Max Reinhart, ed. Early Modern German Literature, 1350-1700. Camden House History of German Literature Series. Rochester: Camden House, 2007. liii + 1094 pp. Illustrations. $110.00 (cloth), ISBN 978-1-57113-247-5.
Reviewed by Ruth von Bernuth (Department of Germanic Languages, University of North Carolina at Chapel Hill)
Published on H-German (April, 2009)
Commissioned by Susan R. Boettcher
Frühe Neuzeit über eine Literaturgeschichte hinaus
Folgt man Hans Blumenberg, so gibt es "keine Zeugen von Epochenbrüchen", denn die Epochenwende ist "ein unmerklicher Limes, an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden."[1] Epochen stellen vielmehr eine gedankliche Konstruktion dar, um historische Ereignisse zu gliedern und zu ordnen. Die aus der Geschichtswissenschaft stammende Epochenbezeichnung 'Frühe Neuzeit' ist eine solche hilfreiche Konstruktion, die sich inzwischen allgemein in historisch arbeitenden Disziplinen durchgesetzt hat. Mit Hilfe dieses vergleichsweise neutralen Begriffes wird der Zeitraum etwa vom 15. bis zum 18. Jahrhundert gefaßt, der von einer Vielzahl an Neuentwicklungen gekennzeichnet ist, die sonst mit den teilweise konkurrierenden Bezeichnungen wie Humanismus, Reformation, Renaissance oder Barock beschrieben wurden. Gleichzeitig bedeuten Veränderungen und Umbrüche auf einer Ebene jedoch nicht, daß die Zäsur durch alle Ebenen und Bereiche des kulturellen, religiösen, politischen und sozialen Lebens hindurchreicht. Vielmehr ist die Frühe Neuzeit ganz besonders von einem Nebeneinander, Miteinander und ebenso Gegeneinander von 'Altem' und 'Neuem' gekennzeichnet.
Auch wenn seit den achtziger Jahren Lehrstühle für frühneuzeitliche Literatur eingerichtet wurden, ist es umso erstaunlicher, daß es bislang noch keine umfassende deutsche Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit gab. Ein Grund liegt dabei sicherlich in der institutionellen Trennung von Älterer und Neuerer deutscher Literatur, wie sie beispielsweise an deutschen Universitäten üblich ist. Somit enden auch die meisten literaturgeschichtlichen Darstellungen aus mediävistischer Perspektive im 16. Jahrhundert (wie Max Wehrlis Geschichte der deutschen Literatur [1997]) oder aber beschäftigen sich ausschließlich mit dem 15. und 16. Jahrhundert (wie Thomas Cramers Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter [2000] und die in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur erschienene Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit von Werner Röcke und Marina Münkler [2004]). Mit einem Band zum 17. Jahrhundert führt die letztgenannte Reihe ihre Literaturgeschichte fort und steht damit exemplarisch für eine Trennlinie, die auch andere Literaturgeschichten zur deutschen Literatur zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert vollziehen.[2]
Das großangelegte Vorhaben von Max Reinhart, das sich über den Zeitraum von 1350 bis 1700 erstreckt und als vierter Band der Camden House History of German Literature erschienen ist, kommt daher das Verdienst zu, den Versuch unternommen zu haben, eine solche Lücke zu füllen. Nach einer ausführlichen Einleitung des Herausgebers folgen 26 Beiträge, die sich in fünf Teile gliedern. Im ersten Block, der sich mit den Übergängen vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit beschäftigt, findet sich ein Kapitel zur Sprachgeschichte (Renate Born), ein weiteres zur Literaturgeschichte der Übergangszeit 1300-1500 (Graeme Dunphy) und zwei Beiträge zur Epoche selbst, wobei hier neben einer theoretischen Grundlegung zur Frühen Neuzeit (Klaus Garber) das Modell der Mittleren Deutschen Literatur sowie bereits abgeschlossene und laufende Editionen (Hans-Gert Roloff) vorgestellt werden. Der zweite Teil