Geschichte und Recht. Eine deutsch-französische Annäherung zwischen Geschichtswissenschaft und juristischer Rechtsgeschichtsschreibung. Berlin: Centre Marc Bloch, Anne-Sophie Beau, Isabelle Deflers, Thomas Horstmann, Guillaume Mouralis und Petra Overath, 24.06.2003.
Reviewed by Heike Litzinger
Published on H-Soz-u-Kult (July, 2003)
Geschichte und Recht. Eine deutsch-französische Annäherung zwischen Geschichtswissenschaft und juristischer Rechtsgeschichtsschreibung
Zunächst wollten sich eigentlich nur drei, vier französische und deutsche Historiker und Juristen im Berliner Centre Marc Bloch zusammensetzen, um miteinander über die interdisziplinären Herausforderungen der Rechtsgeschichte zu sprechen. Doch Doktoranden und Postdoktoranden aus dem Centre selbst und aus anderen Institutionen zeigten sich rasch interessiert, und ehe die Initiatoren sich versahen, hatten sie ein Tagesprogramm für einen Workshop zusammengestellt, das am 24. Juni 2003 rund 25 Geisteswissenschaftler und Juristen in die Räume des Centre Marc Bloch am Schiffbauerdamm zog. Organisiert hatten die Veranstaltung Anne-Sophie Beau, Isabelle Deflers, Thomas Horstmann, Guillaume Mouralis und Petra Overath, eingeladen wurde unter dem Titel: "Geschichte und Recht: gegenseitige Aneignungen. Zum Dialog zwischen Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft."
Die französische Juristin und Rechtshistorikerin Isabelle Deflers moderierte den Workshop und erläuterte eingangs, offenkundig interessierten sich Historiker zunehmend für rechtliche, rechtsphilosophische und rechtssoziologische Fragestellungen. Hierbei stießen sie jedoch nach wie vor auf Vorbehalte seitens der Juristen, etwa, dass es ihnen an Fachkenntnissen mangele oder aber sie juristische Begriffe falsch verwendeten. Umgekehrt hielten Historiker rechtshistorisch arbeitenden Juristen vor, sie hätten keine methodische Ausbildung. Die Frage sei daher, wie die methodischen Möglichkeiten der jeweiligen Disziplin in diesem interdisziplinären Feld ausgeschöpft und wechselseitig fruchtbar gemacht werden könnten.
Die Leiterin des deutsch-französischen Centre Marc Bloch, Catherine Colliot-Thélène, führte als Philosophin und damit unbeteiligte Beobachterin der "Annäherung" in das Thema ein, indem sie Max Weber als Jurist und Rechtshistoriker vorstellte und seinen Blick auf die Disziplinen Recht, Geschichte und Soziologe skizzierte. Ihr zufolge unterscheidet Weber zwischen der soziologisch-historischen und der juristischen Betrachtungsweise des Rechts: Die Soziologie interessiere sich für das Sein, die Juristen für das Sollen. Colliot-Thélène stellte nun dem Workshop die Frage voran, ob es denn tatsächlich ein solch grundsätzlich verschiedenes Untersuchungsinteresse gebe, oder aber ob juristisch ausgebildete Rechtshistoriker sich von ihren Historikerkollegen lediglich durch andere Fachkenntnisse unterschieden.
Darauf stellten in drei Sektionen Juristen und Historiker anhand von Beispielen aus ihrer eigenen Forschungspraxis ihre Methodik vor und versuchten herauszuarbeiten, was für ihre jeweilige Zunft in der Herangehensweise spezifisch ist und wo sie Gemeinsamkeiten sehen.
