Silvia Rief. Rustungsproduktion und Zwangsarbeit: Die Steyrer-Werke und das KZ Gusen. Der Nationalsozialismus und seine Folgen. Innsbruck: StudienVerlag, 2005. 209 pp. EUR 29.90 (paper), ISBN 978-3-7065-1530-6.
Reviewed by Rolf Schmolling (Independent Scholar [Berlin])
Published on H-German (October, 2009)
Commissioned by Susan R. Boettcher
Überwachte Aufrustung
Die Autorin untersucht am Beispiel von Fritz K., eines Laufrichters der Steyrer-Werke, seine Handlungszusammenhänge und -Spielräume und Positionierung im Kontext gegenwärtiger Erinnerungszusammenhänge als ehemaliger Rüstungsarbeiter. Hervorzuheben ist, daß K. 1944 Leiter eines Arbeitskommandos von KZ-Häftlingen des Konzentrationslagers Gusen wurde. Wesentliche Quellenbasis der Untersuchung sind lebensgeschichtliche Interviews, an deren Chronologie sich die vorliegende Arbeit orientiert. Rief hat auch aktuelle Debatten der Forschung zu Alltagsgeschichte, neue Forschungsergebnisse und Quellenmaterialien eingearbeitet.
Wie so oft, wenn es um die Erforschung der NS-Zeit geht, konnte Rief nicht auf die Firmenakten der Steyrer-Werke zurückgreifen. Dieser bedauerliche Umgang von Unternehmen mit ihrer NS-Vergangenheit existiert in Österreich also ebenso wie in Deutschland. Zugriff erhielt sie nur auf das Bildarchiv der Steyrer-Werke. Ergänzen konnte die Autorin ihre Quellenbasis durch eine Fragebogenumfrage unter polnischen und ukrainischen ehemaligen ZwangsarbeiterInnen. Außerdem hat sie Melderegister von Gemeinden um Letten und Unterlagen der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse herangezogen, um Zahlen für den Anteil an ZwangsarbeiterInnen an der Gesamtbevölkerung im betreffenden Gebiet zu ermitteln. Bemerkenswert ist dabei, daß die erstgenannten Unterlagen bei den Recherchen für die Diplomarbeit noch als "verschollen" gemeldet wurden (S. 9).
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. In einer ausführlichen Einleitung führt Rief in die Thematik ein und erläutert den theoretischen Hintergrund in Bezug auf ihre Fragestellung sowie die gewählte Methodik. Die Autorin orientiert sich an Ansätzen von Mikrohistorie und Alltagsgeschichte, die nach ihrem Verständnis durch einen "'mikroskopischen' Blick ein begrenztes Beobachtungsfeld genau durchleuchteten und dieses als Kristallisationspunkt verschiedener Wechselbeziehungen auffasse" (S. 20). Rief will sich "lebens- und alltagsgeschichtliche Komplexitäten" widmen, auch wenn das nicht der eigentliche Untersuchungsgegenstand sei (S. 20). Im Zentrum stünden vielmehr die Frage nach dem Verhältnis von Aneignung und Eigensinn der Individuen unter den Bedingungen der NS-Diktatur, "vor allem fokussiert auf die jeweilige Arbeitswelt" (S. 24). Dabei möchte sie--vermittelt durch ihre Quellenbasis der lebensgeschichtlichen Interviews--die Interaktion zwischen dem kommunikativen, oralen Gedächtnis und anderen "Speichergedächtnisformen" untersuchen. Der "historische Sinnbildungsprozess" als Ergebnis dieser Interaktion solle dabei zugleich kritisch reflektiert werden (S. 32).