faßt unter dem Titel "Formations" nicht nur das Bildungswesen (Wilhelm Kühlmann), sondern auch die Reformation (C. Scott Dixon), die Entwicklung des Buchdrucks (Stephan Füssel), die Poetiken und Rhetoriken (Joachim Knape), die neulateinische Literatur (Wilhelm Kühlmann) und einen Beitrag zu den Humanisten als Herausgeber und Übersetzer (Erika Rummel). Der dritte Teil ist den Gattungen gewidmet, wobei hier neben der klassischen Dreiteilung von Dramatik (John Alexander), Lyrik (Peter Hess) und Epik (Andreas Solbach) noch die Emblematik (Peter M. Daly) als spezifisch frühneuzeitliches Phänomen hinzutritt. Im vierten Teil "Representations" wird die kulturwissenschaftliche breite Anlage des Bandes sichtbar, denn neben der höfischen Literatur (Helen Watanabe-O'Kelly) sowie Reiseberichten (Wolfgang Neuber) und dämonologischen Schriften (Gerhild Scholz Williams) werden auch die Bildsprache (Jeffrey Chipps Smith), die petrarkistische Liebesdichtung (Gerhart Hoffmeister), die Musik (Steven Saunders) und das frühneuzeitliche Bibliotheks- und Sammlungswesen (Jill Bepler) untersucht. Der abschließende fünfte Teil ist biographischen Darstellungen gewidmet, die anhand von parallel angeordneten Lebensläufen über den Einzelfall hinausgehen. Heinrich Steinhöwels, Albrecht von Eybs und Niklas von Wyles Leben (John L. Flood) werden vor allem vor dem Hintergrund ihrer Übersetzungsleistungen und der Vorarbeit für Martin Luthers Bibelübertragung nachgezeichnet. Ein weiterer Beitrag stellt das Verhältnis von Desiderius Erasmus und Martin Bucer (Laurel Carrington) dar, das durch viele Gemeinsamkeiten jedoch auch Auseinandersetzungen in den konfessionellen Spannungen gekennzeichnet war. Mit der Freundschaft im dichterisch ähnlichen aber sozial wie politisch ungleichen Leben von Martin Opitz und Julius Wilhelm Zincgref beschäftigt sich Theodor Verweyen. Das ebenfalls ungleiche Paar Sigmund von Birken und Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, das sich seit der Hofmeistertätigkeit Birkens am Wolfenbütteler Hof kannte, steht im Mittelpunkt des Beitrags von John Roger Paas. Das sich anschließende letzte Kapitel befaßt sich mit schreibenden Frauen zwischen 1520 und 1720 (Anna Carrdus).
Bei einer so großen Vielzahl an Beiträgen ist eine gewisse Heterogenität nicht auszuschließen, zumal Aufbau und Ausrichtung der einzelnen Kapitel sehr unterschiedlich vorgenommen wurden. Auch die zeitlichen Schwerpunkte werden in einzelnen Abhandlungen unterschiedlich gesetzt und decken nicht immer den gesamten Zeitraum des Bandes ab. Positiv fällt auf, wie viele Beiträge aufeinander verweisen, die sich tatsächlich gewinnbringend verbinden lassen. Im Folgenden kann aufgrund des Umfang des Bandes nur exemplarisch auf einzelne Kapitel eingegangen werden.
In den ersten beiden Teilen wird vor allem durch die Aufnahme von Abhandlungen zur neolateinischen und Übersetzungsliteratur (Kühlmann und Rummel) sowie durch Kapitel mit ausgewählten Schwerpunkten, die neben der deutschen vor allem auch lateinische Literatur mit einbeziehen, ein facettenreiches Bild der frühneuzeitlichen deutschsprachigen Territorien und ihren Verbindungen mit anderen europäischen Kulturen dargestellt. Auch Graeme Dunphys Beitrag zur Übergangszeit, der sich mit der Literatur am Hof, im Kloster und in der Stadt im 14. und 15. Jahrhundert auseinandersetzt, leistet einen wichtigen Beitrag zum Thema des interkulturellen Kontakts, da er im letzten Abschnitt auf Jiddisch als eine weitere Sprache verweist, die in deutschsprachigen Territorien und darüber hinaus benutzt wurde. Leider bricht die Darstellung um 1500 ab und damit können wichtige altjiddische Werke, die überwiegend erst später entstanden, nicht mehr genannt werden.
