Andrew Lees, ed. Character is Destiny: The Autobiography of Alice Salomon. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2004. x + 264 pp. $70.00 (cloth), ISBN 978-0-472-11367-5.
Reviewed by Wolfgang Ayaß (University of Kassel, Germany)
Published on H-German (December, 2004)
Alice Salomon
"Alice Salomon ist eine der großen Figuren der Frauenbewegung. Ihr Name steht gleichermaßen für eine an Wissenschaftlichkeit und Professionalität orientierten Sozialpolitik und soziale Arbeit dieses Jahrhunderts. Ihr Werk ist ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Frauenbewegung und der Herausbildung des Sozialstaats. Sie hat die ersten Ausbildungsstätten für Soziale Berufe in Deutschland gegründet. 1937 war Alice Salomon durch den NS-Staat gezwungen worden, Deutschland zu verlassen, ihre Ämter hatte sie bereits 1933 verloren. Seitdem sind ihre zahlreichen Schriften nicht wieder in nennenswertem Umfang veröffentlicht worden." So stellt das "Alice Salomon-Archiv"--eine kleine an die "Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit" in Berlin angegliederte Forschungsstelle--die 1948 in New York gestorbene Berliner Fürsorgeexpertin vor.[1] Die 2004 abgeschlossene, von Adriane Feustel herausgegebene dreibändige Edition der "Ausgewählten Schriften" Alice Salomons hat einen Teil der Schriften wieder leicht zugänglich gemacht.[2] Alice Salomon ist somit heute weit besser "greifbar" als noch vor einigen Jahren, nicht zuletzt durch die im Jahr 2000 erschienene Salomon-Biografie von Carola Kuhlmann und Anja Schülers vergleichende Studie über Jane Addams und Alice Salomon aus dem Jahr 2003.[3]
Fragt man heutige Studentinnen und Studenten der Sozialarbeit und Sozialpädagogik nach "Gründergestalten" wird noch am ehesten Alice Salomon genannt, doch mehr als ihren Namen kennen die Studierenden kaum. An der Universität Kassel (deren Fachbereich "Sozialwesen" jährlich über zweihundert Absolventen und Absolventinnen hat) ist das einzige Bibliotheksexemplar der Lebenserinnerungen Alice Salomons im Durchschnitt der letzten acht Jahre nur einmal pro Semester ausgeliehen worden.
Alice Salomon hat diese Lebenserinnerungen in ihrem New Yorker Exil in englischer Sprache verfasst--erkennbar geschrieben für eine amerikanische Leserschaft.[4] Dank der nun erschienenen Edition von Andrew Lees liegt die Autobiografie von Alice Salomon jetzt erstmals gedruckt in Englisch vor. Eine deutsche Übersetzung des Textes, den Joachim Wieler Anfang der achtziger Jahre gezielt suchte und nach langen Recherchen bei einer entfernten Verwandten Salomons aufstöberte, erschien (herausgegeben von Rüdiger Baron und Rolf Landwehr) bereits im Jahr 1983. Dieses Buch ist jedoch im Buchhandel seit langem nicht mehr erhältlich und auch antiquarisch nicht einfach zu beschaffen.[5]
Von dem Text existieren zwei undatierte Versionen, die beide noch während des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Lees nahm (wie auch schon Baron und Landwehr) die heute im Leo-Baeck-Institut in New York archivierte (spätere) Fassung zur Grundlage, dokumentiert jedoch im Anhang das Vorwort der früheren Fassung, die sich heute im Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen in Berlin befindet.
Wie in einer Autobiografie kaum anders möglich, geht Salomon in ihren 24 Kapiteln chronologisch vor. Sie schildert zunächst ihre bürgerlich-behütete Kindheit in der Familie eines assimilierten jüdischen Lederhändlers in Berlin. Der Beginn ihrer Tätigkeit in der (internationalen) Frauenbewegung und die Anfänge der Schule für Sozialarbeit sind wohl die interessantesten Abschnitte des Textes. Es folgen drei Kapitel über Salomons Tätigkeit im Ersten Weltkrieg. Die Kapitel 12 bis 16 behandeln die Zeit der Weimarer Republik, über die Salomon insgesamt eine positive Bilanz zieht. Über die Reformgesetzgebung der Weimarer Republik berichtet sie allerdings nur unvollständig. So wichtige Gesetze wie die Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1924 (dem deutschen Armengesetz) und das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927 (letzteres war immerhin ein zentrales Thema der Frauenbewegung und der Sozialhygiene) werden nicht einmal erwähnt. Ab dem 17. Kapitel schildert Salomon nun mit deutlich weniger autobiografischen Anteilen die Verhältnisse in Nazideutschland, im letzten Kapitel dann knapp die Umstände ihrer Ausweisung aus Deutschland im Jahr 1937. Ihre Exiljahre behandelt sie nur in wenigen Sätzen.
Die Autobiografie ist ein wichtiges Dokument der deutschen Frauenbewegung und der Entstehungsgeschichte der Sozialarbeit als Beruf. Wir erfahren von Alice Salomon viel über das sozialreformerische Klima der Reichshauptstadt insbesondere in der Weimarer Republik und ihre beharrlichen Bemühungen, die seit 1899 durchgeführten sozialarbeiterischen Ausbildungskurse für junge Frauen zu der dann 1908 gegründeten Berliner Schule für Soziale Arbeit auszubauen.