In der ersten Sektion standen Arbeits- und Wirtschaftsgeschichte sowie Arbeitsrechts- und Wirtschaftsrechtsgeschichte nebeneinander. Der Frankfurter Jurist und Rechtshistoriker Friso Ross hat sich mit dem Wirtschafts- und Arbeitsrecht in der spanischen Diktatur Primo de Riveras in den 1920er Jahren befasst und entwickelte hierzu methodische Überlegungen. Ross konstatierte zunächst, dass Rechtshistoriker - Juristen wie Historiker - ein besonderes Interesse an Herrschaft einerseits und an gesellschaftlich konfliktträchtigen Rechtsfeldern, wie etwa dem Straf- oder dem Arbeitsrecht andererseits hätten. Hierbei drohe jedoch der Blickwinkel des Rechtshistorikers aus beiden Disziplinen oft schief zu werden: schnell rücke die Ideologie eines Herrschaftssystems auch da in den Vordergrund der Betrachtung, wo sie sich auf den Forschungsgegenstand gar nicht ausgewirkt habe. Daneben würde zu sehr das positive Recht und zu wenig die Rechtspraxis betrachtet. Zugleich müsse stärker berücksichtigt werden, dass Juristen als Teil der Oligarchie auch Traditionen von einem - etwa liberalen - in ein autoritäres Regime hinüberretteten.
Die französische Historikerin Anne-Sophie Beau vom Centre Marc Bloch setzte anhand eines Überblicks über die "Berufsklassifikationen" in Frankreich zwischen 1939 und 1950 diese methodischen Vorschläge beispielhaft um: der von Beau gewählte Zeitraum ist in seinem Zuschnitt ungewöhnlich, da sich darin drei verschiedene politische Regime in Frankreich ablösten. Die Zuweisung von Berufsgruppen zu bestimmten Gehaltsstufen diente jedoch allen drei Regierungen, so dass Regime- und Ideologiewechsel sich hier also nur auf die angeführte Legitimation, nicht jedoch auf die Regelungen selbst ausgewirkt haben.
Beau schilderte daraufhin die begrifflichen Schwierigkeiten, die sie zunächst mit dem Arbeitsrecht hatte, die ihr jedoch überwindbar schienen. Ihr sei zugute gekommen, dass das Arbeitsrecht zugänglicher sei als andere juristische Gebiete, da es eine relativ junge Disziplin sei, damit politischer und weniger durch jahrhundertlange Begriffsentwicklung überfrachtet als andere Rechtsgebiete.
In der folgenden Sektion skizzierten die Historikerin Petra Overath (Centre Marc Bloch) und der Jurist Peter Collin (Greifswald) ihre Forschungsergebnisse zu Geschworenengerichten im 19. Jahrhundert. In ihren jeweiligen Arbeiten zu Bayern und Preußen hatten die beiden Referenten grundsätzlich die gleichen Fragestellungen gewählt und waren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Insofern stellte sich für Collin die Frage, ob damit "einer von beiden überflüssig ist". Gerade die Juristen müssten sich fragen, ob die "Rechtsgeschichte" überhaupt spezifische Formen der Analyse oder Darstellung vorgebe. Die Antwort hierauf könne für die Juristen allerdings nicht darin liegen, sich auf "Kommunikation über Recht" im Sinne Luhmanns zu beschränken. Denn damit reduziere sich Rechtsgeschichte darauf, zu fragen, wer rückblickend "im Recht oder im Unrecht" gewesen sei: der Rechtshistoriker schwinge sich zum Richter auf. Damit beschränke er sich jedoch auf eine seinem Gegenstand unangemessene Weise.
Collin kam also zu dem Schluss, der Jurist als Rechtshistoriker sei dort gefragt, wo die Aufklärung juristischer Zusammenhänge dazu beitrage, historische Phänomene besser zu verstehen.
