Der Nürnberger Prozess. Das Protokoll des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 14 November 1945-1. Oktober 1946. Directmedia Publishing.
Published on H-Soz-u-Kult (November, 1999)
Nachdem das Protokoll des Nuernberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher bereits 1947 in Buchform erschien-- spaeter gab es noch einen Reprint und eine Mikrofiche-Ausgabe--, liegt es nun in digitaler Form auf einer CD-Rom vor. Der "Jahrhundertprozess" gegen die Spitzenfunktionaere des Dritten Reichs fand, gefuehrt von den vier alliierten Siegermaechten, vom 14. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 in Nuernberg statt. Der Prozess ging als der "Nuernberger Prozess" in die Geschichte ein, was dazu fuehrte, dass man die zwoelf sogenannten "Nachfolgeprozesse" weitaus weniger beachtete. Bis heute blieb der Prozess Gegenstand von oeffentlichen und wissenschaftsinternen Debatten. Bei den Voelkerrechtlern war und ist er aufgrund seiner Vorbereitung, der Rahmenbedingungen und Begleitumstaende umstritten; demgegenueber neigen die Geschichtswissenschaftler zu einem positiveren Urteil und nutzen die Prozessunterlagen als eine wichtige zeitgeschichtliche Quelle. Auf die Prinzipien von Nuernberg wird bei den Ueberlegungen zur Einrichtung neuer internationaler Kriegsverbrechertribunale immer wieder rekurriert. <p> Plaene zur Bestrafung der Hauptschuldigen an Weltkrieg und Massenverbrechen gab es bei den Alliierten schon lange vor Kriegsende. Nach und nach einigte man sich auf die Einrichtung eines Militaergerichtshofs, dessen Zustaendigkeit sich auf folgende Verbrechen erstrecken sollte: Verbrechen gegen den Frieden (Planung, Vorbereitung und Fuehren eines Angriffskriegs), Kriegsverbrechen (Verletzung der international anerkannten Kriegsgesetze), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an einer Zivilbevoelkerung). Nach zweihundertachtzehn Verhandlungstagen wurden in diesem Mammumtprozess die Urteile verkuendet. Drei der Angeklagten (Franz von Papen, Hjalmar Schacht, Hans Fritzsche) wurden freigesprochen, vier Angeklagte (Karl Doenitz, Konstantin von Neurath, Baldur von Schirach, Albert Speer) erhielten Strafen zwischen zehn und zwanzig Jahren), drei Angeklagte (Walter Funk, Rudolf Hess, Erich Raeder) erhielten eine lebenslange Haftstrafe. Die uebrigen Angeklagten (Hans Frank, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Wilhelm Frick, Hermann Goering, Julius Streicher, Arthur Seyss-Inquart, Fritz Sauckel, Alfred Rosenberg, Joachim von Ribbentrop) wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Zur gleichen Strafe wurde--in Abwesenheit--auch Martin Bormann verurteilt. Robert Ley hatte waehrend des Verfahrens Selbstmord veruebt, Hermann Goering gelang dies unmittelbar vor seiner Hinrichtung. Angesichts der Fuelle des von Anklage bzw. Verteidigung praesentierten Materials und nicht zuletzt wegen der zentralen Position der Angeklagten im nationalsozialistischen Herrschaftssystem sowie der Tatsache, dass der Prozess die erste Bilanz der nationalsozialistischen Herrschaft darstellte, bildet das Protokoll nach wie vor eine ueberaus wichtige Quelle fuer die Zeitgeschichtsschreibung. <p> Auf der CD-Rom, die den Baenden 1 bis 23 der amtlichen Textausgabe des Internationalen Militaergerichtshofs in deutscher Sprache folgt, werden neben dem ueber 16.000 Seiten umfassenden Protokoll auch die Anklageschrift, das Urteil und die juristischen Grundlagen sowie weitere Materialien des Prozesses (Mitglieder des Gerichts, der