Manfred Wilde. Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen. Köln: Böhlau Verlag, 2003. 734 S. EUR 69.00 (gebunden), ISBN 978-3-412-10602-7.
Reviewed by Rainer Decker (Studienseminar Sekundarstufe II, Paderborn)
Published on H-German (July, 2005)
Die Sachsen und die Hexen
Die an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz entstandene Habilitationsschrift setzt eine Reihe von Regionalstudien zur Hexenverfolgung in Deutschland fort, die mit Erik Midelforts bahnbrechender Untersuchung über Witch-Hunting in Southwestern Germany (1972) ihren Anfang nahmen. Nach der Wiedervereinigung sind auch in den neuen Bundesländern flächendeckende Arbeiten in Angriff genommen worden. Kursachsen verdient besonderes Interesse, war es doch eines der politisch bedeutendsten Territorien, wirtschaftlich weit entwickelt und zugleich das Kernland von Luthers Reformation. Als Untersuchungsgebiet definiert Wilde zu Recht nicht das heutige Bundesland Sachsen, sondern das Kurfürstentum in den Grenzen von 1750, d.h. einschließlich der im 16. bzw. 17. Jahrhundert hinzugekommenen säkularisierten Fürstbistümer Meißen, Merseburg-Zeitz und Naumburg, der Ober- und Niederlausitz sowie weiterer Erwerbungen. Der Verfasser suchte dazu eine beeindruckende Zahl von Archiven auf und listet in einem detaillierten Quellenverzeichnis die herangezogenen Archivalien auf. Seine Ergebnisse weisen zum Teil über Kursachsen hinaus, da er die Urteile sächsischer Spruchbehörden, die auf Antrag auswärtiger Gerichte, vor allem aus Anhalt, aber auch aus Mecklenburg, Pommern, Hessen usw. ergingen, miterfasst hat. Eine der interessantesten Fragen ist, ob Sachsen ein verfolgungsarmes Gebiet war, wie ein großer Teil Thüringens, oder ein verfolgungsintensives, wie zum Beispiel Mecklenburg oder Franken.
Wilde stellte 905 Anklagen gegen Einzelpersonen fest. Davon "betrafen 762 Fälle den Vorwurf von Zauberei und Hexerei, 72 von Segensprechern, klugen Leuten und magischen Heilern, 47 von Wahrsagern und 71 von abergläubischen Händeln und Poltergeisterei ... Daneben konnten noch 24 Injurienanklagen festgestellt werden" (S. 166). In 284 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt. Wenigstens 48 Personen verstarben in Haft (S. 173). Die letzte bekannte Hinrichtung in Hexensachen war 1689, in einem Patrimonialgericht aufgrund eines Spruchs des Schöffenstuhls Jena im Brandenburgischen (S. 438).
Die für ein großes, dichtbesiedeltes Territorium relativ niedrigen Zahlen lassen Sachsen als ein verfolgungsarmes Land erkennen. Allerdings beruhen sie auf einer mehr oder weniger zufälligen Überlieferungslage. Eine genauere Quantifizierung wäre möglich, wenn die Urteilsregister der 4 Obergerichte vollständig erhalten wären. Denn seit 1572 mußten die landesherrlichen Gerichte bei peinlichen Verfahren eine der 4 kursächsischen Spruchbehörden (Schöffenstühle und juristische Fakultäten in Leipzig und Wittenberg) beteiligen. Am bedeutendsten war der Leipziger Schöffenstuhl. Von seinen 700-800 Spruchkonzeptbänden liegen jedoch nur noch 14 vor (S. 12). Aber auch mit Hilfe anderer Quellen ist erkennbar, daß die sächsischen Zentralinstanzen Zauberei und Hexerei nicht als crimen exceptum einstuften, das dem Angeklagten kaum eine Chance ließ, dem Scheiterhaufen zu entgehen, sondern die Verfahrensvorschriften, wie sie etwa in der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 kodifiziert waren, einhielten. Daran änderten auch die Kursächsischen Konstitutionen von 1572 grundsätzlich nichts, obwohl sie bekanntlich - über die Carolina hinausgehend - nicht nur bei Schadenzauber, sondern allein schon bei Teufelspakt und -buhlschaft die Todesstrafe vorsahen.
Die adligen Patrimonialgerichte durften Rechtsgutachten von Instanzen außerhalb Sachsens einholen. Zur Quellenlage macht Wilde widersprüchliche Angaben. Einerseits heißt es: "blieben die meisten Bestände der Patrimonialgerichte ... zu größeren Teilen erhalten" (S. 12), andererseits spricht er von "einer geringeren Überlieferungsdichte von Rittergutsarchivbeständen" sowie fehlenden alten Repertorien, so daß Wilde hier auf 99 Einzelanklagen gegen Personen kommt, davon 29 Hinrichtungen. Aber eine "abschließende Quantifizierung wird auch künftig kaum gelingen können" (S. 151). Wer die hohen Verfolgungs- und Hinrichtungszahlen der adligen Unterherrschaften im Rheinland, in Westfalen und in Mecklenburg kennt, wird sich daher fragen, wie hoch in Sachsen in dieser Hinsicht die Dunkelziffer ist.
Massenverfolgungen mit Kettenprozessen wie in Westdeutschland dürfte es aber nicht gegeben haben. Westdeutschen Verhältnissen näherte sich nur die Grafschaft Henneberg, eine sächsische Exklave im Thüringer Wald um Suhl, wo Wilde 153 Hinrichtungen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, insbesondere um 1618-19 und 1662-65, zählt, also mehr als die Hälfte der Gesamtzahl von 284 nachweisbaren Todesurteilen im Kurfürstentum. Hier mußten nicht die sächsischen Obergerichte konsultiert werden. Statt dessen rief man vor allem die Schöffenstühle in Jena und Coburg an, deren radikalere Einstellung in entsprechenden Urteilen ihren Niederschlag gefunden haben (S. 409).
