Andrea Görldt. Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser: Ihre Konflikte in der SED-Führung im Kontext innerparteilicher Machtsicherung und sowjetischer Deutschlandpolitik. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2002. 488 S. ISBN 978-3-631-39895-1.
Reviewed by Jochen Laufer
Published on H-Soz-u-Kult (May, 2003)
A. Görldt: Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser
Die Dissertation von Andrea Görldt liest sich wie der ambivalente Versuch sowohl einer Rehabilitierung von zwei frühen Opfern der Herrschaft Walter Ulbrichts als auch des Nachweises ihres Widerspruchs gegen dessen stalinistische Politik. Während ältere Untersuchungen den oppositionellen Charakter der Positionen von Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt anerkannten, leugneten nach 1989 ostdeutsche Autoren diese Dimension. Armin Mitter und Stefan Wolle qualifizierten sie als „politische Ehrgeizlinge in der DDR Führung“ Mitter, Armin; Wolle, Stefan, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 55. . Thomas Klein spricht von „apparatekonformer Konfliktbereitschaft“ und spricht ihnen „oppositionelles Handeln“ ab. Klein, Thomas, Die Herrschaft der Parteibürokratie. Disziplinierung, Repression und Widerstand in der SED, in: APuZ B20 (1996), S. 8. Von der 1991 vorgelegten Untersuchung des „Falls“ Herrnstadt durch Müller-Enbergs Müller-Enbergs, Helmut, Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni, Berlin 1991. unterscheidet sich Andrea Görldt durch die Einbeziehung Wilhelm Zaissers und die Eröffnung der inhaltlichen Dimension des Konflikts innerhalb der SED-Führung.
Auf neue Quellen kann sie sich, abgesehen vom Bestand der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK), leider nicht stützen. Gerade diese Untersuchungsakten erweisen sich jedoch durchaus als problematisch: Da sie die Konstruiertheit des Falls belegen, bieten sie keine authentischen Äußerungen von Herrnstadt und Zaisser, die deren inhaltliche Kritik an Ulbricht untermauern könnten. Die Auswertung der ZPKK-Akten erklärt möglicherweise die „Parteinahme“ der Autorin für die damals unrechtmäßig Angeklagten. Damit schleicht sich ein Widerspruch in die Untersuchung. Gerade weil durchaus überzeugend die Konstruiertheit der damaligen Beschuldigungen nachgewiesen wird, verlieren die von Görldt angeführten Argumente für tatsächlich vorhandene inhaltliche Konflikte an Überzeugungskraft. Gegen Ende ihrer Untersuchung räumt Görldt ein: Herrnstadt und Zaisser „stellten weder die Vorhutrolle noch das Machtmonopol der SED als wesentliche Grundlage des Systems in Frage, dessen Grundpfeiler sie intakt sahen“ (S. 425).
Einen Schwerpunkt der Untersuchung bildet die Rolle von Herrnstadt und Zaisser während des 17. Junis 1953 und der internen Auseinandersetzung innerhalb der SED-Führung in den Tagen nach der Volkserhebung in der DDR. Aus der Distanz des Jahres 2003 wirken die auf Organisationsfragen beschränkten Reformvorschläge Herrnstadts vom 25./26. Juni (Umbenennung des Politbüros in „Präsidium des ZK“) (S. 300) nicht weniger hilflos als vergleichbare „Reformansätze“ des letzten Generalsekretärs der SED im Herbst 1989. Dies sieht auch Görldt so und wirft Herrnstadt und Zaisser vor, sie hätten „in der günstigen Phase vor dem 17. Juni versäumt, die Partei, die Öffentlichkeit und die sowjetische Besatzungsmacht vor vollendete Tatsachen zu stellen und Ulbricht aus der Führung abzusetzen“ (S. 381). Die Volkserhebung in der DDR und der Sturz Berijas in der UdSSR durchkreuzten die zögerliche Kritik von Herrnstadt und Zaisser an Ulbricht und konnten nur von Letzterem genutzt werden, seine Kritiker auszuschalten (S. 427).
