Anne-Margarete Brenker. AufklÖ¤rung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Hamburg und MÖ¼nchen: DÖ¶lling und Galitz Verlag, 2000. 367 S. DM 48.00 (broschiert), ISBN 978-3-933374-73-8.
Reviewed by Peter Oliver Loew (Danzig und Leipzig )
Published on HABSBURG (May, 2001)
Lokale Aufklärung im Schatten des Weltgeists
Lokale Aufklaerung im Schatten des Weltgeists
Moderne Arbeiten zur Lokalgeschichte von Staedten in den ehemaligen ostdeutschen Siedlungsgebieten gehoeren in der deutschsprachigen Forschung nach wie vor zur Seltenheit. Deshalb ist jede Untersuchung, die sich mit staedtischen Organismen wie Stettin, Danzig, Koenigsberg oder Breslau beschaeftigt, um hier nur die groessten zu nennen, hoechst willkommen. Anne-Margarete Brenker kann mit ihrer nun erschienenen Hamburger Dissertation deshalb ungeteilter Aufmerksamkeit sicher sein.
Die Autorin hat sich der staedtischen Geschichte zwischen 1740 und ca. 1800 angenommen. Es geht ihr aber nicht nur um einen Beitrag zur Breslauer Lokalgeschichtsschreibung, sondern sie beabsichtigt, an einem Modellfall zu untersuchen, wie sich Verwaltung und Aufklaerung zueinander verhielten. Dabei geht sie von der These aus, dass die Staedte in der zweiten Haelfte des 18. Jahrhunderts einen groesseren Entscheidungsrahmen zur Durchsetzung aufgeklaerter Vorhaben hatten, als dies bisher angenommen wurde: Aufklaerung als amtliche Reformbewegung ist ihr zufolge in erheblichem Masse eine Folge lokalen Reformeifers, der zwar haeufig von Sozietaeten oder anderen Gelehrtenzirkeln angeregt, dann aber von der Verwaltung umgesetzt wurde. Anhand der Beispiele Bildungswesen, Medizinalwesen, Armenwesen und der Situation der Juden will die Verfasserin ergruenden, wie und von wem die Gedanken der Aufklaerung als Realpolitik im staedtischen Rahmen verwirklicht wurden. Dabei moechte sie auch den Begriff Absolutismus hinterfragen, seine Reichweite und seine Grenzen ausloten.
Nach einer knappen Einleitung zur Forschungs- und Literaturlage stellt Brenker die Stadtgeschichte Breslaus nach 1740 kurz dar und kommt zu dem Ergebnis, dass die lokale Gemeinschaft bis zur Wende zum 19. Jahrhundert selbst im Ansatz keine Identifikationen mit dem preussischen Staat, sondern vielmehr ein ausgepraegtes Regionalbewusstsein entwickelte. In diesem seiner Eigenexistenz sehr bewussten Gemeinwesen entwickelte sich ein aufgeklaertes Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Gruppen, die im dritten Kapitel "Foren der Oeffentlichkeit" ausfuehrlich und systematisch dargestellt werden.
Das Netz der (durch einen kommentierten Index gut erschlossenen) lokalen Protagonisten der Aufklaerung gliedert sich hierbei in eine ueberraschend grosse Anzahl von Freundeskreisen, Gesellschaften oder Zirkeln, womit sich Breslau keinesfalls im Schatten der zeitgenoessischen Entwicklungen befand, wenn es auch kein Zentrum der Aufklaerung war. Zahlreiche persoenliche Bekanntschaften der Aufklaerer (deren wichtigste Vertreter Friedrich Albert Zimmermann, Karl Konrad Streit, Johann Timotheus Hermes, Johann Gottlieb Schummel, Johann Kaspar Friedrich Manso, Christian Garve und David Gottfried Gerhard waren) erleichterten im ueberschaubaren Breslau die Durchsetzung neuer Ideen. Ihr Einfluss auf die Verwaltung war meistens indirekt und erfolgte spaetestens seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts durch Gutachten oder Beratungstaetigkeiten; durch Reforminitiativen vor allem im Bereich von Medizin und Bildung sowie durch die Herausgabe von Buechern und Zeitschriften (wie die 1785 gegruendeten Schlesischen Provinzialblaetter) wirkten sie auf breitere Kreise ein. Schade, dass die Autorin davon absieht, als Foren der Oeffentlichkeit auch die lokalen und regionalen Periodika der Zeit genauer zu behandeln.