Anklage und der Verteidigung etc.) praesentiert. Hinzu kommt eine knappe, aber nuetzliche Einleitung von Christian Zentner. Ebenfalls recht hilfreich sind die beigefuegten zeitgenoessischen Register (Sach-, Personen-, und Dokumentenindex), die mit ihrer Hypertextfunktionalitaet einen direkten thematischen Zugang bieten. Abgerundet wird die CD durch eine von 1918 bis 1945 reichende Zeittafel sowie ein Literaturverzeichnis zum Prozess und den verhandelten Themen, das allerdings etwas veraltet erscheint und durch die neuere Literatur ergaenzt werden sollte. <p> Die CD wendet sich natuerlich primaer an Wissenschaftler, ist nicht zuletzt dank ihres guenstigen Preises aber auch fuer Lehrer, Studenten und Journalisten durchaus interessant. Die benoetigten Systemvoraussetzungen sind erfreulich gering: Man braucht einen PC ab 486er, 8 MB RAM (16 MB empfohlen), eine Grafikkarte ab 640x480 Farben und als Systemplattform Windows 3.11, 95, 98 oder NT. Die zugehoerige Software ist selbst fuer Anfaenger problemlos installier- und leicht handhabbar. Die Benutzeroberflaeche ist uebersichtlich gestaltet, wodurch die Navigation leicht faellt. Die Suchfunktionen sind bei allen CDs der Digitalen Bibliothek gleich gestaltet und wurden bereits in frueheren Rezensionen geruehmt. Zu Recht, wie ich meine, da sie ueber die Boolschen Operatoren, Klammern und Platzhalter selbst komplexe Volltextrecherchen erlauben. [Ein Beispiel fuer eine - zugegebenermassen sehr einfache - Suche sei hier als Screenshot eingefuegt: (nur in der Web-Version einsehbar)] <p> Das gesuche Wort kann, wie im oben gezeigten Beispiel, temporaer markiert werden, wodurch man es im Text leichter findet. Darueber hinaus kann sich der Benutzer eine Fundstellenliste anzeigen lassen und zwischen den einzelnen Fundstellen hin- und herwechseln. Textpassagen und ganze Seiten koennen kopiert und in den eigenen Texten weiterverarbeitet werden. Hier muss man ein kleines Manko der Software erwaehnen: Das Kopieren eines Textzitats ueber das Seitenende hinaus ist nicht moeglich. Allerdings kann man bis zu acht Seiten am Stueck ueber die Zwischenablage des Programms kopieren, wodurch dieser kleine Schoenheitsfehler fast ausgeglichen wird. <p> Als praktische Nutzanwendung dieser Kopierfunktion und der Weiterverarbeitung des kopierten Textes sei hier ein Ausschnitt aus der Aussage von Otto Ohlendorf, dem Leiter der Einsatzgruppe D, praesentiert, die mit zu den Schluesselszenen des Prozesses gehoerte und Goering zu einem Wutausbruch veranlasste. Die Distanziertheit, Kaelte und Praezision, mit der Ohlendorf hier den Massenmord zugab und schilderte, wird selbst im geschriebenen Wort noch deutlich: <p> "OBERST AMEN: Wissen Sie, wieviele Personen durch die Einsatzgruppe liquidiert wurden, und zwar unter Ihrer Fuehrung? <p> OHLENDORF: In dem Jahre von Juni 1941 bis Juni 1942 sind von den Einsatzkommandos etwa 90000 als liquidiert gemeldet worden. <p> OBERST AMEN: Schliesst diese Zahl Maenner, Frauen und Kinder ein? <p> OHLENDORF: Jawohl. (...) <p> OBERST AMEN: Wissen Sie, wie diese Zahlen sich zu der Zahl der durch andere Einsatzgruppen liquidierten Personen verhalten? <p> OHLENDORF: Die Ziffern, die mir von anderen Einsatzgruppen bekannt sind, sind erheblich groesser. <p> OBERST AMEN: Worauf ist das zurueckzufuehren? <p> OHLENDORF: Ich glaube, dass in den anderen Einsatzgruppen zu einem erheblichen Teil die Zahlen uebertrieben wurden. (...) <p> OBERST AMEN: Haben Sie persoenlich Massenhinrichtungen dieser Leute