und mentalen Ursachen sowie ueberzeugende Analysen der verklaerenden Tendenzen einer konservativen Historiographie; er analysiert dann die in der ersten Jahrhunderthaelfte im gesamten deutschen Sprachraum entstehenden Schauspiele und Gedichte ueber Hofer, die offensive Rolle des Tiroler Kaiserjaeger-Regiments beim Wachhalten der Erinnerung an 1809 und verortet schliesslich die Geschichte zweier "Denkmaeler im sozialen Raum" (um den Titel der einschlaegigen Arbeit seiner Uebersetzerin Charlotte Tacke ueber deutsche und franzoesische Nationaldenkmaeler zu variieren), [2] des 1893 enthuellten Standbilds auf dem Berg Isel und der schon 1867 begonnenen, aber erst 1899 eingeweihten Herz-Jesu-Kapelle an Hofers Geburtsort im Passeiertal.
Festzuhalten ist die interessante Tendenz, dass Hofer und die Bewegung von 1809 immer staerker als "anti-waelsch", also vor allem gegen Frankreich gerichtet, dargestellt wurde, waehrend die Bayern, deren Herrschaft im Land seit 1806 doch immerhin die unmittelbaren Ausloeser fuer den Aufstand geliefert hatte, "nun als irregeleitete Deutsche erschienen" (S. 279) und ihre Rolle immer staerker aus der historischen Erinnerung ausgeblendet wurde.
Im letzten Schritt (Kap. 6) wendet sich Cole schliesslich dem Schuetzenwesen zu, dem (neben der katholischen Kirche) zweiten Faktor, der in Tirol breite Teile zumindest der maennlichen Einwohnerschaft zu mobilisieren imstande war. Auf lokaler Ebene praegte - in dieser Intensitaet freilich wiederum nur im deutschsprachigen Landesteil - das militaerisch-soziale Modell der Schuetzen und ihrer Vereine hochgradig den sozialen Raum, in dem dynastische und patriotische Gefuehle artikuliert wurden. Dieser Abschnitt ueberzeugt vor allem dadurch, dass er das Schuetzenwesen als Musterexempel einer "erfundenen Tradition" des ausgehenden 19. Jahrhunderts einbettet in eine Analyse der militaerpolitischen Realitaeten, denen sich Tirol in einem kriegerischen Jahrhundert und angesichts der schwierigen Integration des Schuetzenwesens in die oesterreichische Militaerverfassung gegenuebersah. Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden diese Schwierigkeiten ueberwunden, und nun konnte die boomgleiche Expansion der Schuetzenkompanien und Schiessstaende beginnen, freilich um den Preis einer immer genaueren Aufsicht des Staates.
Von den zahlreichen Meriten, die Laurence Coles imponierendes Buch hat, sei hier abschliessend nur die Tatsache hervorgehoben, dass der Verfasser einen denkbar komplexen Gegenstand auf der Hoehe der internationalen Forschung, in Vertrautheit mit den Spezifika der Tiroler Historiographie und auf der Basis regionaler Archivquellen in einem (stets verschraenkten) doppelten Zugriff darstellt. Wir erfahren in diesem Buch also vieles ueber das Herauswachsen Oesterreichs aus der deutschen Geschichte und die Schwierigkeiten der "oesterreichischen Deutschen" damit, ueber den Widerstreit zwischen Nationalisierung und "schwarz-gelb" inspiriertem Gesamtstaatsbewusstsein, ueber die Wichtigkeit der Loyalitaetsangebote durch Dynastie und Religion. Gleichzeitig aber oeffnet Cole den Blick fuer die Wichtigkeit der Betrachtung der Laenderebene, fuer die wichtige Rolle der Region als Primaerort nationaler Identifizierung. In den Aporien des Satzes "Indem die deutschsprachige Bevoelkerung Tirol als deutsches Land verstand, definierten sie sich als Deutsche in Oesterreich" (S. 517) liegen Vielfalt und Problematik eines grossen Themas der Geschichte des "langen" 19. Jahrhunderts beschlossen.
Anmerkungen:
[1]. Laurence Cole, " 'Fern von Europa'? The peculiarities of Tirolian historiography." Zeitgeschichte 23 (1996), S. 181-204.
[2]. Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 108, Goettingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995).
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Citation:
Reinhard Stauber. Review of Cole, Laurence, FÖ¼r Gott, Kaiser und Vaterland: Nationale IdentitÖ¤t der deutschsprachigen BevÖ¶lkerung Tirols, 1860-1914.
HABSBURG, H-Net Reviews.
June, 2001.
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