Im vierten Kapitel stellt Brenker die staedtische Verwaltung der Zeit dar, deren Spielraeume fuer die Verwirklichung aufgeklaerter Ideen sie untersuchen moechte. Als Quellen dienen ihr hier wie auch in den anderen Teilen ihrer Arbeit neben einer grossen Zahl von Druckschriften Materialien aus dem Beslauer Stadtarchiv sowie aus dem Geheimen Staatsarchiv. Behandelt wird zunaechst die uebergeordnete Behoerde der Kriegs- und Domaenenkammer, anschliessend dann der Magistrat, dessen Rechte von der Kammer immer wieder beschnitten oder gefaehrdet wurden. Allerdings gelang es der Stadt, den Einfluss auf Gerichtswesen und Polizei zu behalten, obschon die Verwaltungsreform von 1787 hier gewisse Einschraenkungen mit sich brachte. Im Grunde blieb die staedtische Autonomie Brenker zufolge aber bis zur Einfuehrung der Steinschen Staedteordnung in Teilen erhalten, selbst wenn sie zugunsten der staatlichen Instanzen zunehmend zurueckgedraengt wurde. Die staedtische Verfassung in der zweiten Haelfte des 18. Jahrhunderts stellt sich somit als ein Nebeneinander altueberkommener Institutionen und neuer Funktionen dar und bildete kein funktionierendes Gesamtsystem der Verwaltung: Die Spanne zwischen aufgeklaerter Staatstheorie und lokaler Praxis war noch nicht zu ueberbruecken.
Im grossen fuenften Abschnitt ihrer Arbeit kommt Brenker auf ihr eigentliches Ansinnen, naemlich auf die Ueberpruefung der These von Aufklaerung als Realpolitik. Dabei widmet sie sich zunaechst dem Bildungswesen und den verschiedenen Wegen, auf Bildung Einfluss zu erlangen. Vor dem Hintergrund einer breiten Schilderung der Breslauer Schulen werden einige Anstalten aufgrund der besonders guten Quellenlage genauer geschildert. Zum einen handelt es sich dabei um das Magdaleneum, ein Gymnasium, das auf Anregung des schlesischen Provinzialministers Ernst Wilhelm von Schlabrendorff 1766 und unter grosser Einflussnahme des Magistrats zur Realschule umgewandelt wurde. Dabei ueberstiegen die Erwartungen die Moeglichkeiten: Verursacht durch das erhebliche Unterrichtspensum und die zum Teil ueberforderten Lehrer, war die Schuelerzahl nicht befriedigend, so dass die Schule gegen Ende des Jahrhunderts die realen Faecher zunehmend kuerzte und 1810 erneut zum Gymnasium wurde. Die nach Heckerschem Vorbild eingerichtete Anstalt war allerdings attraktiv genug, einige bedeutende Lehrer nach Breslau zu ziehen, die in den aufgeklaerten Kreisen der Stadt einen wichtigen Platz einnahmen (so die Brueder Hermes). Brenker wertet die Geschichte des Magdaleneums als ein Beispiel fuer Reformwillen und Reformfaehigkeit, aber auch fuer das Orientierungsvermoegen des Magistrats.