ueberwacht? <p> OHLENDORF: Ich bin bei zwei Massenhinrichtungen inspektionsweise dabei gewesen. (...) <p> OHLENDORF: Nach der Registrierung wurden die Juden an einem Ort zusammengefasst. Von da aus wurden sie dann spaeter an den Hinrichtungsort gefahren. Der Hinrichtungsort war in der Regel ein Panzerabwehrgraben oder eine natuerliche Gruft. Die Hinrichtungen wurden militaerisch durchgefuehrt, durch Pelotons mit entsprechenden Kommandos. <p> OBERST AMEN: Wie wurden sie zum Hinrichtungsort hinbefoerdert? <p> OHLENDORF: Sie wurden mit LKWs an die Hinrichtungsstaette gefahren, und zwar immer nur soviel, wie unmittelbar hingerichtet werden konnten; auf diese Weise wurde versucht, die Zeitspanne so kurz wie moeglich zu halten, in der die Opfer von dem ihnen Bevorstehenden Kenntnis bekamen, bis zu dem Zeitpunkt der tatsaechlichen Hinrichtung. <p> OBERST AMEN: War das Ihre Idee? <p> OHLENDORF: Jawohl. <p> OBERST AMEN: Und was geschah mit den Leichen, nachdem die Leute erschossen waren? <p> OHLENDORF: Sie wurden in dem Panzergraben oder in der Gruft beerdigt. <p> OBERST AMEN: Wie wurde festgestellt, ob die einzelnen wirklich tot waren oder nicht? <p> OHLENDORF: Die Einheitsfuehrer beziehungsweise die Fuehrer der Pelotons hatten Befehl erhalten, darauf zu achten und gegebenenfalls selbst den Fangschuss zu geben. <p> OBERST AMEN: Und wessen Aufgabe war dies? <p> OHLENDORF: Das tat entweder der Einheitsfuehrer selbst oder ein von ihm dafuer bestimmter Mann. <p> OBERST AMEN: In welcher Stellung wurden die Opfer erschossen? <p> OHLENDORF: Stehend oder kniend. (...) <p> OHLENDORF: Einige Einheitsfuehrer verzichteten auf die militaerische Liquidationsweise und fuehrten die Toetung einzeln durch Genickschuss durch. <p> OBERST AMEN: Und Sie waren gegen ein derartiges Vorgehen? <p> OHLENDORF: Ich war gegen dieses Vorgehen, jawohl. <p> OBERST AMEN: Aus welchem Grund? <p> OHLENDORF: Weil es sowohl die Opfer als auch die, die zur Toetung befohlen waren, unendlich seelisch belastete." <p> [Der Nuernberger Prozess: Sechsundzwanzigster Tag. Donnerstag, 3. Januar 1946, S. 25 ff. Digitale Bibliothek Band 20: Der Nuernberger Prozess, S. 4110ff. (vgl. NP Bd. 4, S. 352 ff.)] <p> Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass es sich um eine sehr sinnvolle und brauchbare CD handelt. Wie bei allen digitalen Editionen dieser Art steht auch bei ihr zweifellos eher die Suche nach einzelnen Textstellen im Vordergrund. In der schnellen und unkomplizierten Form, in der dies moeglich ist, liegt auch der entscheidende Vorteil gegenueber der Buchausgabe. Hingegen erweist sich das Lesen laengerer Textabschnitte am Bildschirm--aufgrund der Groesse des Ausschnitts--als etwas ermuedend. Der Verzicht auf die Aufnahme des weitere 18 Baende fuellenden gedruckten Dokumentenanhangs wird damit begruendet, dass die meisten als Beweismittel zugelassenen Dokumente waehrend der Verhandlungen vollstaendig oder in Auszuegen verlesen wurden und ausserdem ihre Reproduktion den Preis vervielfacht haette. Diese Begruendung vermag aus meiner Sicht nicht zu ueberzeugen. Die Dokumente haetten den wissenschaftlichen Wert dieser Edition zweifellos enorm gesteigert. Geschichte hat Konjunktur, zumal wenn sie auf diesem vergleichsweise modernen Medium praesentiert wird. Die Tatsache, dass die CD sogar in einem Boulevardblatt wie dem Koelner Express lobend erwaehnt wurde, gibt zu der Hoffnung Anlass, dass ihr eine weite Verbreitung beschert sein koennte.
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