Insgesamt ist allerdings einigermaßen überraschend, dass sich in der Autobiografie die konkrete Sozialarbeit fast nicht niederschlägt. Selbst aus der Anfangszeit, in der Alice Salomon noch selbst "die Armen besuchte" wird keine einzige Situation oder Episode geschildert, keine der besuchten Familien wird konkret benannt, nicht eine Person erhält ein Gesicht. Wir erfahren in der Autobiografie viel über Ideenwelt und Lebensumstände der Gründerfigur der sozialen Arbeit, aber doch erstaunlich wenig über die sozialen Zustände und sozialpolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland. Erstaunlicherweise berichtet Alice Salomon kaum, wie es auf der von ihr gegründeten Ausbildungsstätte konkret zuging, wie Lehrinhalte und Unterrichtsmethoden entwickelt wurden. Und auch über die Arbeitsbedingungen und Erfahrungen ihrer Absolventinnen schreibt Alice Salomon nur wenig (an einer Stelle wird das Problem der männlichen Vorgesetzten thematisiert). Man erfährt von Salomon mehr über die sie stark beeindruckende Welt der nationalen und internationalen Frauen- und Sozialarbeiterkongresse als über die Wirklichkeit der sozialen Arbeit in Deutschland. Salomons Erinnerungen enthalten eine starke Tendenz zu suggerieren, fachliche Armenhilfe und soziale Arbeit habe erst mit den Gründungen der nichtkonfessionellen Ausbildungsstätten begonnen. Ihr ausgeprägter "Wir"-Bezug lässt sie kaum einen Blick auf ältere Entwicklungsstränge werfen.
Dass unter den Bedingungen des Exils geschriebene Lebenserinnerungen sachliche Irrtümer und Fehler enthalten, ist kaum zu vermeiden. Doch leider haben schon die Herausgeber der deutschen Ausgabe 1983 nur einige wenige sehr grobe Falschinformationen von Alice Salomon richtig gestellt. Und auch Andrew Lees lässt Salomons recht häufige Fehler unkommentiert, etwa wenn sie behauptet, der bismarck'schen Sozialgesetzgebung hätten im Reichstag nur die Konservativen zugestimmt (S. 26), wenn sie das Sozialistengesetz im Jahr 1879 beginnen lässt (S. 26) oder den sozialdemokratischen Parteiführer August Bebel als "Tischler" bezeichnet (er war selbständiger Drechslermeister). Und darf wirklich unkommentiert stehen bleiben, dass laut Alice Salomon in Nazideutschland 84,000 Personen zwangssterilisiert wurden, obwohl es nach den Berechnungen von Gisela Bock etwa 400,000 waren (S. 207)?[6] Auf Seite 157 erwähnt Salomon lobend einige mit ihrer Ausbildungsstätte verbundene "great scholars," darunter unter anderen auch den führenden Rassenhygieniker Eugen Fischer. In der dazugehörigen Anmerkung schreibt Lees lapidar: "These men were thinkers who enjoyed high reputations in a variety of fields."
Von einer historisch-kritischen Textedition kann somit keine Rede sein, die Annotationen Lees fallen insgesamt sogar spärlicher aus als die der deutschen Ausgabe von Baron und Landwehr. Das Buch enthält einige Fotografien (teilweise andere und bessere als in der deutschen Ausgabe!) und leider kein Personenregister. Dies ist besonders schade, weil Salomon ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen dutzendfach erwähnt. Längst nicht alle der von Salomon genannten Personen sind biografisch annotiert, hier wäre mit vertretbarem Aufwand (teilweise durch bloße Auswertung der Annotationen der "Ausgewählten Schriften") manch ausführlichere Erläuterung der erwähnten Personen möglich gewesen.
Anmerkungen
[1]. Das "Alice Salomon-Archiv" hat ein Verzeichnis von 540 Schriften Alice Salomons zusammengestellt, das sowohl in Buchform erschienen ist (Adriane Feustel/ Andreas Kuhn, Hrsg., Die Schriften Alice Salomons. Bibliographie 1896-2004, Berlin: ASFH, 2004) wie auch online zugänglich ist (http://www.asfh-berlin.de/archiv/bib_on.html).
[2]. Adriane Feustel, Hrsg., Alice Salomon. Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte Schriften, 3 Bde. (Neuwied: Luchterhand, 1997-2004).
[3]. Carola Kuhlmann, Alice Salomon. Ihr Lebenswerk als Beitrag zur Entwicklung der Theorie und Praxis sozialer Arbeit (Weinheim: Deutscher Studienverlag, 2000); Anja Schüler, Frauenbewegung und soziale Reform im transatlantischen Dialog: Jane Addams und Alice Salomon, 1889-1933 Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2004).
[4]. Jochim Wieler, Er-Innerung eines zerstörten Lebensabends. Alice Salomon während der NS-Zeit (1933-1937) und im Exil (1937-1948) (Darmstadt: Lingbach Verlag, 1987).
[5]. Rüdiger Baron, Rolf Landwehr, Hrsg., Alice Salomon. Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen. Aus dem Englischen übersetzt von Rolf Landwehr. Mit einem Nachwort von Joachim Wieler (Weinheim/Basel: Beltz, 1983).
[6]. Die von Salomon genannte Ziffer bezieht sich auf die 84.525 bis Ende 1934 gestellten Sterilisationsanträge. Salomon schreibt jedoch von 84.000 durchgeführten Sterilisationen. Dass sie sich nur auf das Jahr 1934 bezieht, bleibt unklar.
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Citation:
Wolfgang Ayaß. Review of Lees, Andrew, ed., Character is Destiny: The Autobiography of Alice Salomon.
H-German, H-Net Reviews.
December, 2004.
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