Erik Grimmer-Solem. The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864-1894. Oxford: Clarendon Press, 2003. xiii + 338 pp. $74.00 (cloth), ISBN 978-0-19-926041-6.
Reviewed by Wolfgang Ayaß (University of Kassel, Germany)
Published on H-German (May, 2004)
Gustav Schmoller und Kollegen
Gustav Schmoller und Kollegen
Um es gleich zu sagen: Dies ist ein facettenreiches Buch über das Verhältnis von "Historischer Schule" der Nationalökonomie und Sozialreform im deutschen Kaiserreich, das weit mehr bietet als nationalökonomische Wissenschaftsgeschichte und dem man eine weite Verbreitung und breite Rezeption wünschen kann.
Eine wissenschaftliche "Schule" zerrinnt mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen den Fingern, sobald man sie näher untersucht. Auch Erik Grimmer-Solem hinterfragt eingehend den Begriff "Historische Schule der Nationalökonomie" mit dem nicht überraschenden Ergebnis, dass es sich hier um eine doch eher unsystematische Zusammenfassung recht unterschiedlicher Gelehrter handelt, deren gemeinsamer Nenner allenfalls in Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte zu finden ist. Keine spezifische Methode, kein abgegrenzter Forschungsgegenstand, keine politische Orientierung einigte sie (S. 25). Somit sei der Begriff "Schule" reichlich übertrieben, zumal auch kaum faktische Kooperation der Universitätslehrer gefunden werden kann, hingegen viel Distanz und rivalisierende Beziehungen. Grimmer-Solem fokussiert seine Studie auf vier einflussreiche deutsche Nationalökonomen: die Professoren Gustav Schmoller (1838-1917), Lujo Brentano (1844-1931), Adolf Held (1844-1880) und Georg Friedrich Knapp (1842-1926). Im Mittelpunkt steht allerdings unverkennbar Gustav Schmoller, nicht zuletzt durch ein 34 Seiten umfassendes Kapitel zum "Methodenstreit" mit dem österreichischen Nationalökonomen Karl Menger (1840-1921). Zeitlich ist die Studie auf die Jahre vom ersten Einigungskrieg bis zum Rücktritt des Reichskanzlers Caprivi eingegrenzt.
Grimmer-Solem betont die herausragende Rolle des Aufschwungs der statistischen Forschungen in den 1860er Jahren, die enge Verbindung führender Statistiker mit der Sozialreform und die immens wichtige Rolle der Statistischen Büros, insbesondere des Preußischen Statistischen Büros unter Ernst Engel, bei dem Brentano, Held und Knapp Erfahrungen sammeln konnten. Auch Gustav Schmoller erhielt eine statistische Ausbildung bei seinem Schwager Gustav Rümelin, der das Württembergische Statistische Büro leitete. Der Autor unterstreicht auch die große Rolle der Auslandsaufenthalte, insbesondere in England, für das Weltbild der Professoren im Allgemeinen, aber auch ihrer konkreten Kenntnisse der industriellen Verhältnisse. Die fortgeschritteneren Industrienationen zeigten im zeitgenössischen Verständnis Deutschlands Zukunft.
Immer wieder verlässt der Autor gewinnbringend die engere Wissenschaftsgeschichte, zunächst, indem der er eingehend das Innenleben der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert schildert. Wir erfahren viel über Staatswissenschaft als akademische Disziplin, die innere Organisation der Universitäten, die Freiheit der Lehre und die große akademische Vielfalt, über Hörergelder und Prüfungskultur und den spezifischen Stellenwert von Doktorarbeiten und Habilitationen. Die Auswertung des Briefwechsels der Beteiligten brachte manch interessantes Detail zur Berufungspraxis, insbesondere dem großen Einfluss Gustav Schmollers auf das preußische Kultusministerium, speziell auf seinen alten Freund aus Straßburger Zeiten, den Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff (1839-1908). Auf die eigenen Studenten wirkten die Kathedersozialisten im Übrigen durchaus schulenbildend. Insbesondere Schmollers Seminar spielte eine große Rolle für akademische Karrieren, aber auch für Positionen als Handelskammersekretäre und Repräsentanten von Interessenverbänden (S. 58).