Die 284 Todesurteile für Sachsen betrafen 246 Frauen und 38 Männer (S. 308). Kinder scheinen nicht hingerichtet worden zu sein. Im Vergleich zu katholischen Territorien ist der Männeranteil in Sachsen und, worauf Rolf Schulte hinwies, allgemein in evangelisch-lutherischen Gebieten niedrig. Mit Schultes interessanter Hypothese zur Erklärung dieser Unterschiede in der Geschlechterverteilung setzt sich Wilde leider nicht auseinander, obwohl dessen Buch im Literaturverzeichnis aufgelistet ist.
Eine Besonderheit waren mehrere Prozesse gegen adlige Damen (S. 302-306). 1585 wurde Sophia von Taubenheim mit dem Schwert auf dem Dresdner Marktplatz hingerichtet. Ihr war neben Ehebruch und Dieberei zum Vorwurf gemacht worden, sie habe versucht mittels Zauberei die Gunst des Kurfürsten für ihren in Ungnade gefallenen Mann, den Geheimen Rat Hans von Taubenheim, wiederzuerlangen. 1622 wurden in der Niederlausitz zwei adlige Schwestern wegen angeblicher Anstiftung zum Schadenzauber im Zusammenhang mit einer Erbschaftsstreitigkeit hingerichtet. Die Instrumentalisierung eines Hexenprozesses für ganz andere Zwecke vermutet Wilde auch bei dem spektakulärsten dieser Fälle. 1694-95 habe sich Kurfürst Friedrich August I. ("der Starke") dieses Mittels gegen Ursula Margarete von Neitschütz, die Mutter der verstorbenen Mätresse seines Vorgängers, bedient, um so die Schenkungen zurückzuerlangen, die sein Bruder der Geliebten gemacht hatte. Nachdem die adlige Dame unter der Folter ein Geständnis abgelegt hatte, habe der Kurfürst sein Ziel erreicht, er bekam die Vermögenswerte zurück. Daraufhin wurde die Angeklagte auf Lebenszeit verbannt. Auch am unteren Ende des sozialen Spektrums gelangen Wilde interessante Entdeckungen, Biographien vagabundierender Frauen, die sich mit Wahrsagerei und Quacksalberei durchschlugen und so in die Mühlen der Hexenjustiz gerieten (S. 296-298). Magische Praktiken waren fast ein alltägliches Phänomen.
Die Lektüre des umfangreichen Buches wird durch die zahlreichen sprachlichen Schnitzer leider erschwert. Sie fangen im zweiten Satz des Vorwortes an ("Die ... juristische Verfolgung ... war eine Reflexion [?] auf die Manifestierung des Glaubens an den Realismus des Schadenzaubers") und ziehen sich bis zur letzten Seite des darstellenden Teils durch: "Rein quantitativ ist diese Beteiligungen [!] besonders in den Gebieten vermehrt belegbar" (S. 456). Es handelt sich nicht nur, wie in dem letztgenannten Fall, um Versehen und Flüchtigkeitsfehler, die jedem unterlaufen, sondern Mängel in der Beherrschung der deutschen Sprache. Ein Beispiel: "Kulminierte [?] die bisherigen [!] Literatur zur Person von Carpzov recht widersprüchlich, so soll hier vor allem auf seinen frühen Einfluß auf das Ende des Aussprechens von Todesstrafen bei Hexenprozessen hingewiesen werden. Er war einer der ersten europäischen Straf-, Zivil- und Kirchentheoretiker [sic!], der auch auf [!] ein über [!] mehrere Jahrzehnte Erfahrung basierendes Wissen in der Rechtspraxis verfügte. Sein maßgeblicher Einfluss hat sich vor allem auf [!] die Systematisierung und kritische Auseinandersetzung im Strafrecht bemerkbar gemacht" (S. 432). Die Stilblüte "Geburt, Taufe, Trauung, Tod [!] und Begräbnis bildeten kurzweilige Höhepunkte im ansonsten harten Alltag" (S. 254) macht das Lesen nicht angenehmer. Auch mit den Lateinkenntnissen ist es nicht zum besten bestellt: "maleficus (lat. für schädliche Zauberei), magiae (lat. für Zauberei) ... und sortilegus (lat. für Weis- und Wahrsagerei)" (S. 2).
Offensichtlich fehlte jemand zum Gegenlesen. Daß auch in einem renommierten Wissenschaftsverlag ein Lektorat, das diesen Namen verdient, nicht mehr existiert, ist keine Überraschung. Aber daß eine Universitätsfakultät hier keine Abhilfe bot und gebot, erscheint unverständlich. Trotzdem: Für die weitere Erforschung der Hexenprozesse in Sachsen hat Manfred Wilde mit Fleiß und Spürsinn eine unverzichtbare Grundlage geschaffen. Da seine Forschungen auch zu großen Teilen das heutige Land Sachsen-Anhalt betreffen und Thüringen sowie Mecklenburg bereits durch Roland Füssel bzw. Katrin Moeller kompetente Bearbeiter gefunden haben, bleibt als größtes Desiderat in den neuen Bundesländern die Erforschung der Hexenprozesse im Kurfürstentum Brandenburg übrig.
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Citation:
Rainer Decker. Review of Wilde, Manfred, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen.
H-German, H-Net Reviews.
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