Lotte van de Pol. Der Bürger und die Hure: Das sündige Gewerbe im Amsterdam der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2006. (broschiert), ISBN 978-3-593-38209-8.
Reviewed by Andrea Bendlage
Published on H-Soz-u-Kult (September, 2008)
L. v.d. Pol: Der Bürger und die Hure
Amsterdam war im 17. Jahrhundert eine Hochburg der Prostitution. Mit diesem Diktum beginnt die nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegende, jedoch gekürzte Habilitationsschrift von Lotte van de Pol aus dem Jahre 1996. Doch was ist im 17. und 18. Jahrhundert eigentlich unter Prostitution zu verstehen? Im kalvinistischen Amsterdam war jede Form der Sexualität außerhalb der Ehe Ausdruck abweichenden Verhaltens, das bestraft wurde. Auffallend ist jedoch, dass die ungenaue Terminologie, was denn genau unter ‚Prostitution zu verstehen sei, in den Quellen der Frühen Neuzeit (moralische Traktate, Gesetze und Verhörprotokolle) zunehmend präziser wurde (S. 16). Die günstige Quellenlage für Amsterdam ermöglicht es schließlich, sowohl das Bild als auch die Wirklichkeit – so die Autorin – in den Blick zu nehmen. Fast 9000 Prozesse hat van de Pol durchgesehen, zahlreiche Reiseberichte, Tagebücher und 'fiktionale' Quellen sowie Bilder und populäre Literatur ausgewertet. Seinen Ruf als Stadt der Prostitution verdankte Amsterdam seinen berühmt-berüchtigten Spielhäusern. Diese Spielhäuser, in denen nicht nur der Prostitution nachgegangen wurde, sondern die auch als öffentlich Tanzhäuser und Orte der Geselligkeit bekannt waren, erlebten ihre Blütezeit am Anfang des 17. Jahrhunderts. Selbst regelmäßige Razzien konnten dem Betrieb nicht dauerhaft schaden. Während im 17. Jahrhundert auch die Eliten in den Spielhäusern ein und aus gingen und ein solcher Besuch in jedem Reiseführer erwähnt wurde, beschreibt van de Pol die Prostitution im 18. Jahrhundert als ein Phänomen der Unterschichten. Mit diesem Wandel ging auch eine Veränderung der Organisation des Gewerbes einher: Die Hurenwirtinnen verschwanden, die Zahl der Männer, die das Gewerbe organisierten und kontrollierten, nahm zu.
Eine Arbeit zum Thema Prostitution in der Vormoderne ist ohne einen Rekurs auf das Thema Ehre nicht zu denken. Auch van de Pol handelt im zweiten Kapitel die in der Forschung relevanten Stichworte (Frauenehre, Männerehre, Randgruppen, Nachbarschaft‚ Topographie der Ehre) kursorisch ab. Dies ist nicht als Kritik zu verstehen, denn angesichts der inzwischen umfangreichen Forschungen ließe sich allein hierzu ein Buch schreiben. In der vormodernen ‚Schamkultur’ wurde die Ehre der Frau über ihr sexuelles Verhalten definiert, die des Mannes über seinen Status. Die Autorin geht der Frage nach, ob auch eine Prostituierte Ehre hatte, deren Lebensstil doch ganz offensichtlich von diesem Ehrkonzept abwich. Jenseits von sexueller Devianz wird jedoch ein eigenes Normen- und Wertesystem erkennbar, das durchaus Bezüge zur bürgerlichen Welt hatte (S. 61ff.). Die in den Gerichtsakten dokumentierten Fälle deuten auf ein gewisses Einvernehmen und eine gewisse Toleranz zwischen den Prostituierten und ihren bürgerlichen Nachbarn hin. Diese ‚Nähe’ zur Prostitution machte es jedoch notwendig, klare Grenzen zu ziehen. Besonders verachtet waren daher die heimlichen Huren, jene Frauen, die nicht öffentlich als Prostituierte zu erkennen waren.