Grimmer-Solem geht aber auch über den unmittelbaren Universitätsbereich hinaus und untersucht ausführlich den (vor Schmollers Jahrbuch) unübersichtlichen Zeitschriftenmarkt (eine Zeitschrift, die als Organ der Historischen Schule angesehen werden könnte, existierte zunächst nicht) und Publikationsbedingungen. Immer wieder lenkt Grimmer-Solem den Blick auf die zentrale Rolle des enthusiastischen und fachlich interessierten Verlegers Karl Geibel (1842-1910), dem Eigentümer des Verlags Duncker & Humblot, der Verleger vieler Kathedersozialisten war und auch die Schriften des "Vereins für Sozialpolitik" herausgab, die sich im Übrigen zunächst recht schlecht verkauften (S. 188 f.).
Selbstverständlich nimmt in der Studie die Gründungsgeschichte des "Vereins für Sozialpolitik" eine wichtige Rolle ein. Sowohl aus zeitgenössischer wie aus heutiger Sicht scheint die Gründungsversammlung des Jahres 1872 das aufregendste Einzelereignis in der Geschichte dieses heute noch bestehenden Vereins gewesen zu sein. Öffentliche Aufmerksamkeit und direkter Einfluss auf die Politik ließen bald spürbar nach, insbesondere nachdem zur Vermeidung von Konflikten keine Resolutionen mehr verabschiedet wurden. Im Regierungslager war das Interesse an den Jahresversammlungen des Vereins zu Bismarcks Zeiten ohnehin begrenzt. Die entscheidenden sozialpolitisch verantwortlichen Beamten besuchten sie nur vereinzelt (Theodor Lohmann nur einmal, Robert Bosse kein einziges Mal). Insgesamt darf man sich die Verbindungen zwischen den Kathedersozialisten und der Regierungsbürokratie ohnehin nicht allzu eng vorstellen. Im Oktober 1877 diskutierte der "Verein für Sozialpolitik" auf seiner fünften Generalversammlung einen durch Indiskretion bekannt gewordenen Gesetzentwurf Theodor Lohmanns zum Ausbau der Fabrikgesetzgebung vom 30. Juni 1876, der zum Zeitpunkt des Kongresses in der Regierung aufgrund des Einspruchs Bismarcks bereits seit über einem Jahr gescheitert und längst ad acta gelegt worden war.[1] Niemand aus der Regierungsbürokratie bewahrte die Verantwortlichen vor dieser Peinlichkeit.
Das Buch ist im Allgemeinen korrekt und präzise gearbeitet. Bei dem leitenden Beamten des Reichsamts des Innern (und späteren preußischen Kultusminister) "Robert von Bosse (1852-1901)" (S. 53) geht allerdings so ziemlich alles daneben. Zunächst war Bosse kein Adeliger, eine drohende Nobilitierung hatte Bosse 1888 im frühen Stadium verhindert, weil er meinte, für die daraus entstehenden Repräsentationspflichten nicht aufkommen zu können. Außerdem wurde Bosse 1832 geboren (und nicht 1852), schließlich wurde er 1881 (und nicht erst 1891, wie auf S. 72 behauptet) Direktor der wirtschaftlichen Abteilung im Reichsamt des Innern. In dieser Funktion entwarf Robert Bosse im Übrigen die berühmte Kaiserliche Sozialbotschaft vom 17. November 1881.[2]
Grimmer-Solem sieht völlig zurecht einen wichtigen, wenngleich durchweg indirekten Einfluss oft früh geäußerter Ideen Schmollers und Brentanos (S. 222). Gleichwohl muss man die Begeisterung des Autors für seine Protagonisten doch etwas dämpfen. Stärkung der Selbstverwaltung und Förderung des Mittelstands forderten auch andere und der Nachweis einer nachhaltigen Wirkung fehlt. Nimmt man die 1880er Jahre als das entscheidende Jahrzehnt für die Ausbildung des deutschen Sozialstaats, so fällt der konkret nachweisbare Anteil von "Schmoller and his colleagues" an der Arbeitergesetzgebung doch eher dürftig aus. Universitärer Einfluss ist in den entscheidenden Jahren weder bei der konkreten Ausgestaltung der Arbeiterversicherung noch beim vehementen Kampf um den von Schmoller wie Brentano deutlich favorisierten, von Bismarck jedoch ebenso deutlich abgelehnten Arbeiterschutz nachweisbar.