Bei der Analyse der Interviews zieht Rief die formale Struktur der Erzählung maßgeblich mit ein, um so die vom Erzähler eingeführten Selektionsprinzipien für die Auswahl und Kombination von Bedeutungselementen zu dechiffrieren. Sie geht dabei seriell vor, indem sie die "Eingangserzählung" nach thematischen und temporalen Zusammenhängen und Textsorten gliedert. Daran schloß sich eine Rekonstruktion von Handlungssituationen ("erlebtes Leben") und eine Analyse der Erzählung selbst, als "Abfolge von Sequenzen und darin getroffenen Auswahlentscheidungen" an (S. 35). In beiden Fällen kontrastiert sie dabei die erzählte Handlung mit möglichen alternativen Fortgängen, um einmal "spezifische Handlungsmuster" herauszuarbeiten und andererseits die Selektionsprinzipien des Textes offen zu legen (S. 35). Ein zentraler, analytischer Begriff ist für Rief die "Absperrung", das soll heißen ein psychologischer Mechanismus der es den Erzählenden erlaube, Geschehnisse und die Erinnerung daran als unverbundene, dissoziierte Elemente zu behandeln. Beispiele seien das Ausblenden der NS-Verfolgungspolitik oder deren Subsumierung unter das Kriegsgeschehen.
Den weiteren Teil des Buches hat Rief entsprechend den wesentlichen Abschnitten der Erzählung von Fritz K. folgend gegliedert. Sie sind mit "Die Zeit zwischen den Kriegen" (II), "Als Laufrichter in der Rüstungsfabrik in Letten" (III) und "Als Zivilarbeiter im Konzentrationslager Gusen I, 1944–1945" (IV) überschrieben. Fritz K. wurde zusammen mit seiner Frau Anna interviewt, die ebenfalls bei den Steyrer-Werken beschäftigt war. Es kann hier nicht im Einzelnen auf alle Ergebnisse Riefs eingegangen werden. Stattdessen soll ihre Vorgehensweise an einem Beispiel vorgestellt werden.
Im Teilkapitel "Kriminalisierung und Disziplinierung: die 'Götter' der Fabrik" (im Abschnitt III, S. 114–124) setzt sich Rief mit den betrieblichen und lokalen Strategien zur Überwachung einer vom NS-Regime mit Misstrauen beäugten--ausländischen wie inländischen--Bevölkerung auseinander. Letten war ehemalige "kommunistische Hochburg" und die Steyrer-Werke wurden als Rüstungsbetrieb deshalb von den NS-Behörden mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet. Rief beginnt mit einer Darstellung der lokalen Entwicklung und Ausprägung des betrieblichen wie außerbetrieblichen Überwachungsapparates basierend auf Archivmaterial, um dann die Erzählungen ihrer Interviewpartner mit einzubeziehen und genauer zu analysieren. Zentral werden die Arbeit des "Abwehrbeauftragten" und des ihm unterstellten Werkschutzes, sowie die Zusammenarbeit mit der Gestapo anhand von Beispielen näher erläutert. Wie allgemein üblich wurden ausländische Arbeitskräfte erfaßt und ihr Verhalten beobachtet. Aber auch die inländische Bevölkerung stand unter Beobachtung. Im Werk wurde ein "System wechselseitiger Überwachung" installiert, "Vertrauensmänner" des Werkschutzes wurden angehalten, Beobachtungen und Bewertungen über ihre ArbeitskollegInnen in einer Kartei anzulegen (S. 117). Zusätzlich kamen Spitzel und "Vertrauensleute" des Werkschutzes zum Einsatz, die gleichzeitig geeignet waren, die Arbeit des Werkschutzes selbst zu überprüfen.