Weitere Beiträge veranschaulichen, wie gewinnbringend es sein kann, wenn der gesamte Zeitraum der Frühen Neuzeit abgedeckt wird. So kann Joachim Knape anhand der Poetik- und Rhetorikschriften des 15. bis 17. Jahrhunderts größere Entwicklungslinien ziehen und so auch der häufig getroffenen Fehleinschätzung begegnen, daß Opitz "no previous exposure to German-language theoretical influences" (S. 270) hatte. Ebenso vermag Wilhelm Kühlmann durch die zeitliche Auswahl von Schriften zur Erziehung, die von den frühen italienischen Humanisten des 14. Jahrhunderts bis zu Schulordnungen des 17. Jahrhunderts reichen, beispielsweise wichtige Einflüsse der Humanisten auf die Erziehungsliteratur des 17. Jahrhunderts darstellen.
Bei der Gliederung des dritten Teils stellt sich die Frage, ob die sich erst in der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert durchsetzende Unterscheidung von Drama, Lyrik und Epik für die frühneuzeitliche Literatur tatsächlich eine sinnvolle Einteilung darstellt. Im Hinblick auf diese Problematik diskutiert Peter Hess in seinem Beitrag den Begriff 'Lyrik' aus frühneuzeitlicher Perspektive und bietet dazu eine umfassende Darstellung der verschiedenen Formen, die von der volkssprachlichen Lyrik in der mündlichen Vortragssituation bis hin zu volkssprachlich gelehrter Dichtung in der humanistischen Tradition reichen. Die Artikel zur Epik und zum Drama schränken dagegen ihre Textauswahl von vornherein ein und setzen beide ihren zeitlichen Schwerpunkt verstärkt auf das 17. Jahrhundert. So konzentriert sich Andreas Solbach in seinen Ausführungen zur "Early modern German narrative prose" auf den Roman, ohne diese Auswahl allerdings zu begründen. Die eingeschränkte Materialauswahl hat unter anderem zur Folge, daß von den in der Frühen Neuzeit weit verbreiteten Schwanksammlungen nur Johann Paulis Schimpf und Ernst (1522) und Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein (1555) im gesamten Band einzig in Gerhart Hoffmeisters Artikel zur petrarkistischen Liebesdichtung erwähnt und dort als Beispiele der frühneuzeitlichen volkssprachigen Decamerone-Rezeption genannt werden.
Im Beitrag von John Alexander zum frühneuzeitlichen Drama zwischen 1400 und 1700 werden nicht nur das geistliche Spiel, das Fastnachtspiel und das Reformationsdrama kursorisch und auf einem veralteten Forschungsstand abgehandelt, sondern es werden auch keine Verbindungslinien zum 17. Jahrhundert gezogen.[3] Doch gerade hier hätten beispielsweise Spiele von Jakob Ayrer, die sowohl in der Nürnberger Fastnachtspieltradition stehen als auch schon eine Form des Singspiels darstellen und mit einer dem Pickelhering verwandten Rolle den Einfluß der englischen Komödie auf die deutsche Tradition zeigen, eine sinnvolle Ergänzung dargestellt.
Der vierte Teil ergänzt und erweitert vor allem mit seinen informativen Beiträgen zur Kunst, Musik sowie zum frühneuzeitlichen Bibliotheks- und Sammlungswesen (Smith, Saunders und Bepler) die ersten drei Teile des Bandes, die sich vornehmlich mit der Literatur beschäftigen. Helen Watanabe-O'Kelly verdeutlicht die Transformation der Höfe in der Frühen Neuzeit.
