Thomas Ertl. Religion und Disziplin: Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Berlin: de Gruyter, 2006. 496 S. EUR 118.00 (cloth), ISBN 978-3-11-018544-7.
Reviewed by Joachim Schmiedl (Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar)
Published on H-German (May, 2007)
Religion und Disziplin
Die Berliner Habilitationsschrift von Thomas Ertl nimmt die Rolle der frühen Franziskaner für den kirchlichen und gesellschaftlichen Umbruch des dreizehnten Jahrhunderts zum Thema. Auf dem Hintergrund des kulturellen Transformationsprozesses in den Jahrzehnten nach dem Tod des Franziskus beschreibt der Autor die "Herausbildung einer franziskanischen Denk- und Lebensform" (S. 14), die er an zwei Entwicklungen festmacht: Zum einen eroberten sich die Individuen neue Freiheiten und Handlungsspielräume, die christlichen Ansprüchen unterworfen wurden. Zum anderen kam es zu einer "Intensivierung sozialer Disziplin mit der Hilfe neuartiger Kontrollmechanismen" (S. 9-10). Dazu untersuchte der Autor Texte von Franziskanern, die im dreizehnten und beginnenden Jahrhundert im deutschen Sprachraum gewirkt hatten, um kollektive Mentalitäten besser herausarbeiten zu können.
Der erste Teil der Studie ist mit "Selbstdeutung" überschrieben. Ertl wendet sich energisch gegen eine seit Paul Sabatier in der Forschung gängige Verfallstheorie: Einem engelgleichen Franziskus hätten seine Schüler nicht mehr folgen können; das Franziskanertum sei eine einzige Geschichte des Abfalls von den ursprünglichen Idealen. Dieser Kritik am Mendikantentum stellt Ertl die Billigung eines spirituellen Programms für Laiengemeinschaften durch Papst Innozenz III. und die dafür vor allem an der Universität Paris entwickelte "pastorale Moraltheologie" entgegen. Im vierten Laterankonzil gipfelte, so Ertl, diese pastorale Ausrichtung für "eine Verbesserung der moralischen Lebensführung und der intellektuellen Fähigkeiten des Klerus" (S. 87). Die Franziskaner, von denen die Bekehrung der Welt nach den Worten ihres Gründers "verbo et exemplo" ausgehen sollte, spielten dabei eine entscheidende Rolle. Ertl hebt deutlich hervor, daß "simplicitas" und "scientia" für Franziskus von Assisi keine Gegensätze waren, sondern zwei komplementäre Wege zur "sapientia". Wissenschaftliches Studium wurde im Franziskanertum von Anfang an gepflegt und fand zunehmende Billigung, so daß schon früh an den einzelnen Standorten Studienzentren eingerichtet wurden. Das darauf aufbauende Selbstbild der Franziskaner war das Bewußtsein eines göttlichen Auftrags für die Unterweisung der Christenheit. Zur Untermauerung dieses Auftrags dienten die ekklesiologischen Schriften, mit denen sich die Franziskaner positionierten. Um ihre eigene Stellung zu verteidigen, verbündeten sie sich auch theologisch mit dem päpstlichen Führungsanspruch in Kirche und Welt. Das Gleichnis von Sonne und Mond, die Theorie der beiden Schwerter, die Macht des Papstes zum Eingreifen in alle Lebensbereiche der Kirche und Gesellschaft--alles das wurde von franziskanischen Theologen aufgegriffen und verteidigt. Franziskaner und Päpste gingen ein wechselseitiges Bündnis ein: "Die minoritische Majorität ... sah im Oberhaupt der Kirche keinen Verderber, sondern einen rettenden Helfer" (S. 173). Die "Ekklesiologie in eigener Sache" (S. 182) half die Position der Franziskaner gegenüber dem Weltklerus zu festigen.
Im zweiten Teil der Studie untersucht Ertl die aus der Selbstdeutung folgende "Weltordnung". Drei Problemfelder werden dabei abgeschritten. Die Franziskaner waren die erste Gruppe, die in der Stadt den genuinen Ort christlichen Lebens sahen. In der Akzeptanz der bürgerlichen Berufswelt entwickelten sie eine Theologie und Ethik der Arbeit. Bürgerliches, städtisches Leben machten sie vereinbar mit christlichem Tugendstreben. Ein zweiter Bereich franziskanischer Pastoral bezog sich auf den Einzelnen. Prozesse der Individualisierung förderten die Mendikanten, erarbeiteten aber gleichzeitig ein System der persönlichen Erziehung durch Predigt, Beichte und Gewissenserforschung. Drittens stellten die franziskanischen Theologen einen engen Zusammenhang zwischen Geschichte, Geschichtsschreibung und normativen Rechtstexten her.
Ertls Studie ist in mehrfacher Hinsicht originell und bahnbrechend. Den Deutungshorizont, den er an das Hoch- und Spätmittelalter anlegt, entnimmt er den Theoriesystemen zur Geschichte der Frühen Neuzeit. Das Konzept der Sozialdisziplinierung möchte Ertl nicht erst als ein auf die Zeit nach der Reformation anzuwendendes Theorem sehen, sondern bereits ab dem dreizehnten Jahrhundert in einem beständigen Prozess der Zivilisierung wirksam wissen. Damit verläßt er eingefahrene Bahnen. Überzeugend legt er die Modernität franziskanischen Handelns dar. Dadurch werden die durch die traditionelle Fächereinteilung festgefahrenen Epochengrenzen ins Wanken gebracht. Die Moderne, die sich gerade durch eine stärkere Individualisierung auszeichnet, ist nicht zuletzt durch die kulturellen und religiösen Veränderungen des dreizehnten Jahrhunderts entstanden. So kommen auch traditionelle konfessionelle Zuschreibungen ins Wanken. Ein christliches Arbeitsethos und eine entsprechende Berufsethik sind eben nicht erst eine "Erfindung" der Reformatorn (ob Luther oder Calvin). Sie haben ihre Wurzeln in der mendikantischen Pastoral des dreizehnten Jahrhunderts. Sie sind wesentlich verbunden mit der Entstehung einer städtisch-bürgerlichen Kultur. Das herausgearbeitet zu haben, ist eines der großen Verdienste von Thomas Ertl, der mit seiner Studie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Theologie und Verkündigung der Bettelorden geleistet hat.
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Citation:
Joachim Schmiedl. Review of Ertl, Thomas, Religion und Disziplin: Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum.
H-German, H-Net Reviews.
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