Petra Overath versuchte dagegen, eine spezifisch geschichtswissenschaftliche Perspektive bei der Untersuchung des Strafrechts herauszuarbeiten, auch wenn sie zu bedenken gab, dass die Geschichtswissenschaften kein monolithischer Block seien. Historische Arbeiten zur Strafrechtsgeschichte zeichnen sich ihr zufolge dadurch aus, dass die traditionellen strafrechtshistorischen Fragestellungen ausgeweitet und dass stärker Alltagsgeschichte und sozial-, psychologie-, medizin- und körpergeschichtliche Fragen einbezogen würden
Während die Diskussion zur ersten Sektion nur zögerlich in Gang kam, wurde nach den Vorträgen von Overath und Collin die Debatte lebhafter: die Teilnehmer gewöhnten sich langsam an die zweisprachige Veranstaltung. Ein Teilnehmer behauptete, trotz ähnlicher Fragestellung und Ergebnisse hätten die Vorträge zu den Untersuchungen der Geschworenengerichte von Overath und Collin sich darin stark unterschieden, dass Collin "feldimmanent" argumentiert habe, während für Overath das Recht nur ein Instrument sei, über das sie Zugang zu ihrem Gegenstand erhalte. Die Historikerin Sabine Rudischhauser hielt dagegen, die Unterschiede seien erwartungsgemäß gering, beide Vorträge wären geprägt von der deutschen historischen Schule des 19. Jahrhunderts. Spannender wäre hier aus ihrer Sicht ein Vergleich zwischen einer deutschen und einer französischen Arbeit gewesen.
Der Jurist und Staatsrechtler Olivier Beaud (Centre Marc Bloch) fragte, weshalb die politische Dimension der Debatte um die Geschworenengerichte von Collin so wenig beleuchtet worden sei - hierin sehe er eine unangemessene Beschränkung des Blickwinkels. Collin trat dagegen für eine "Autonomie der juristischen Diskurse" ein: auch wenn die Verfechter der Geschworenengerichte überwiegend Liberale gewesen seien, die mit den Laienrichtern ein partizipatorisches Moment in der Justiz einforderten, so müsse man doch den Juristen zugestehen, dass es ihnen um "das Recht" gehe und nicht um Politik.
In der dritten Sektion unternahmen es die Historiker Thomas Horstmann (Universität zu Köln) und Guillaume Mouralis (Centre Marc Bloch), die Schwierigkeiten der Rechtswissenschaft und -praxis mit der Aufarbeitung staatlicher Kriminalität zu beleuchten. Horstmann erläuterte zunächst, dass angesichts der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen das Strafrecht an seine Grenzen gestoßen und geradezu in eine Krise geraten sei: die Verbrechen, die durch den bürokratisch organisierten Staat begangen worden seien, ließen sich mit dem Prinzip der individuellen Zurechenbarkeit von Schuld im deutschen Strafrecht kaum erfassen. Zwar hat das deutsche Strafrecht mittlerweile den Begriff des Täters neu definiert: Neben die persönliche Tatherrschaft tritt die Tatherrschaft kraft organisierten Machtapparates. Eine Gesamtkonzeption für das Systemunrecht fehle jedoch bis heute. Horstmann fragte daher danach, ob Juristen eventuell neue Wege aus diesem Dilemma finden könnten, wenn sie sich die Ergebnisse historischer Forschungen zur Herrschafts- und Verwaltungspraxis des Nationalsozialismus aneigneten. Dazu stellte er Studien eines Schweizer Strafrechtlers und eines US-amerikanischen Rechtshistorikers Hans Vest, Genozid durch organisierte Machtapparate. An der Grenze von individueller und kollektiver Verantwortlichkeit, Baden-Baden 2002; Cohen, David: Bureaucracy, Justice, and Collective Responsibility in the World War II War Crimes Trials. In: Rechtshistorisches Journal 18 (1999), 313-42. vor, die etwa Raul Hilbergs bekannte Studie "Die Vernichtung der europäischen Juden" und insbesondere dessen detaillierte Darstellung der Verwaltung des Dritten Reiches für eine Neukonzeption einer strafrechtlichen "bureaucratic responsibility" genutzt hatten.