Im dritten Kapitel beleuchtet die Autorin die Wahrnehmung der Prostituierten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Perspektiven. Die Haltung der Kirche war im Mittelalter zunächst geradezu tolerant. Mit Blick auf Augustinus' Lehre vom kleineren Übel predigte man zwar gegen die Sünde, hatte aber zunächst nur die so genannten Reuerinnen im Blick, jene Frauen, die dem sündigen Leben den Rücken kehren wollten. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts beschritten die Kirchen bekanntlich andere Wege, um dem Laster beizukommen. Der verzeihende Gott wich dem strafenden Vater und der Gottesfurcht, die in den Niederlanden besonders ausgeprägt war. Der strafende Vater schickte die Syphilis, die – so van de Pol – insbesondere die Oberschicht aus Angst vor Ansteckung aus den Spielhäusern vertrieb (S. 87). Nach dem Verständnis der Oberschicht waren vor dem Gesetz beide schuldig, Freier und Prostituierte. In der Praxis sah dies freilich etwas anders aus – auch dies ist mit Blick auf die Ergebnisse der Historischen Kriminalitätsforschung kein überraschender Befund: Es waren vor allem die Frauen, die die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekamen, während die Freier nicht selten zu Opfern stilisiert wurden. Van de Pol erklärt diese Einstellung mit einem besonders ausgeprägten frauenfeindlichen Klima im 16. und 17. Jahrhundert, in dem jede Frau potenziell eine Hure war (S. 89). Erst für das 18. Jahrhundert macht sie in der populären Literatur, aber auch in der Haltung der Obrigkeit einen Mentalitätswandel aus. In dieser Zeit finden sich Stellungnahmen, die durchaus Verständnis für die soziale Not der in die Prostitution geratenen Mädchen aufbrachten (S. 96).
Die strafrechtliche Verfolgung der Prostitution (Kapitel 4) schwankte zwischen Verbot und Regulierung. Obwohl man seit dem Spätmittelalter mittels Gesetzen die Prostitution zunehmend kriminalisierte und 1578 in Amsterdam offiziell verbot, konnten die Stadtväter in der Praxis mit den eigenen Vorgaben nicht Schritt halten. Zu viele verdienten an der Prostitution und auch die Unübersichtlichkeit erschwerte die systematische Verfolgung (S. 110). Die quantitative Auswertung der Quellen zeigt, dass Phasen intensiver Verfolgung von Zeiten mit geringem Verfolgungseifer abgelöst wurden. Nach Razzien schnellten die Verhaftungszahlen deutlich nach oben, während vergleichsweise wenig Verfahren aufgrund von privaten Anzeigen festzustellen sind. Mit Blick auf das vergleichsweise schlechte Ansehen der Prostituierten in der Bevölkerung ist das ein erstaunlicher Befund. Die höchsten Werte seien um 1700 zu lokalisieren, eine Zeit, in der Amsterdam sowohl mit wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen Krisen zu kämpfen gehabt habe – Krisen, die die Autorin jedoch nicht weiter ausführt (S. 117). Der Einfluss der Kirche auf die städtische Politik blieb erstaunlich begrenzt, Beschwerden der Kirchenräte führten nur sehr selten zu einem direkten Eingreifen der Obrigkeit.
Der schlechte Ruf und die mangelhafte Qualifikation der Ordnungskräfte, so die Autorin im fünften Kapitel, trugen schließlich dazu bei, dass sich die Prostitution nur schwer begrenzen ließ. Das in der Vormoderne übliche Lohnsystem beteiligte sie an den Strafgeldern und schuf damit den Nährboden für Korruption. Das so genannte 'Abkaufen' von Prozessen – auf frischer Tat ertappte verheiratete Freier hatten die Möglichkeit, gegen eine erhebliche Gebühr ein Ehebruchsverfahren abzuwenden – eröffnete den Ordnungskräften die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kupplern und Prostituierten in die eigene Tasche zu wirtschaften (S. 134ff.). Die Geldgier der Polizeikräfte, so das Fazit der Autorin, war bei der Bekämpfung der Prostitution in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert eine bestimmende Triebfeder (S. 158).
Im sechsten Kapitel nimmt die Autorin das soziale Umfeld der Prostituierten in den Blick, ihre Lebensläufe, ihre Wege in die Prostitution. Die Frauen waren im Durchschnitt 23 bis 25 Jahre alt. In der Regel galt jedoch: Je reicher die Kunden, desto jünger die Frauen. Frauen, die ins 'Milieu' gerieten, waren häufig alleinstehend und kamen nicht aus Amsterdam. Die vor Gericht angegebenen Berufe der Frauen entsprachen im Wesentlichen den Erwerbsmöglichkeiten für weibliche Arbeitskräfte im 17. und 18. Jahrhundert (Näherinnen, Textilarbeiterinnen, Dienstmägde). Der Zusammenhang von Erwerbslosigkeit, Migration, fehlenden sozialen Bindungen und Prostitution ist dabei evident (S. 166). Besonders nachteilig erwies sich der deutliche Frauenüberschuss in der Unterschicht (S. 167), viele fanden keinen Partner. Ablesen lässt sich dieses demographische Ungleichgewicht in der Kriminalitätsstatistik, die einen hohen Anteil an Frauenkriminalität aufweist (S. 168). Über die Kunden der Frauen erhält man auch in der Frühen Neuzeit nur wenige Informationen. Die Quellen vermitteln allenfalls Eindrücke. Häufig werden Seeleute, Binnenschiffer, Bauern, Fremde sowie wohlhabende Juden und Studenten genannt. Die Ostindienfahrer nahmen bei den Kunden eine besondere Rolle ein (173ff.): Sie bildeten eine eigene Subkultur und galten als unehrlich. Die lange Abwesenheit der Ostindienfahrern und ihre hohe Sterberate hatten zur Folge, dass die Seemannsfrauen über lange Zeit auf sich gestellt und ohne männlichen Versorger auskommen mussten. Nicht selten drifteten sie daher in die Prostitution ab, um das eigene Überleben zu sichern.