Ein wenig anders verhielt es sich mit dem Elisabeth-Gymnasium, dessen Patronat zwar auch vom Magistrat ausgeuebt wurde, das sich aber seit 1779 gegen den Widerstand der Stadt unter dem starken Reformdruck des Ministers Zedlitz befand. Es gelang ihm mit der Zeit, seine Vorstellungen durchzusetzen, allerdings erst, nachdem der Magistrat nachgegeben hatte. Als Ergebnis haelt Brenker fest: "Eine Reformpolitik mit dem Magistrat war ohne weiteres moeglich [...]; eine Reformpolitik gegen den Magistrat hingegen war unmoeglich" (S.172). Unkomplizierter stellte sich die Lage im katholischen Schulwesen dar, auf welches der Magistrat keinerlei Einfluss hatte und wo Reformen meist auf staatliche Initiative sowie auf Bestreben von Einzelpersonen (Schulrektoren) betrieben wurden. Auch je eine reformierte, juedische und private Schule werden analysiert. Es zeigt sich, dass fuer die Reform von Bildungseinrichtungen immer das Engagement Einzelner von groesster Bedeutung war; die Durchfuehrung der Reformen blieb Rektoren und Lehrern ueberlassen. Eine zielgerichtete obrigkeitliche Reformpolitik gab es trotz gewisser Ansaetze im Bildungsbereich nicht, was alleine durch die Vielfalt von Aufsichtswegen erschwert wurde.
Als zweiten Bereich aufgeklaerter Aktivitaeten untersucht Brenker das Medizinalwesen, in dem der Magistrat durch seine Personalpolitik grossen Einfluss hatte. Ausserdem war es hier durch die einheitliche Medizinalverwaltung einfacher, Reformen durchzusetzen. Die Kriegs-und Domaenenkammer erkannte den medizinischen Sektor ebenfalls als geeignetes Reformobjekt. Doch waren die Reformen Brenker zufolge auch hier vor allem das Ergebnis von Einzelinitiativen weniger Profis, in diesem Fall der praktizierenden Aerzte.
Im dritten Bereich, dem Armenwesen, sind ebenfalls groessere Reformbestrebungen festzustellen. Nachdem zunaechst seit 1775 auf Auftrag der Kriegs- und Domaenenkammer das Armen- und Arbeitshaus reorganisiert wurde, begann der Magistrat 1785 mit einer grundlegenden Umstrukturierung des Armenwesens (Ausbau des bestehenden Armen- und Arbeitshauses, Neubau eines weiteren Armenhauses). Hierbei konnte der Magistrat relativ frei entscheiden, wobei allerdings die Kriegs- und Domaenenkammer die finanzielle Seite des Unterfangens genau ueberwachte. Auch die Gruendung und Unterstuetzung von Vorsorgeeinrichtungen zaehlte zu den Reformen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die Brenker insbesondere an der Gruendung einer ersten Versicherung verfolgt, des Instituts zum Besten nothleidender Handlungsdiener. In einem als Exkurs betitelten vierten Abschnitt untersucht die Verfasserin die Situation der Juden in Breslau und die Versuche des Staates, immer groesseren Einfluss auf die juedische Gemeinde zu gewinnen. Dabei kam dem Magistrat und seiner Auffassung eine wichtige Rolle als Gutachter und ausfuehrende Instanz zu.
Trotz seiner Nebenrolle im grossen europaeischen Diskurs der Aufklaerung kam es in Breslau zu Reformen im Sinne der Aufklaerung, allerdings weniger als Ergebnis des aufgeklaerten Weltgeists, denn als Folge von Einzelinitiativen, von Alltag und Tagespolitik. Dabei zeigt sich der relativ grosse Entscheidungsspielraum der Lokalverwaltung: Der Magistrat war in der Lage, eine eigenstaendige, auf die Belange der Stadt zugeschnittene, den Anforderungen und Diskussionen der Zeit gemaesse Politik auch gegen die Kammer und gegen die Berliner Ministerien zu betreiben, selbst wenn diese Politik mit den vorgesetzten Behoerden abgestimmt werden musste und man sich nicht selten in einem Konkurrenzverhaeltnis zueinander befand. Aufklaerung vollzog sich demnach nicht alleine von oben nach unten, sondern war ein vielschichtiger und alle Ebenen von Verwaltung und oeffentlichem Leben durchziehender Prozess jenseits der grossen Debatten; Aufklaerung war Realpolitik.
