Familiengeschichten, Schatztruhen und andere Archive. 9. Detmolder Sommergespräch 2015. Landesarchiv NRW Abt. Ostwestfalen-Lippe, 26.08.2015.
Reviewed by Rafael Greboggy
Published on H-Soz-u-Kult (October, 2015)
Familiengeschichten, Schatztruhen und andere Archive. 9. Detmolder Sommergespräch 2015
Zum 9. Detmolder Sommergespräch kamen knapp 100 Gäste in das Archiv, darunter Referenten aus Universitäten, historischen Vereinen, Archiven oder Museen. Unter dem Titel „Familiengeschichten, Schatztruhen und andere Archive“ wählten die Redner in ihrer bunten Varietät vielfältige Ansätze, um Themen wie Familie und das Archivieren zu beleuchten. Und da man schon in den Genuss der Multiperspektivität kam, konnte man sich auch einem für Historiker schwierigen Thema widmen: Dem Vergessen. Wo es Überlieferung gibt, da gibt es auch Leerstellen und auch mit diesen müssen wir umgehen. Aber es wurden auch Lichtblicke betont und überraschende Funde gezeigt.
Nach der Begrüßung durch FRANK M. BISCHOFF (Duisburg), dem Präsidenten des Landesarchivs NRW, begann der diskussionsreiche Tag mit einer Einführung von Bettina Joergens (Detmold), Dezernatsleiterin des Landesarchivs NRW Abt. OWL und konzeptionell und organisatorisch Verantwortliche für die Detmolder Sommergespräche. Mit einer Reihe von Fragen, in denen sie nach Ursachen, Bedeutungen und Folgen des Aufbewahrens fragte, stellte sie die Aufgaben des Archivs einer bloß ökonomischen Betrachtung von Daten gegenüber. Sie veranschaulichte mit eigenen Zeugnissen, dass Quellen dazu verhelfen, sich mit Menschen über die Grenzen ihrer Lebensdauer hinweg in Beziehung zu setzen.
Darauf folgte ein Abriss der Geschichte des Archivs aus kulturhistorischer Sicht von MARKUS FRIEDRICH (Hamburg) von der Universität Hamburg. Er sah in der Selbstverständlichkeit der Präsenz von Archiven Erklärungsbedarf und benannte drei Phänomene, die eine tiefe Verankerung des Archivs mit der Gesellschaft zeigen: die Notariatsarchive Italiens im 12. Jahrhundert, die verschriftlichten Herrschaftsverträge der späten Feudalgesellschaft und die Genealogie des 16. Jahrhunderts. Ferner stellte Friedrich die Krise als entscheidendes Moment der Archivgeschichte dar und plädierte für eine Erforschung der Archivnutzung mit all seinen dazugehörigen Momenten des Scheiterns.
Bereits der für Archivare provokante Titel „Das Recht auf Vergessenwerden“ deutet auf die Brisanz des Vortrags von ANDREA HÄNGER (Koblenz) aus dem Bundesarchiv in Koblenz. Sie referierte zur EU-Datenschutz-Grundverordnung. In einem Vermittlungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat der EU sollen bis 2016 personenbezogene Daten besser geschützt werden. Nachdem ursprünglich jegliche Weiterarbeitung von Daten außerhalb ihres Zwecks verhindern werden sollte, was enorme Konsequenzen für die Archive gehabt hätte, pendele sich allmählich eine Sonderregelung für wissenschaftliche Nutzung ein. Die Kooperationsbereitschaft der Archive sei trotz der schwierig gestalteten Kommunikationssituation unabdingbar, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Daran knüpfte der Vortrag von MATTHIAS FRÖLICH (Münster) aus dem LWL-Institut für Regionalgeschichte in Münster über Heimkinder aus der Nachkriegszeit an. Er problematisierte die aufgrund „wilder Kassationen“ und unzureichender Archivierung mangelhafte Quellengrundlage. Frölich stellte drei bedeutende Quellentypen zu der zudem verschwiegenen Tragik vor: Die Heimaufsichtsakten des Landesjugendamtsarchivs, die Straf- und Aufnahmebücher der Heime und die Einzelfallakten der Fürsorgeerziehung. Anhand dieser Akten zeigte Frölich wiederkehrende Topoi von als deviant eingestuftem Verhalten und betonte, dass sie zur Disziplinierung und Zucht angelegt wurden. So würden die Akten mehr über die Verfasser aussagen als über die Zöglinge, weshalb Ergänzungen durch Zeugnisse der Heimkinder unverzichtbar seien.
Im folgenden Vortrag stellte HANS-CHRISTIAN SCHALL (Bad Lippspringe) ein Projekt des Genealogischen Arbeitskreises Lippe vor: Torbögen als Quelle für Familien- und Hofgeschichte. Dabei erörterte Schall den Quellenwert von Hausinschriften, die in Lippe auf eine mittlerweile 500 Jahre alte Tradition zurückblicken können und sich von rudimentären Signaturen der Erbauer bis hin zu ausführlichen Kommentaren entwickelten. Das Projekt umriss er mit zahlreichen Fotos und ansehnlichen Statistiken: 3.196 Gebäude seien dokumentiert und 1.810 fotografiert worden. Als Ausblick betonte Schall mit Sorge die Verluste durch Abriss, Brand oder Bauschäden, berichtete aber auch von zufälligen Funden und spendete so Hoffnung für andere Leerstellen in der Überlieferung.