Im siebten und letzten Kapitel beschreibt van de Pol den engen Zusammenhang von Wirtschaft und Sexualität. Abgesehen von der Illegalität und dem schlechten Ruf war die Prostitution, so die Autorin, ähnlich organisiert wie andere vorindustrielle Gewerbe auch: Das Gewerbe war kaum produktiv, Arbeitsort war der Haushalt mit klarer Geschlechtertrennung – die Bordellwirtinnen war für das Haus verantwortlich. Es gab individuelle Arbeitsvereinbarungen und spezielle Tarife, gezahlt wurde nach Stand. Die Verschuldung der Prostituierten und damit verbundene Abhängigkeiten spielten eine große Rolle. In Amsterdam war der Verdienst der Prostituierten im Allgemeinen höher als in anderen Städten der Republik, der höhere Verdienst wurde aber durch höhere Lebenshaltungskosten und das Abtragen der Schulden mehr als aufgezehrt. Der durchschnittliche Wochenlohn einer Prostituierten entsprach etwa dem eines gelernten Arbeiters und lag zwei- bis dreimal höher als der Lohn, den eine Frau mit 'normaler' Arbeit verdienen konnte. Sinkende Tarife im 18. Jahrhundert deuten aber darauf hin, dass sich insgesamt die Situation für Frauen verschlechtert hatte (S. 206).
Auf der Grundlage eines reichhaltigen Quellenfundus' beschreibt die Autorin kenntnisreich Innen- und Außenansichten der gewerblichen Prostitution im frühneuzeitlichen Amsterdam. Die Arbeit zeichnet sich durch eine klare Sprache aus und bietet sowohl für das Fachpublikum als auch den interessierten Laien einen profunden Einblick ins Thema. Man bleibt ob der Materialfülle jedoch etwas ratlos zurück, denn die einzelnen Aspekte wirken zuweilen unverbunden und eine analytische Fragestellung fehlt. Auch der Schluss der Untersuchung vermag nicht, die zahlreichen Einzelaspekte zu bündeln, er fällt mit kaum mehr als einer Seite sehr knapp aus. Über Gemeinplätze wie "In allen großen Städten des vorindustriellen Europas war Prostitution ein wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Faktor" oder "Viele haben an der Prostitution verdient" (S. 215) reicht der analytische Blick nicht hinaus. Die wiederholt referierte ‚Trennung der Eliten vom Rest der Bevölkerung’ im Zusammenhang mit den Veränderungen in der gewerblichen Prostitution (S. 156) bleibt überdies etwas ambivalent. Haben sich die strukturellen Voraussetzungen verschlechtert, weil sich die Oberschicht als potentieller Kunde zurückgezogen hat? Der Leser bekommt am Ende der Lektüre den Eindruck von der Prostitution als einem fast normalen Gewerbe, das auch seine Schattenseiten hatte. Das ist positiv, weil die Autorin jeden voyeuristischen Blick vermeidet. Am Ende erscheinen dann die Freier, zumeist Seeleute, die ihre Heuer verprassen, als Opfer, werden sie doch von den Huren und Zuhältern – den Seelenverkäufern – übers Ohr gehauen. Die Quellen vermitteln demgegenüber einen etwas anderen Eindruck vom Verhältnis zwischen Prostituierten und Freiern: Prostituierte wurden 'gebraucht' (S. 25, 58, 81, 181, 202, 203) und, wie es mit 'gebrauchten' Dingen in der Regel geschieht, weggeworfen.
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Citation:
Andrea Bendlage. Review of van de Pol, Lotte, Der Bürger und die Hure: Das sündige Gewerbe im Amsterdam der Frühen Neuzeit.
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September, 2008.
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