
Eduard Winkler. Wahlrechtsreformen und Wahlen in Triest 1905-1909. Eine Analyse der politischen Partizipation in einer multinationalen Stadtregion der Habsburgermonarchie. MÖ¼nchen: R. Oldenbourg Verlag, 2000. 405 S. DM 98,00 (gebunden), ISBN 978-3-486-56486-0.
Reviewed by Edith Marko (Institut für Geschichte der Universität Graz)
Published on HABSBURG (May, 2001)
Tr(ie)st(e): multi-ethnisch oder multi-national?
Tr(ie)st(e): multi-ethnisch oder multi-national?
Trieste - Trst - Triest: eine Stadt, drei Namen, drei und mehr Nationen, ein multinationaler Mikrokosmos. Diesem Neben- und Miteinander verschiedenster Kulturen, Sprachen und Religionen geht Eduard Winkler in seiner 1999 in Erlangen vorgelegten Dissertation am Beispiel der Wahlrechtsreformen und Wahlen von 1905 bis 1909 nach.
Triest, die viertgroesste Stadt nach Wien, Budapest und Prag, hatte als Haupthafen der Adria zu Beginn des 20. Jhdts., nicht zuletzt auf Grund der Wirtschaftspolitik der Regierung Koerber (1900-1904) einen enormen Modernisierungsschub und wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Dringend benoetigte Arbeitskraefte stroemten aus den benachbarten Regionen in die Stadt und veraenderten nicht nur die nationale, sondern auch die soziale Zusammensetzung der Bevoelkerung. Mehr als 50.000 Menschen kamen im Zeitraum 1900-1910 als Arbeitsmigranten nach Triest, so dass das demographische Wachstum der Stadt in diesem kurzen Zeitraum 28 % betrug.
Dennoch blieben die Italiener mit Abstand die staerkste Bevoelkerungsgruppe. So bekannten sich bei der Volkszaehlung von 1910 bei einer Gesamtbevoelkerung von knapp 230.000 51,8 % als Italiener, gefolgt von den Slowenen als zweitstaerkster Gruppe mit knapp 25 %. Hinzu kamen 5 % Deutsche (11.800) sowie 3.000 "Sonstige" (Kroaten, Serben, Griechen etc.) Die drittstaerkste Gruppe (mit ueber 38.000 oder 16 %) stellten die sog. "Staatsfremden", wovon wiederum mehr als drei Viertel sog. regnicoli (Reichsitaliener) waren.
Dieser Bevoelkerungsstruktur entsprechend waren Italienisch, Slowenisch und Deutsch offizielle Amts- und Landessprachen, wenn auch in der alltaeglichen Kommunikation Italienisch in seiner triestinischen Variante (dialetto triestino) dominierte. Dennoch blieb trotz der zunehmenden nationalen Auseinandersetzungen ein funktionaler Bi- und teilweise auch Trilingualismus quer durch die sozialen Schichten, eben weil oekonomisch erforderlich und vorteilhaft, typisch fuer diese so sehr vom Handel und zunehmend auch der Industrie dominierten Stadt.
Seiner besonderen wirtschaftlichen und geographischen Bedeutung fuer die Habsburgermonarchie entsprechend wurde Triest einschliesslich seines Umlandes durch kaiserliches Patent 1850 (RGBl. 139) nicht nur zur reichsunmittelbaren Stadt ernannt, sondern erhielt gleichzeitig auch den Status eines Kronlands, das zwei Abgeordnete in den Wiener Reichsrat zu waehlen hatte. Auf der Grundlage dieser Landesordnung uebte der Gemeinderat daher auch die Agenden des Landtags aus. Eine Kommission des triestinischen Stadtrates hatte bereits im Sommer 1849 den Entwurf einer Landes- und Gemeindeverfassung ausgearbeitet, das schliesslich die Grundlage des Statuto municipale di Trieste von 1850 bilden sollte.