Interessant wird die Schilderung der Maßnahmen des Repressionsapparates vor allem dann, wenn Riefs Gesprächspartner Möglichkeiten diese zu unterlaufen schildern, so etwa, wenn ausländische Arbeitskräfte Ausschußobjekte aus dem Fenster warfen, um sich so vor dem Vorwurf der Sabotage zu schützen. Wie real diese Gefahr tatsächlich war, macht das von Rief gewählte Beispiel eines polnischen Laufschmirglers deutlich, der aufgrund "erhöhter, überdurchschnittlicher Ausschussproduktion" wegen "Gefährdung der Schlagkraft der deutschen Wehrkraft" angeklagt und zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde (S. 118). Rief charakterisiert die Beteiligung des zivilen Aufsichtspersonals im Betrieb, also der Vorarbeiter und Meister als "erste Schaltstelle" in der Kategorisierung und Kriminalisierung von Arbeitshandlungen. Ihre Gesprächspartner erzählten, daß bei zu großen Ausschußmengen regelmäßig mit KZ-Haft gedroht wurde. Sie weist allerdings darauf hin, daß sich diese vorgesetzten Angestellten mitnichten alle für derartige Praktiken hätten einspannen lassen.
Die Überwachungsmaßnahmen hätten sich auch nicht nur auf die ausländische Bevölkerung beschränkt; Rief stellt fest, daß die Repressionsmaßnahmen gegenüber AusländerInnen auch Auswirkungen gegenüber der inländischen Bevölkerung gezeitigt hätten. So sei mit dem Hinweis auf "gleiche Behandlung" Anzeigen wegen "Wehrkraftzersetzung" und "staatsfeindlicher Äußerungen" erfolgt. Rief macht deutlich, daß die Tätigkeit des Werkschutzes der Steyrer-Werke eine starke Ausdehnung über den Bereich des Betriebes hinaus erfahren habe.
Wie in vielen anderen Städten des Deutschen Reiches wurden in Letten öffentliche Hinrichtungen von ausländischen ZwangsarbeiterInnen durchgeführt, so z.B. im Februar 1942 ein polnischer Zwangsarbeiter wegen eines "GV-Deliktes", also verbotenen sexuellen Kontakten zur einheimischer Bevölkerung unter den Bedingungen der rassistischen NS-Gesetzgebung. Fritz K. erinnerte sich an zahlreiche Hinrichtungen. Rief weist aber darauf hin, daß dies von ihm vorrangig in Zusammenhang mit Verschärfung der Arbeitsdisziplin gebracht wurde. Sie deutet diese Assoziation als Symptom der "Absperrung": das Geschehen wird in den Kontext des (Arbeits-)alltags gestellt und Fritz K. reproduziere so die kompensatorische Funktion von Routinehandlungen in seiner Erzählung "mimetisch" (S. 122). In seiner Erinnerung seien die Hintergründe der Exekutionen fragwürdig geblieben, was Rief als "Wahrnehmungsabwehr" deutet (S. 123).
Insgesamt hätten Fritz K. und seine Frau nur "andeutungsweise" von den Disziplinierungsmaßnahmen in der Fabrik berichtet (S. 123). Er und seine Frau hätten zwar vom Werkschutz berichtet, den sie als "Götter" bezeichneten (S. 123). Genaueres zu deren Auftreten und Verhalten sei aber nicht berichtet worden. Eine "Verhaftung" allerdings sei Fritz K. deutlicher im Gedächtnis geblieben: Seine Frau sei wenige Wochen vor Kriegsende aufgrund einer Denunziation ihres Vorgesetzten zum Werkschutz vorgeladen worden. Sie habe sich immer wieder negativ über den Krieg geäußert und Kontakte mit tschechischen KollegInnen unterhalten. Anna K. bringt den Vorgang aber auch in den Zusammenhang mit einem persönlichen Racheakt wegen zurückgewiesener sexueller Ansprüche durch ihren Vorgesetzten. Im Verhör sei es auch um ihren Mann und dessen fehlendem Engagement bei der SA gegangen.
