Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann. Um Himmels Willen: Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003. 358 S. EUR 29.90 (broschiert), ISBN 978-3-525-36271-6.
Reviewed by Joachim Schmiedl (Philosophisch-theologische Hochschule, Vallendar)
Published on H-German (November, 2005)
Vor Naturkatastrophen steht der Mensch nach wie vor rat- und hilflos. Die Tsunami-Katastrophe in Südostasien an Weihnachten 2004 und die Hurrikan-Stürme im Herbst 2005 haben dies jüngst wieder vor Augen geführt. Zur psychischen Bewältigung der Schäden gehört auch die Frage nach dem Warum, die auch heute noch letztlich eine religiöse Frage ist. Um so mehr gilt das für vergangene Jahrhunderte, was Thema des auf eine Tagung im Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte zurückgehenden Sammelbandes ist.
Im Mittelpunkt des Buches steht eine ausführliche Studie von Wolfgang Behringer über die "Krise von 1570" (S. 51-156). In jenen Jahren führte eine allgemeine Klimaverschlechterung ("Kleine Eiszeit") zu mehreren strengen Wintern und verregneten Sommern mit der Folge von Missernten, Sturmfluten und Epidemien. Die wirtschaftshistorische Forschung hatte diese Häufung von Negativentwicklungen wohl seit langem wahrgenommen. Behringer führt Einzelinformationen zusammen und konfrontiert sie mit zeitgenössischen Quellen, in denen die Entwicklung der Krise geschildert wird. Den Umgang mit der Krise illustriert Behringer vor allem am Beispiel eines 1575 Zeilen umfassenden Gedichts des Augsburger Malers und Chronisten Barnabas Holzmann, das als letzter Beitrag im vorliegenden Sammelband ediert ist (S. 294-355). Holzmanns Darstellung der Krise war von apokalyptischem Schrecken geprägt. Seine Interpretation richtete sich auf die Sündhaftigkeit der Menschen, die nur durch Buße und Änderung des Lebens in den Griff zu bekommen sei. Typisch für die Zeit war auch die Suche nach Zeichen göttlichen Eingreifens und möglichen Wundern. Wo das nicht half, wurden Sündenböcke gesucht. Zwar richteten sich Prediger gegen drohende Pogrome, doch macht Behringer zu Recht auf den Zusammenhang der meteorologisch-ökonomischen Krise und dem Beginn massenhafter Hexenverfolgungen aufmerksam.
Behringers Beitrag will einerseits die Fülle an Reaktionen auf die "Krise von 1570" aufzeigen, warnt aber auch vor der Meinung, dadurch sei eine tiefere religiöse Praxis bewirkt worden. Im Gegenteil: Angst war nie ein flächendeckend verbreitetes Phänomen. Und dauerhafte Veränderungen lassen sich durch Angst sowieso nicht bewirken. Die Mahnung Behringers ist deshalb berechtigt: "Historiker, die viel über die Rechtfertigungslehre und den Prozess der Konfessionalisierung zu erzählen wissen, sollten es ernst nehmen, wenn die christlichen Kader stets über die Irreligiosität der Bevölkerung klagen oder sich selbst in diesem religiösen Zeitalter als eine Minderheit empfangen" (S. 127). Bewirkt hat die Krise von 1570 letztlich vor allem etwas in der Gesetzgebung der Städte und Herrschaften, konkret in Sittengesetzen und Münzmandaten, mit deren Hilfe marode Finanzen saniert werden konnten. Behringer schließt seinen äußerst quellengesättigten und informativen Beitrag mit der Aufforderung, historischen Krisen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, sie aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Quellengattungen zu untersuchen, auszuwerten und dadurch zu vergleichenden Aussagen zu kommen. Unter Umständen ließen sich, so Behringer, völlig neue Perspektiven auf die Geschichte der Frühen Neuzeit gewinnen, wenn man sie von den Ereignissen in der Mitte her betrachtete: "Diese Mitte der Epoche war eine Zeit der permanenten Unruhe und Unsicherheit, auch einiger Revolutionen, aber auch eines Kampfes um eine Überwindung der vielen Krisen, nicht zuletzt auch einer religiösen Krise" (S. 155-156).