Wie die Gemeindewahlordnungen der meisten uebrigen Kronlaender und Statutarstaedte widersetzte sich auch die Triestiner Wahlordnung bis 1908 dem Demokratisierungsdruck, der vom Reichsrat ausgehend zu einer Ausweitung der Waehlerbasis der meisten Kronlaender gefuehrt hatte. Das Statuto von 1850, basierend auf dem provisorischen Gemeindegesetz von 1849 - Innenminister Graf Franz Stadion hatte diese Form der Teilhabe der Bewohner an der lokalen Herrschaft als Gouverneur des Kuestenlandes (1841-1847) ab 1842 "ausprobiert" -legte die Fuehrung der Gemeinde (und damit auch des Kronlandes) in die Haende des liberal-nationalen italienischen Buergertums. Abgestuft nach Besitz und Steuerleistung wurden die Wahlberechtigten (Buerger und Gemeindeangehoerige) in vier Wahlkoerper eingeteilt, wobei bei den ersten drei Kurien jeweils ein absoluter Zensus bestand. Im vierten Wahlkoerper waren dann alle uebrigen, in den hoeheren Kurien nicht stimmberechtigten Steuerzahler zusammengefasst. Jeder Wahlkoerper hatte 12 Abgeordnete zu waehlen. Sechs weitere Abgeordnete vertraten das (ueberwiegend slowenische) Umland.[1]
Dies hatte zur Folge, dass bis zur Reform von 1908 nur knapp 5 % der Gesamtbevoelkerung das Wahlrecht zur Gemeindevertretung besassen, waehrend immerhin 21 % fuer den erstmals nach dem allgemeinen und gleichen Maennerwahlrecht gewaehlten Reichsrat stimmberechtigt waren. Den veraenderten sozio-politischen Realitaeten entsprechend, gewannen die koalierten italienischen (POSA) und slowenischen (JSDS) Sozialdemokraten vier der fuenf Mandate. Einzig das Mandat des slowenisch-baeuerlichen Umlandes ging an die slowenischen Narodnjaki. Die die Triester Gemeindepolitik seit 1850 dominierende Liberalnationale Partei erlitt eine katastrophale Niederlage.
Waehrend die Sozialdemokraten als moderne Massenpartei organisiert waren, die Slowenen (Edinost) die Wahl ihrer zumeist baeuerlichen Klientel zu einem nationalen Plebiszit machten, stand die Liberalnationale Partei (Associazione Patria), die in vielem noch eher eine "Honoratiorenpartei" des 19. Jahrhunderts war, vor dem Dilemma einer unterschiedlichen Klientel (vorwiegend Buergertum, aber auch Kleinbuergertum und einige Arbeiter). Hinzu kam ihre schwierige nationalpolitische Haltung: war sie zum einen "die" Partei der italienischen Einheitsbewegung, so musste sie gleichzeitig aber auf Grund der Mitgliedschaft Italiens im Dreibund eine Doppelstrategie verfolgen.
Schliesslich kam es 1908 zu der lange Jahre umkaempften Reform der Gemeindewahlordnung. Zwar blieben Wahlkoerper und Zensus, doch wurde durch die Anfuegung einer allgemeinen Kurie die Waehlerbasis ausgeweitet. Hinzu erhoehte sich, nicht zuletzt durch eine Vermehrung der Mandate, wenn auch nur leicht, die Repraesentation der Slowenen. Von den nunmehr 80 zu vergebenden Mandaten fielen 54 auf die Nationalliberalen, zwoelf auf Slowenen (Narodnjaki) und zehn auf die italienischen Sozialisten. Vier weitere Mandate wurden in indirekter Wahl von der Handels- und Industriekammer besetzt.
Eduard Winkler sieht sein Buch als "Versuch einer monographischen Synthese, welche die nationale, soziale, oekonomische und kulturelle Vielfalt der Stadtregion mit ihren gegenseitigen partizipationsspezifischen Wechselwirkungen darstellt" (S. 38). Tatsaechlich gelingt es ihm in ueberzeugender Art und Weise, die kulturelle, politische, soziale und nationale Vielfalt Triests zur Jahrhundertwende, vorwiegend, aber nicht nur an Hand der Wahlkaempfe, darzustellen. Der Autor kann dies vor allem auch auf Grund seiner eigenen beeindruckenden Vielsprachigkeit, die es ihm erlaubt, nicht nur das reichhaltige Aktenmaterial zu verarbeiten, sondern auch die breite Zeitungslandschaft Triests in ihren nationalen Facetten als phantastische, lebendige Quelle zu erschliessen. Detailliert beschreibt er die einzelnen politischen Parteien und politischen Gruppierungen Triests zur Jahrhundertwende und ihre Haltung und Politik waehrend der Wahlkaempfe von 1907 und 1909. Ein umfangreicher Anhang mit einer Vielzahl von Tabellen gibt detaillierte Angaben zu den Wahlergebnissen, der nationalen Zusammensetzung, Konfessionen und dem Vereinswesen Triests.