Rief analysiert die Verhältnisse in Letten mit Hinblick auf die Disziplinierungspraktiken in den Steyrer-Werken als "integrierten Herrschaftsraum", der über den Arbeits- in den Lebensraum hinein reiche (S. 124). Ein wechselseitiges Beobachtungssystem mit verschiedensten persönlichen Beziehungen und Verpflichtungen habe einen "dicht verwobenen Überwachungsraum" hergestellt, in dem die Grenzen des privaten und Öffentlichen verschwommen seien (S.124). Die staatliche Überwachung habe nicht nur von oben funktioniert, sondern sei von "unten" als Mittel sozialer Konfliktregelung angeeignet worden. Dabei hätten sich die "rassistisch und sexistisch geprägten Diskurse" mit bestehenden Vorurteils- und Deutungsmustern vermischt, gelegentlich aber auch auf Widerstand gestoßen (124). Riefs Fazit für diesen Abschnitt bleibt dennoch "die 'Götter' hatten ihre 'Diener'" (S. 124). Bedauerlich erscheint in diesem Abschnitt nur, daß die Erklärung für den Begriff "Götter" erst ganz am Schluß folgt, wo doch bereits die Überschrift darauf verweist.
Von den weiteren Ergebnisse des Buches, die Rief in einem abschließenden Resümee zusammenfaßt, seien hier nur noch ein paar weitere Punkte genannt: Rief macht bei Fritz K. und seiner Frau eine zumindest teilweise Identifikation mit dem NS-Regime aus, die sie vor allem im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Sicherheit nach der Wiederaufnahme der Rüstungsproduktion in Letten sieht. Gleichzeitig sei diese Identifikation "bereits früh", spätestens aber mit dem Beginn des Krieges "abgebröckelt" (S. 159). Negative Aspekte des Regimes seien von positiven "abgeschieden", womit sich eine fortdauernde Identifikation mit dem Regime habe aufrechterhalten lassen (S. 159). Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Politiken seien "zum Teil" bis in die Gegenwart erhalten geblieben (S. 159). Als Beispiel führt sie den im Interview verwendeten Begriff der "Schnäppchen" für Zwangs(ab)verkäufe von jüdischen Geschäften an. Eine "imaginierte eigene Opfer-Rolle" habe sich vor die jüdischen Opfer des NS geschoben (S. 159).
Für Fritz K. und seine Frau macht sie eine Strategie der "performativen Anpassung" aus, ein nach außen so tun, als ob man mitmache, und so "vielleicht [sic!] einen inneren Raum der Distanz" zu erhalten, der aber auch weitere Identifikation begünstigt haben könne (S. 24). Hier wird deutlich, daß es sehr schwer ist, aus dem verwendetem Quellenmaterial zu definitiven Aussagen zu gelangen. Rief äußert sich sehr differenzierend, um den "komplexen Verhältnissen" gerecht zu werden (S. 24). Gleichzeitig ist in Frage zu stellen, wo die "innere Distanz" denn auszumachen sei, wenn es doch vordergründig um Aneignung und daraus folgende Handlungen und -Spielräume ginge?
Rief argumentiert mit Verhalten, daß von den NS-Normen und -Werten abwich, vor allem im Zusammenhang mit Kontakten zu FremdarbeiterInnen (TschechInnen und PolInnen), wobei zu den ersteren auch "persönliche Nahverhältnisse" bestünden hätten, während letztere--in Übertretung des Kontaktverbotes--zu "privaten Dienstleistungen" herangezogen worden seien (S 159). Im KZ Gusen sei es Fritz K. mit seinem durch "vordergründige Anpassung" erwirtschafteten "sozialen Kapital" möglich gewesen, Normen und Vorschriften zu umgehen: Rief bringt dies aber in Zusammenhänge wie die Beteiligung an den "Tauschstrukturen des KZ-Schwarzmarktes", die insgesamt doch eher fragwürdig erscheinen (S.160-161).
Rief liefert mit ihrem Werk eine interessante Arbeit, die eine Basis für fruchtbare Fachdiskussion über lokale Machtentfaltung des NS-Regimes und ihre Grenzen liefert.
If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: https://networks.h-net.org/h-german.
Citation:
Rolf Schmolling. Review of Rief, Silvia, Rustungsproduktion und Zwangsarbeit: Die Steyrer-Werke und das KZ Gusen.
H-German, H-Net Reviews.
October, 2009.
URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=15667
![]() | This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 3.0 United States License. |