Der letzte Teil, der sich den verschiedenen biographischen Skizzen widmet, stellt eine gelungene Abrundung des Bandes dar. So ergänzt sich beispielsweise hervorragend die biographische Skizze zu Erasmus (Carrington) mit den Kapiteln zur Erziehungs- und Übersetzungsliteratur (Kühlmann und Rummel), die weitere Schriften des Humanisten besprechen. Insgesamt ist jedoch fraglich, warum alle Einzelskizzen ausschließlich Männern gewidmet sind, während weibliches Schreiben--das "often tended to be intensely personal in nature" (S. ix)--in einem Gesamtkapitel abgehandelt wird. Will man hier die Genderperspektive produktiv machen, wäre nicht eine Trennung, sondern--wie im Band am Beispiel der Parallelbiographien erfolgreich praktiziert--Gegenüberstellung von Schreiberinnen und Schreibern als Parallelleben gewesen.
Ingesamt belegt der Band, wie ergiebig es sein kann, von einem solchen Konstrukt, wie es die Frühe Neuzeit darstellt, in einer Geschichte der deutschen Literatur auszugehen. Der Herausgeber begründet die Notwendigkeit einer solchen Epocheneinteilung, die eben nicht zwischen Renaissance und Reformation auf der einen und Barock auf der anderen Seite unterteilt, überzeugend in seiner Einleitung mit der frühneuzeitlichen Narrenliteratur, die ihren Auftakt im 15. Jahrhundert mit Brants Narrenschiff (1494) hat, aber weit bis in das 18. Jahrhundert hineinreicht. Ähnliches gilt für andere frühneuzeitliche Phänomene wie die Emblematik oder aber auch die an den Höfen am Ende des 15. Jahrhunderts entstehenden Kunstkammern. Doch auch eine solche Bewegung wie die Reformation, die nicht nur unmittelbar das religiöse Leben beeinflußt, sondern auch Musik, Kunst und Literatur nachhaltig geprägt hat, reicht weit über das 16. Jahrhundert hinaus. Damit kann der Band gut zeigen, wie Neues und Altes in der Frühen Neuzeit eng miteinander verquickt ist, gegeneinander steht oder sich voneinander ablöst. Er regt an, weitere Querverbindungen zwischen den Jahrhunderten zu ziehen, die bisher oft durch Fachgrenzen voneinander getrennt wurden. Damit stellt das großangelegte Unternehmen, an dem sich Wissenschaftler beteiligten, die an amerikanischen, kanadischen, englischen und deutschen Universitäten lehrten und lehren mit über tausend Seiten eine international erfolgreiche Kooperation und durch die breite Ausrichtung der Beiträge ein interdisziplinäres Projekt dar, das weit über die deutsche Literatur der frühen Neuzeit hinausreicht. Es belegt eindrücklich nicht nur die Forschungsleistungen in den Frühneuzeitstudien der letzten Jahrzehnte, sondern weist auch auf noch verbleibende Forschungsdesiderata hin. Abgesehen von einzelnen Einschränkungen stellt der Band damit eine empfehlenswerte Einführung in die frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur dar.
Notes
[1]. Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976), 20.
[2]. Albert Meier, Die Literatur des 17. Jahrhunderts (München: Hanser, 1999). Die Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart von Helmut de Boor und Richard Newald trennt zwischen dem ausgehenden Mittelalter, Humanismus und Renaissance (Band 4, 1) und dem Zeitalter der Reformation (Band 4, 2). Die Reihe führt dann vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit (Band 5) fort. Auch das umfangreiche Vorhaben Die deutsche Literatur: Biographisches und bibliographisches Lexikon (Stuttgart: Fromann-Holzboog, 1983ff) trennt zwischen Reihe 2: Die deutsche Literatur zwischen 1450 und 1620 und Reihe 3: Die deutsche Literatur zwischen 1620 und 1720.
[3]. Neuere Forschungsliteratur wie beispielsweise Norbert Schindler, Widerspenstige Leute: Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992) oder Überblicksdarstellungen wie Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530: Untersuchung und Dokumentation (Tübingen: Niemeyer, 2003) wird nicht erwähnt.
If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: https://networks.h-net.org/h-german.
Citation:
Ruth von Bernuth. Review of Reinhart, Max, ed., Early Modern German Literature, 1350-1700.
H-German, H-Net Reviews.
April, 2009.
URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=23091
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 3.0 United States License. |