Quellennah blieb es auch beim Vortrag von FRAUKE VRBA (Emmendingen) des Tagebucharchivs Emmedingen, den sie mit der Lesung einiger Tagebucheinträge von 1945 begann. In Anlehnung an die Mikrogeschichte führte Vrba die Bedeutung von Tagebüchern als Quelle vor und trat für eine Methode ein, die nicht statistisch-quantifizierend, sondern durch exemplarische Analyse die Quellen in den Fokus rückt. Darüber hinaus lieferte sie einen Überblick über Geschichte und Arbeitsweise des 1998 gegründeten Tagebucharchivs, das in Partnerschaft mit Schulen und anderen Tagebucharchiven steht; zudem seit 2014 ein hausinternes Museum besitzt, in dem einige der 15.800 Zeugnisse ausgestellt werden.
Die letzte Sektion wurde mit einem Beitrag von MARIE-LUISE CARL (Mettmann) eröffnet, der Vorsitzenden des Vereins für Computergenealogie. Sie benannte die Vorteile von digitalen Nachlässen und gab praktische Hinweise zu ihrer Strukturierung und Nutzung. Dazu gehörte darauf zu achten, wer das digitale Archiv übernehmen soll, gängige Formate zu nutzen, eine möglichst verständliche Ordnung zu schaffen und diese zu dokumentieren. Sie empfahl, Dritte prüfen zu lassen, ob das eigene Archiv selbsterklärend ist und Ergebnisse von Familienforschung mit einem Genealogieprogramm zu verwalten.
HERRMANN NIEBUHR (Detmold) stellte fest, dass Nachlässe auf ihrem Weg ins Archiv drei Selektionsstufen bewältigen müssen: Erstens müssten sie vom Eigentümer aufgehoben, zweitens dem Archiv übergeben werden und drittens muss das Archiv die Archivalien annehmen. Alles, was im letzten Schritt auf der Strecke bliebe, ließe sich mithilfe einer Bestandsaufnahme der Überlieferung und der Kenntnis von Übernahmekriterien des Archivs zumindest erahnen. Solche Übernahmekriterien wurden für das Landesarchiv in den Dokumentationsprofilen festgelegt. Für den zweiten Schritt, also der Übergabe an das Archiv, riet Herr Niebuhr zum Dialog mit dem Nachlasser.
Im letzten Vortrag verdeutlichte KATHARINA SCHLIMMGEN (Detmold) vom LWL-Freilichtmuseum Detmold anhand von Beispielen, wie Familienobjekte ins Museum kommen und plädierte für einen biografischen Ansatz im Gegensatz zu einem typ- oder entwicklungsgeschichtlichen Zugang, um die hohe Emotionalität der Objekte zu erhalten. Weiterhin machte sie auf Leerstellen in der Überlieferung aufmerksam, die sie in der Ausstellung auch als solche kenntlich macht, zum Beispiel durch Verweise auf Rekonstruktionen oder gar Ausstellung von leeren Vitrinen. So erreicht das Museum nicht nur ein hohes Maß an Authentizität, sondern erzählt auch die Geschichte der lückenhaften Überlieferung.
Versöhnen wird sich der Historiker mit diesen Lücken wohl nicht, aber er kann sie akzeptieren. Das Sommergespräch hat dazu beigetragen, die Möglichkeiten und Problemstellungen der verschiedenen Themen in einem offenen Diskurs zu thematisieren und wird daran mit dem noch zu publizierenden Tagungsband anknüpfen.
Konferenzübersicht:
Begrüßung: Frank M. Bischoff (Präsident des Landesarchivs NRW, Duisburg)
Einführungen: Bettina Joergens (Landesarchiv NRW Abt. OWL, Detmold)
Markus Friedrich (Universität Hamburg), Sammeln? Tradieren? Überliefern? Archivieren – ein kulturhistorischer Längsschnitt
1. Sektion: Weiße Flecken: „nicht aktenkundig“ – „Angaben gelöscht“
Moderation: Bettina Joergens
Andrea Hänger (Bundesarchiv Koblenz), Das Recht auf Vergessenwerden – EU-Datenschutz-Grundverordnung und das Bundesdatenschutzgesetz
Matthias Frölich (LWL-Institut für Regionalgeschichte, Münster), Heimkinder – Kinder ohne Vergangenheit? Spurensuche und Dokumentenpuzzle
Archivführungen
„Bunte Schätze – Schandbilder, Bildtafeln und Karten“
„Firma und Familie auf der Spur – Recherchemöglichkeiten am Beispiel der Unternehmerfamilie Juhl“
„Überlieferung im Verbund von Land und Stadt: Standesamtsregister und Einwohnermeldeunterlagen als Quellen der genealogischen Forschung“
2. Sektion: Persönliche Schätze: was bleibt
Moderation: Roland Linde, Münster
Hans-Christian Schall (Bad Lippspringe), Torbögen als Quelle für Familien- und Höfegeschichte(n). Ein Projekt des Genealogischen Arbeitskreises Lippe
Frauke Vrba (Tagebucharchiv Emmendingen), Das Tagebuch als Lebensspeicher
3. Sektion: Systematisches Archivieren – warum?
Moderation: Joachim Eberhardt, Lippische Landesbibliothek Detmold
Marie-Luise Carl (Verein für Computergenealogie, Mettmann), Digitale persönliche Archive – der digitale Nachlass
Hermann Niebuhr (Landesarchiv NRW Abt. OWL, Detmold), Persönliches und Familiäres im Archiv: Private Nachlässe und kleine Erwerbungen
Katharina Schlimmgen (LWL-Freilichtmuseum Detmold), „Familienobjekte“ in einem kulturgeschichtlichen Museum: Überlegungen und Fragen
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Rafael Greboggy. Review of , Familiengeschichten, Schatztruhen und andere Archive. 9. Detmolder Sommergespräch 2015.
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