Friederike Föcking. Fürsorge im Wirtschaftsboom: Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961. Munich: R. Oldenbourg Verlag, 2007. 556 pp. EUR 74.80 (cloth), ISBN 978-3-486-58132-4.
Reviewed by Wolfgang Ayaß (University of Kassel)
Published on H-German (April, 2008)
The Poor Law of the German Federal Republic
Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961 gibt es nicht mehr. Im Rahmen der neueren Sozialgesetzgebung, die in Deutschland unter dem unschönen Begriff "Hartz IV" bekannt ist, wurde das Gesetz im Jahr 2005 als Teil XII in das Sozialgesetzbuch (SGB) eingebaut und dabei in Teilen tiefgreifend verändert. Die alte Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) wurden für alle erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger zum Arbeitslosengeld II zusammengefaßt (geregelt im SGB II), für das nun nicht mehr die Sozialämter der Kommunen, sondern die Arbeitsverwaltung zuständig ist. Dies ist ein erheblicher systematischer Bruch, denn die materielle Versorgung verarmter Bevölkerungsteile war in Deutschland seit Jahrhunderten Aufgabe der Städte und Gemeinden gewesen. Friederike Föcking untersucht in ihrer Münchner geschichtswissenschaftlichen Dissertation die Entstehungsgeschichte des Bundessozialhilfegesetzes, das dann in der Zeit zwischen Abschluß des Promotionsverfahrens und Drucklegung des Buchs ganz unerwartet aufgehoben wurde und nun insgesamt bereits historisch geworden ist.
In der Geschichte der deutschen Armengesetzgebung gilt das BSHG als epochemachend. Es wurde zwar in der Folge dutzendfach verändert, blieb aber in den Grundstrukturen stabil. Grundlegend neu war 1961 die Erweiterung der laufenden rein materiellen Hilfen (Hilfe zum Lebensunterhalt) durch die "Hilfen in besonderen Lebenslagen", worunter unter anderem Hilfen für Alte und Behinderte, aber auch Tuberkulosekranke und "Gefährdete" zu verstehen waren. Fürsorgerische Einzelgesetze sollten so vermieden werden. Insgesamt knüpfte das BSHG insbesondere bei den materiellen Hilfen jedoch pfadabhängig eng an die Reichsfürsorgepflichtverordnung und die dazu erlassenen "Reichsgrundsätze" von 1924 an, die ja immer noch gültig waren und die NS-Zeit bzw. frühe Bundesrepublik im Kern unverändert überstanden hatten. Kontinuität ist im BSHG vor allem hinsichtlich des Systems der Regelsätze, der rigiden Bedürftigkeitsprüfungen, der Heranziehung von Angehörigen zum Kostenersatz und der Pflicht zur Arbeitsleistung in "gemeinnütziger Arbeit" zu finden. Neu waren jedoch die Begrifflichkeiten: Statt "Fürsorge" hieß es nun "Sozialhilfe", auf die nun ein Rechtsanspruch bestand, was allerdings nur die vorhandene höchstrichterliche Rechtsprechung nachvollzog.
Das BSHG entstand in einer Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs mit Vollbeschäftigung und erheblichen Reallohnsteigerungen und--was fast noch wichtiger war--nachdem die kriegsbedingten Notstände Schritt für Schritt in andere Versicherungs- und Versorgungssysteme ausgegliedert worden waren und die Allzuständigkeit der Kommunen in der unmittelbaren Nachkriegszeit schon wieder Vergangenheit war. Innerhalb des sozialen Systems der Bundesrepublik wurde die Fürsorge in den fünfziger Jahren weitgehend marginalisiert. Rentenergänzungen und Vorschußfälle machten 1955 immerhin zwei Drittel der laufenden Unterstützungsfälle aus, was mit traditioneller Armenfürsorge nicht viel zu tun hatte. Zentral war dabei, daß alle Beteiligten von einer weiter zurückgehenden materiellen Hilfsbedürftigkeit ausgingen. Die alte "Wirtschaftsfürsorge" galt als auslaufendes Modell. Man glaubte, langfristig blieben vor allem die nicht unbedingt an materielle Notlagen geknüpften "Hilfen in besonderen Lebenslagen" als Aufgabenfelder der Sozialämter übrig. Als Instrument zur Behebung von Massennotständen war das Bundessozialhilfegesetz jedenfalls nicht konzipiert.