Dennoch wuerde man sich ein erhebliches Mehr an Struktur wuenschen. Selbst fuer mit der schwierigen Problematik des altoesterreichischen Kurien- und Zensuswahlrechts vertraute Leser ist es schwierig, den "roten Faden" in Winklers Darstellung zu finden: so gibt es in der Einleitung nur eine kurze Passage zu Wahlrecht und Gemeinde-/Landesordnung (S. 30f), eine weitere findet sich "versteckt" in der Beschreibung der politischen Parteien (S. 65ff). Erst nach 200 Seiten findet sich schliesslich im Unterkapitel "Anachronistisches Wahlrecht" eine detaillierte Darstellung der Einzelbestimmungen zum Gemeindewahlrecht, doch ist man ob der Fuelle der Details mehr verwirrt als informiert. Hier waere ein Vorspann zu Winklers "Triester-Wahlanalyse-Modell", in dem die normativen Grundlagen einer organisatorisch hoechst komplexen Stadt-Kronland-Situation dargelegt wuerden, nicht nur wuenschenswert, sondern notwendig.
Ausgehend von einem sehr informativen Ueberblick ueber den neuesten Stand der Partizipationsforschung und Literatur zur Wahlrechtsentwicklung in der Habsburgermonarchie stellt Winkler in seinem Einleitungskapitel sein anspruchsvolles "Triester-Wahlanalyse-Modell" vor: "Vor dem Hintergrund der aufgezeigten thematischen und theoretischen Defizite der historischen Wahlforschung geht es der vorliegenden Studie auch um eine Erweiterung und Systematisierung der methodologischen Nomenklatur innerhalb einer theoriegeleiteten Wahlgeschichtsschreibung. Dabei wird die Ueberwindung antagonistischer Positionen zwischen hermeneutisch-erzaehlender und quantifizierender Geschichtsschreibung sowie die Herstellung einer Synthese zwischen Wahlrecht und Wahlpraxis als notwendig erachtet" (S. 30). Der Autor stellt sich damit eine (fast) unloesbare Aufgabe, die auch er nicht erfuellen KANN, umso mehr, als man sich fragen muss, warum diese beiden Positionen als antagonistisch und nicht komplementaer betrachtet werden (muessen), wie Winkler es ja selbst im Hauptteil seines Buches praktiziert. Ob das "Triester-Wahlanalyse-Modell" mit den drei Analyseebenen (chronologisch-prozessuale, qualitiative-formale und quantitativ-perspektivistische) tatsaechlich "als Erweiterung des methodologischen Kanons bei der Erforschung der politischen Partizipation in der Habsburgermonarchie verstanden" (S. 36) werden kann, mag dahin gestellt sein. Dieser Zweifel wird durch den Umstand verstaerkt, dass Winkler "sein" Modell selbst nicht durchgaengig als analytisches Instrument anwendet, sondern erst im als Epilog bezeichneten Abschlusskapitel wieder darauf eingeht. Ebenso vermisst man in Aufbau und Gliederung des Buches die "Anwendung" dieses Analysemodells, so dass es fuer den Leser nicht moeglich ist zu erkennen, auf welcher Analyseebene er sich befindet.
Dennoch ist die Fuelle des von Winkler aufgearbeiteten Materials, wie auch seine Sprachkompetenz, ausserordentlich beeindruckend. An Hand der Parteien und des politischen Umfelds wird die besondere nationale, sprachliche, konfessionelle, politische und soziale Situation Triests bis hin zu literarischen Beispielen - so schliesst dieses Buch auch mit dem Triestiner Schriftsteller Slataper und der Bezeichnung Triests als "europaeischster Stadt Europas" (S. 338) -facettenreich dargestellt.
Anmerkung
[1]. Vgl. dazu Ugo Cova, "Der Landtag der reichsunmittelbaren Stadt Triest und ihres Gebietes", in Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. VII/2: Verfassung und Parlamentarismus: Die regionalen Repraesentativkoerperschaften. Hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch (Wien: Verlag der oesterreichischen Akademie der Wissenschaften, 2000) S. 1919-1949.
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Citation:
Edith Marko. Review of Winkler, Eduard, Wahlrechtsreformen und Wahlen in Triest 1905-1909. Eine Analyse der politischen Partizipation in einer multinationalen Stadtregion der Habsburgermonarchie.
HABSBURG, H-Net Reviews.
May, 2001.
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