Guillaume Mouralis stellte anhand der Strafverfahren gegen DDR-Funktionäre in den 1990er Jahren fest, die Konzepte der Historiker beziehungsweise Politikwissenschaftler wie "Vergangenheitspolitik" und "transitional justice" wählten eine zu eingeschränkte zeitliche Perspektive. Bei einem Systemwandel wie dem von der DDR zur BRD werde nur der kurze Zeitausschnitt des politischen Umschwungs betrachtet. Die juristische Welt verfüge jedoch über eine "relative Autonomie" gegenüber der politischen Welt und verlange eine ausgeweitete Untersuchung auf drei zeitlichen Ebenen: die Zeit der "longue durée" des Gesetzes, die Zeit der mittleren Dauer der Rechtsprechung, die sich an neue Rechtsprobleme und rechtswissenschaftliche Kritik anpasse, und die eher kurze Zeit des Strafverfahrens selbst. Mit dem Verweis auf das Beharrungsvermögen juristischer Traditionen und Denkschulen führte Mouralis hier einen Gedanken aus, der auch bei Ross im ersten Referat des Workshops bereits angerissen worden war.
Die Diskussion um die beiden letzten Beiträge zeigte dann doch, wieweit die jeweilige "deformation professionelle" eine Verständigung erschwert: für die anwesenden Juristinnen und Juristen, Franzosen wie Deutsche, erschien nicht hinnehmbar, an dem Grundprinzip individueller Zurechenbarkeit von Schuld im Strafrecht zu rütteln, während dies für Horstmann und Mouralis durchaus eine spannende Entwicklungsperspektive des Rechts zu sein schien. Allerdings suchten hier beide Disziplinen, Historiker wie Juristen, eher normativ das "Sollen" in der jüngsten Zeitgeschichte. Insofern ließe sich hier auf Catherine Colliot-Thélène Ausgangsfrage antworten, auch Historiker seien verführbar zu einer normativen Betrachtungsweise des Rechts.
Das Fazit hatten die Veranstalter dem französischen Staatsrechtler Olivier Beaud überlassen. Beaud konstatierte, es sei im Laufe des Workshops wenig über die besondere Lage des Fachs Rechtsgeschichte gesprochen worden, das in Deutschland wie Frankreich zunehmend marginalisiert werde. Ein gutes Ergebnis des Workshops scheine ihm zu sein, dass die Geschichte der Rechtspraxis stärker betrachtet werden müsse: die Rechtstheorie gehe ohnehin mittlerweile davon aus, dass Recht nur das Gesetz und seine Anwendung sein könne, nicht etwa nur der Gesetzestext. Gerade die Rechtshistoriker sollten sich diese Vorstellung zu eigen machen und insgesamt stärker die Rechtstheorie wahrnehmen. Während lange Zeit Rechtshistoriker, die sich ihrem Fach mit einem sozialgeschichtlichen Ansatz näherten, von ihren Kollegen nicht ernstgenommen worden seien, könne sich dies nun ändern.
Jedenfalls war man sich in der Schlussdiskussion einig, dass der Dialog zwischen den beiden Disziplinen fortgesetzt werden müsse. Auch wenn Thomas Horstmann zwischendurch eine zu große Harmonie und Einigkeit der Anwesenden beklagt hatte und etwas mehr Dissens forderte: Isabelle Deflers wies zum Schluss noch einmal darauf hin, dass weite Teile der juristischen Rechtshistoriker-Zunft sich noch immer sehr um Abgrenzung bemühten und etwa diejenigen, die römisch-rechtliche Dogmengeschichte betrieben, kaum für sozialgeschichtlich inspirierte Rechtsanwendungsfragen zu interessieren seien. Insofern bildete der Workshop nur einen kleinen Teil dessen ab, worüber Historiker und Juristen sich austauschen können. Ein erster Schritt, immerhin.
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Heike Litzinger. Review of , Geschichte und Recht. Eine deutsch-französische Annäherung zwischen Geschichtswissenschaft und juristischer Rechtsgeschichtsschreibung.
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