Die Studie ist chronologisch gegliedert. Ein erster Teil schildert die fürsorgepolitischen Weichenstellungen der Nachkriegszeit bis in die frühe Bundesrepublik hinein. Ein zweiter Teil ist der konkreten Entstehungsgeschichte des BSHG gewidmet. Dabei arbeitet sich Föcking sehr detailliert und mit großer Akribie an den Ebenen des Gesetzgebungsprozesses entlang. Die Autorin hat viel Material zu den mannigfältigen informellen Kontakten der Ministerialebene zu verschiedenen Experten gefunden. Die konkreten Zustände vor Ort und die fachlich wenig erfreulichen Zustände innerhalb vieler städtischer Fürsorgeämter sind nicht Thema der Arbeit. Quellenbasis waren die zeitgenössischen Veröffentlichungen der jeweiligen Fachorgane, die Protokolle der jährlichen "Fürsorgetage" und Archivalien verschiedener Ebenen, hier insbesondere die unzähligen Sitzungsprotokolle der verschiedenen Fachausschüsse, in denen sich immer wieder dieselben Experten trafen.
Die Entstehung des BSHG war allenfalls in der Schlußphase von öffentlich geführten Auseinandersetzungen begleitet, die Debatten fanden hauptsächlich in Fachausschüssen oder bestenfalls auf den "Fürsorgetagen" statt. Föcking zeigt, daß es ein auf vielleicht 50 Personen begrenzter Expertenkreis war, der sich in verschiedenen Konstellationen immer wieder traf, wobei letztlich die berufliche Position (etwa als Kommunalvertreter) Parteienbindungen überspielte (S. 186). Insgesamt waren es auch weniger Politiker, sondern "Ministerialbeamte der mittleren Ebene, Verbandsfunktionäre und Fürsorgefachleute", die die Weichen stellten (S. 3). Angesichts des doch überschaubaren Personenkreises hätte es sich gelohnt, deren Lebenswege in einem biografischen Anhang genauer darzustellen. Dies nicht nur, weil doch--mit Ausnahme der Vertreter der sozialdemokratischen Arbeiterwohlfahrt--fast alle Beteiligten durch die NS-Zeit "geprägt" waren, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Die zahlreichen vertriebenen jüdischen oder marxistischen Fürsorgeexperten der Weimarer Zeit (von denen kaum einer zurückkam) gehörten jedenfalls nicht zu den Vätern und Müttern des BSHG. Diese hatten ganz andere Lebenswege. So war der im Gesetzgebungsverfahren hoch wichtige Beamte des Innenministeriums Johannes Duntze erst wenige Jahre zuvor im Entnazifizierungsverfahren immerhin als "Mitläufer" des NS-Regimes eingestuft worden. 1938 hatte er als Beamter des badischen Innenministeriums ein verstärktes polizeiliches Vorgehen gegen Wohnungslose gefordert.
Alle Akteure waren im "Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge" vertreten, der allerdings dadurch--wie Föcking betont--eher gelähmt war, weil jede prononcierte Stellungnahme der Leitung im Widerspruch zumindest eines Teils der Mitgliedschaft stehen mußte. Auffallend ist die moderate, vorausschauende Haltung des Vereinsvorsitzenden Hans Muthesius, der immerhin 15 Jahre zuvor noch an den Jugendkonzentrationslagern bzw. am Gemeinschaftsfremdengesetz mitgewirkt hatte.
Das Gesetzesvorhaben entstand im für Fürsorgefragen zuständigen Bundesinnenministerium. Dort war ein erster Referentenentwurf bereits im Jahr 1958 fertig geworden, frühe Vorarbeiten hatten schon 1955 begonnen (S. 121). Faszinierend ist, daß die frühen Vorstellungen des Innenministeriums sehr viel reformfreudiger waren als das schließlich zustande gekommene Gesetz. Kleinliche Partikularinteressen verschiedener Provenienz beschnitten den zunächst großen Wurf bald erheblich, und Forderungen nach Leistungsverminderung und Ausdehnung der Ermessensgrenzen konnten sich recht weitgehend durchsetzen. Interessant sind auch die von verschiedenen Seiten entwickelten frühen Modelle für eine Grundsicherung, aber auch immer wieder geäußerte Vorstellungen einer Umwandlung der Sozialversicherungen in bedürftigkeitsabhängige Fürsorgeleistungen.