Krisen und Krisenbewältigungen sind auch die Themen der übrigen Beiträge des Sammelbands gewidmet. Sie umspannen den Zeitraum von der Pest des 14. Jahrhunderts bis zu den Hungerjahren 1816/1817. Heinrich Dormeier (S. 14-50) macht darauf aufmerksam, dass bei den Studien zum Schwarzen Tod nicht nur die große Epidemie der Jahre um 1348 zu beachten sei, sondern auch die folgenden Jahrhunderte, in denen sich die ikonographische Darstellung verbreitete, neue Pestheilige (der Rochuskult datiert erst aus dem 15. Jahrhundert) hinzu kamen und vor allem seit der Reformation die mentalen Unterschiede in der religiösen Bewältigung der Krankheit zu Tage traten. Dabei waren es in protestantischen Gegenden nicht nur die Geistlichen, die zu religiösen Versammlungen aufforderten, sondern des öfteren die Räte der Stadt, die etwa in Basel 1620 im Vorfeld der Kriegsbedrohung einen außerordentlichen Fast- und Bettag abhalten ließen. Martin Sallmann (S. 157-178) charakterisiert diesen Tag als eine Form der Intensivierung der Religiosität, bei der die protestantische "innerliche" Gottesbeziehung öffentlich manifest geworden sei.
Um die Ursachendeutung von Katastrophen geht es in weiteren Beiträgen. Dabei gerieten religiöse Deutungen und naturwissenschaftliche Erklärungsversuche während der Frühen Neuzeit zunehmend in Konkurrenz. Manfred Jakubowski-Tiessen (S. 179-200) kann das am Beispiel einer Nordsee-Sturmflut aus dem Jahr 1634 ebenso veranschaulichen wie Marie Luisa Allemeyer (S. 201-234) an norddeutschen Stadtbränden des 17. Jahrhunderts. Erdbeben aber wurden schon in der Bibel als Zeichen Gottes aufgefasst, was ihre Perzeption als solche bis ins 18. Jahrhundert hinein erleichterte, wie Rienk Vermij (S. 235-252) und Ulrich Löffler (S. 253-274) herausarbeiten. Religiös-fromme, aber auch rational-aufgeklärte Denkmuster wurden gerade durch den Tsunami, der 1755 Lissabon zerstörte, erschüttert.
In der letzten von Andreas Gestrich (S. 275-293) behandelten Krise, den Hungerjahren 1816/1817, war der Umschwung vollzogen. Die Naturgesetze wurden als perfektes Werk Gottes anerkannt, Gott selbst aber nicht mehr so stark als strafender, sondern als seine Schöpfung liebender Vatergott gesehen. Die offizielle kirchliche Reaktion sah deshalb wohltätige Hilfe und Unterstützung staatlicher Organisationen vor. In der Praxis gab es jedoch auch Deutungen der Naturkatastrophe als Zeichen der bevorstehenden Endzeit etwa in Kreisen württembergischer Pietisten, denen der Wallfahrtskatholizismus näher stand als einer rationalen Distanzierung kirchlicher Eliten.
Der vorliegende Sammelband lädt ein, die Geschichte der Frühen Neuzeit stärker von ihren Naturkatastrophen her zu lesen und damit Brüche und Kontinuitäten nicht nur an den Eckdaten festzumachen. Die am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte durchgeführten Forschungsarbeiten mit ihrem Schwerpunkt im 17. Jahrhundert werden dazu sicher noch manche interessanten Studien vorlegen und damit auch die für die Frühneuzeitgeschichte nach wie vor beherrschenden Deutungsschemata der Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung facettenreich ergänzen und korrigieren können.
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Citation:
Joachim Schmiedl. Review of Jakubowski-Tiessen, Manfred; Lehmann, Hartmut, Um Himmels Willen: Religion in Katastrophenzeiten.
H-German, H-Net Reviews.
November, 2005.
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