Ein Schwachpunkt der Arbeit liegt im bisherigen Forschungsstand zur sowjetischen Deutschlandpolitik im Umfeld der Stalinnote vom 10. März 1952 begründet. Die Autorin kann sich hier nicht auf gesicherte Erkenntnisse stützen, sondern muss zwischen widerstreitenden Hypothesen wählen. Wie Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser nimmt auch Andrea Görldt die Verständigungsbereitschaft Stalins und Berijas ernster als es die bisher bekannten Quellen zulassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der „Fall Berija“ in der UdSSR ebenso konstruiert war wie der Fall Herrnstadt/Zaisser in der DDR, wird nicht erwogen. Die interessante Auswertung der Kontakte zwischen Herrnstadt und dem Politischen Berater der SKK, Vladimir S. Semenov, bleibt angesichts der Spärlichkeit der Quellen episodisch. Dies zeigt einmal mehr die Beeinträchtigung der Untersuchung von Konflikten innerhalb des DDR-Herrschaftsapparates durch den fehlenden Zugang zu sowjetischen Quellen. Jede Kritik an den bestehenden Verhältnissen und noch mehr alle Reformansätze mussten den sowjetischen Faktor berücksichtigen.
Das anzuerkennende Bestreben der Autorin, historische Entwicklungen des deutschen Kommunismus und inhaltliche Debatten, an denen die Konfliktparteien beteiligt waren, möglichst detailliert zu analysieren, hat die Rekapitulation gut bekannter Vorgängen zur Folge. Dies betrifft zum Teil auch die biografischen Skizzen, die nur im Fall der erstaunlich positiv gezeichneten Darstellung von Wilhelm Zaisser (S. 119-126) Neues bieten. Es ist ein Verdienst von Görldt, sehr verstreute Indizien für die Kritik von Zaisser an der Arbeitsweise der SED-Führung (das unklare Verhältnis des Sekretariats zum Politbüro) zusammengetragen zu haben (S. 136f.), doch reicht dies keineswegs aus, um inhaltliche Differenzen nachzuweisen.
Da, wo Herrnstadt die SED-Führung kritisierte, geschah dies innerhalb der engen Grenzen der herrschenden Parteilinie, die sich jedoch durchaus wandeln konnte und mitunter schärfste Kritik einschloss. Aus der von Herrnstadt am 9. Juni 1953 angesichts der sich zuspitzenden Krise in der DDR geäußerten Kritik, die SED sei „von einem irrealen, metaphysischen“ Standpunkt an die nationale Frage herangegangen (S. 251), ergaben sich für diesen weder vor noch nach dem 17. Juni politische Konsequenzen. Die Untersuchung verdeutlicht vielmehr, dass Herrnstadt und Zaisser eine konzeptionelle Alternative zu Ulbrichts Linie fehlte. Wahrscheinlich ungewollt erscheinen Zaisser und Herrnstadt als politische Träumer, die die DDR nicht zugunsten eines bürgerlichen Gesamtdeutschlands preisgeben wollten, sondern hofften, „es würde kurzfristig zu einer Wiedervereinigung und zur Schaffung eines sowjetfreundlichen bzw. langfristig im Endeffekt zu einem sozialistischen Gesamtdeutschland kommen“ (S. 255).
Die inhaltliche Kritik von Herrnstadt und Zaisser an Ulbricht, die – wie Görldt akribisch anhand der Sekundärliteratur herausarbeitet – sich seit 1951 entwickelte, resultierte nicht aus persönlichem Ehrgeiz, sondern aus ihrer Unzufriedenheit mit bestimmten Aspekten der SED-, DDR- und deutschlandpolitischen Entwicklung. Diese Unzufriedenheit blieb jedoch konzeptionell unbestimmt. Aus ihr resultierte jedenfalls nicht eine klare Entschlossenheit, Ulbricht abzulösen. Während ihrer Mitgliedschaft in der SED-Führung konnten sie sich zu keinem Zeitpunkt von der SED-Ideologie lösen. Ihre partielle Kritik an Ulbricht, so inhaltlich fundiert sie auch immer gewesen sein mag, blieb immer illusionär. Auch bei Görldt bleibt der Übergang Herrnstadts und Zaissers vom scheinbar reibungslosen Mitwirken bei der Errichtung der SED-Herrschaft zur Unzufriedenheit mit bestimmten Aspekten dieser Diktatur ungeklärt. Weiterhin deutet vieles darauf, dass persönliche Animositäten sowohl für das Aufbrechen von Differenzen zu Ulbricht als auch für die Verhinderung einer Verständigung mit anderen früheren und späteren Kritikern Ulbrichts (Dahlem, Ackermann und Schirdewan) eine maßgebliche Rolle spielten. Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt bleiben tragische Gestalten der (ost-)deutschen Revolutionsgeschichte, die daran scheiterten, dass sie sich nicht zu dem durchringen konnten, was ihnen vorgeworfen wurde: zu einer Distanz zur SED.
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Citation:
Jochen Laufer. Review of Görldt, Andrea, Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser: Ihre Konflikte in der SED-Führung im Kontext innerparteilicher Machtsicherung und sowjetischer Deutschlandpolitik.
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