[3] Die Vorkämpfer und Exponenten der bürgerlichen Sozialreform hatten sich um 1880 aus dem öffentlichen Diskurs um Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung erkennbar zurückgezogen. Direkten Anteil an Bismarcks Gesetzgebung zur Arbeiterversicherung hatten sie ohnehin nicht, wir finden hier hauptsächlich nachträgliche Kommentierung. Alternativen oder Forderungen nach Ausweitung der absichernden Arbeitergesetzgebung in Richtung einer versöhnenden Arbeiterpolitik wurden nicht weiterentwickelt und öffentlich erhoben.[4] Gustav Schmoller arbeitete wieder historisch und bereitete seine Akteneditionen vor.[5] Er sah seine Aufgabe ohnehin nicht im alltäglichen Parteienkampf, sondern eher kommentierend (ähnlich dem Chor der antiken Tragödie). Aber auch der mehr agitatorisch veranlagte Lujo Brentano hielt sich in dieser Zeit vom Tagesgeschehen der Sozialreform eher fern und schrieb eine große Darstellung zur Arbeiterfrage, wobei er Bismarcks Staatssozialismus kritisierte, insbesondere die zwangsförmige Arbeiterversicherung, jedoch kein politikfähiges Konzept entwickelte.[6] Die Themen der Jahresversammlungen des "Vereins für Sozialpolitik" und die Themen der unmittelbaren politischen Agenda fielen in den 1880er Jahren erstaunlich weit auseinander, der öffentliche Einfluss des Vereins war nun geringer als in den 1870er Jahren (S. 202). Als es um konkrete Gesetzgebung ging, hatten Parlamentarier und Regierungsbürokraten naturgemäß mehr Einfluss als ideengebende Professoren, auf deren Rat Bismarck ohnehin nur in seltenen Einzelfällen (wie dem ehemaligen österreichischen Handelsminister Albert Schäffle) hörte.
Zum Abschluss dieser Besprechung hierzu ein kleines Fundstück des Rezensenten aus den Akten des Auswärtigen Amts. Welche Welten zwischen Otto von Bismarck und den professoralen Sozialreformern lagen, zeigte sich nicht zuletzt bei der Auswahl der deutschen Delegierten für die berühmte internationale Arbeiterschutzkonferenz in Berlin Anfang März 1890. Bismarcks Sohn Herbert, der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, hatte unter anderem Gustav Schmoller oder Lujo Brentano als Delegierte vorgeschlagen. Der Reichskanzler strich beide von der vorbereiteten Liste mit der schnöden Randbemerkung "keine Professoren"![7]
Anmerkungen
[1]. Vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867-1881), 3. Band: Arbeiterschutz, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Stuttgart/ Jena/ New York 1996, Nr. 89.
[2]. Vgl. Quellensammlung GDS, II. Abt., Bd. 1, Nr. 1-9.
[3]. Vgl. Wolfgang Ayaß, Bismarck und der Arbeiterschutz. Otto von Bismarcks Ablehnung des gesetzlichen Arbeiterschutzes - eine Analyse der Dimensionen und Hintergründe, in: Vierteljahrschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte 89 (2002), S. 400-426.
[4]. Vgl. Rüdiger vom Bruch (Hrsg.), "Weder Kommunismus noch Kapitalismus". Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985, S. 77 ff.
[5]. Vgl. Wolfgang Neugebauer, Die "Schmoller-Connection". Acta Borussica, wissenschaftlicher Großbetrieb im Kaiserreich und das Beziehungsgeflecht Gustav Schmollers, in: Archivarbeit für Preußen, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2000, S. 261 ff.
[6]. Vgl. Lujo Brentano, Die gewerbliche Arbeiterfrage, in: Gustav von Schönberg (Hrsg.), Handbuch der politischen Ökonomie, Bd. 1, 1. Aufl., Tübingen 1882, S. 905 ff.; ders., Der Arbeiter-Versicherungszwang, seine Voraussetzungen und seine Folgen, Berlin 1881.
[7]. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 598, n. fol.
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Citation:
Wolfgang Ayaß. Review of Grimmer-Solem, Erik, The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864-1894.
H-German, H-Net Reviews.
May, 2004.
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