Es gelingt Brenker in ihrer Arbeit, entscheidende Fragen der Aufklaerung in ein neues Licht zu setzen: Die lokale Verwaltungsperspektive erlaubt eine interessante Neubewertung der Reformbewegung. Wenn die Studie dennoch nicht alle Erwartungen erfuellt, so hat dies mehrere Gruende. Zum einen ist es natuerlich schade, dass die Autorin zwar die archivalische Ueberlieferung der Verwaltungsebenen, nicht aber die Publikationsforen der lokalen Oeffentlichkeit beruecksichtigt hat: Ohne den veroeffentlichten Diskurs zu kennen, sind letztlich weder die Beweggruende der aufgeklaerten Reformer noch jene der Verwaltung ganz zu verstehen. Zwar beleuchtet Brenker das wie dieser Reformen und analysiert den Entscheidungsspielraum insbesondere des Magistrats, doch kommt dabei das warum zu kurz. Die Lektuere der jedenfalls teilweise erhaltenen Periodika des Zeitraums (zumindest der Privilegierten Zeitung und des Intelligenzblatts) haette hier sicherlich noch viel weitgehendere Schluesse erlaubt. Als Beitrag zur Geschichte der Aufklaerung bleibt die Arbeit deshalb ein wenig blass.
Ein weiterer Punkt betrifft den Aufbau der Arbeit. Ihr erstes grosses Kapitel, die Darstellung des aufgeklaerten Lebens in Breslau, ist nur von geringer Bedeutung fuer die weiteren Ausfuehrungen. Waere es zur Verdeutlichung der zu untersuchenden Fragestellung nicht besser gewesen, die Spitzen der Verwaltung und ihren gesellschaftlichen und biographischen Hintergrund, nicht aber explizit die erklaerten Aufklaerer zu untersuchen? Ein Drittes: Die Periodisierung der Arbeit ist angesichts des Befunds, dass sich die lokalen Refomen aus realpolitischen Sachzwaengen ergeben, nicht unbedingt ueberzeugend, denn mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts brechen die Entwicklungen ja nicht ab, sondern sie gehen organisch weiter. Zumindest in Einzelaspekten haette die Darstellung deshalb problemlos um einige Jahrzehnte fortgesetzt werden koennen.
Schliesslich stellt sich die Frage, ob es angesichts der nicht in allen Aspekten befriedigenden Quellenlage (vor allem wegen des nahezu vollstaendigen Fehlens von Erinnerungen und privaten Nachlaessen) und der in vielen Bereichen der Lokalgeschichte fehlenden wissenschaftlichen Aufarbeitung richtig war, gerade Breslau zu waehlen, um den realpolitischen Umgang der Verwaltung mit dem Phaenomen Aufklaerung zu untersuchen. Vielleicht haette sich die Autorin zumindest um eine systematischere Darstellung von Schul-, Medizinal- und Armenwesen sowie der juedischen Geschichte im behandelten Zeitraum bemuehen sollen, anstatt ihre Arbeit ganz der Aufdeckung administrativer Spielraeume unterzuordnen.
Trotz dieser Einwaende ist Brenkers Arbeit ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Aufklaerung im allgemeinen und zur Geschichte Breslaus im speziellen. Waere sie zudem noch in den Genuss einer sorgsameren Redaktion gekommen (Zeichensetzung!), so stuende einem Lesevergnuegen nichts im Wege.
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Citation:
Peter Oliver Loew. Review of Brenker, Anne-Margarete, AufklÖ¤rung als Sachzwang. Realpolitik in Breslau im ausgehenden 18. Jahrhundert.
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May, 2001.
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