Der überschaubare Expertenkreis repräsentierte nichtsdestoweniger vielfältig einander überlagernde Interessen. Schon allein die kommunale Seite mit Deutschem Städtetag und dem bremsenden Deutschen Landkreistag war in vielen Einzelfragen untereinander zerstritten. Auch die "private" Wohltätigkeit mit Caritasverband, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, und Paritätischem Wohlfahrtsverband war alles andere als ein einheitlicher Block.
Recht bedeutend für das Gesetzgebungsverfahren waren schließlich die föderalen Probleme. Wer hätte gedacht, daß die schlichte Forderung des Gesetzentwurfs nach fachlichem Hilfepersonal sofort verfassungsrechtliche Bedenken provozierte, weil alle Fragen kommunaler Bediensteter doch verfassungsmäßige Angelegenheit der Länder seien. Über weite Strecken ging es auch um die weiter gehende Frage, welche Kompetenzen die Kommunen im Spannungsfeld Bund-Länder-Gemeinden haben sollten. Zwischenzeitlich verkomplizierte sich die ohnehin schwierige Situation durch ein--vorübergehendes--Junktim des Gesetzesvorhabens mit einer Reform des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes für das allerdings nicht das Innenministerium, sondern das Familienministerium zuständig war.
Das deutsche Fürsorgesystem ist geprägt durch einen Dualismus von öffentlicher und privater Wohltätigkeit, wobei die konkrete Ausgestaltung vor Ort überaus variabel ist. Insbesondere in der letzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens rückten alte Konfliktlinien zu Fragen der Subsidiarität in den Mittelpunkt. Insbesondere die katholische Seite polemisierte gegen die angeblich seelenlose "behördliche" Sozialarbeit der Kommunen, als hätte die "freie" Wohlfahrtspflege die Fachlichkeit der "Hilfe von Mensch zu Mensch" gepachtet.
Im zweiten Teil widmet sich die Autorin auch einzelnen sozialarbeiterischen Aufgabenfeldern. Besonders gelungen ist das Kapitel über die "Gefährdetenhilfe", also die Hilfen für Wohnungslose (für die sich im Gesetzgebungsverfahren der Begriff "Nichtsesshafte" endgültig etablierte) und Prostituierte bzw. am Rand zur Prostitution stehende Frauen und Mädchen. Hier kann die Autorin zeigen, wie unbekümmert an autoritäre Bewahrungsdiskurse der Weimarer Zeit angeknüpft wurde und daß eine kritische Aufarbeitung der Asozialenverfolgung der NS-Zeit nicht einmal ansatzweise stattfand. Interessant ist allerdings, daß Ende der fünfziger Jahre dann auch andere Stimmen zu hören waren. Insbesondere die Arbeiterwohlfahrt, die sich in der Weimarer Zeit noch munter an den Bewahrungsdebatten beteiligt hatte, ging auf schroffe Distanz zu den Internierungsfantasien breiter Fürsorgekreise.
Letztlich ist das Gesetz--wie auch kaum anders möglich--im zuständigen Innenministerium entstanden, das allerdings in allen Phasen weitgehend gezwungen war, auf die verbandlichen und kommunalen Interessen Rücksicht zu nehmen, um das Gesetzesvorhaben nicht zu gefährden. Die verfassungsmäßigen Gesetzgebungsorgane (Bundestag und Bundesrat bzw. deren Ausschüsse) spielten demgegenüber keine zentrale Rolle. Über die unmittelbare armenrechtliche Materie hinaus ist die Studie somit nicht zuletzt ein materialreiches Lehrstück zu der Frage, wie in der (frühen) Bundesrepublik ein Gesetz entstand.
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Wolfgang Ayaß. Review of Föcking, Friederike, Fürsorge im Wirtschaftsboom: Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961.
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