Dirk Götschmann. Bayerischer Parlamentarismus im Vormärz: Die Ständeversammlung des Königreiches Bayern 1819-1848. Düsseldorf: Droste Verlag, 2002. 981 S. EUR 98.00 (cloth), ISBN 978-3-7700-5248-6.
Reviewed by Ewald Grothe (Historisches Seminar der Bergischen Universität Wuppertal)
Published on H-German (September, 2004)
Trotz der in den letzten Jahrzehnten sich mehrenden Studien zum Parlamentarismus im deutschen Vormärz liest man gelegentlich, daß es vor 1848 auf deutschem Boden allenfalls kryptische repräsentative Gebilde gegeben habe, deren Erforschung einer archäologischen Grabung auf proto-bzw. präparlamentarischem Terrain gleiche. Ohne Parteien und lediglich mit "Ständeversammlungen" von altbackenem Zuschnitt versehen, habe der monarchische Konstitutionalismus unter dem Banner des Gottesgnadentums sämtliche frühen parlamentarischen Bestrebungen zumal liberaler Provenienz weitgehend unterdrücken können. Erst die Revolution von 1848 habe einen qualitativen Sprung nach vorn bedeutet, indem sich jetzt erstmals Fraktionen gebildet hätten und ein frühparlamentarischer Betrieb entstanden sei. Er sei aber an den schlechten Bedingungen auf zuvor wenig begangenem Gelände gescheitert. Selbst die um die Erforschung von Parlamentarismus und Parteiengeschichte ansonsten äußerst verdienstvolle Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien hat sich diesem Vorurteil, wie es scheint, teilweise gebeugt. Denn bis heute finden sich in ihren Veröffentlichungsreihen nur vergleichsweise wenige Studien, die ein Thema vor 1848 behandeln.
Anders steht es freilich um das seit Ende der siebziger Jahre in Gang gekommene, von Gerhard A. Ritter initiierte Großunternehmen eines "Handbuchs der Geschichte des deutschen Parlamentarismus." Das Projekt schien nach bisher sechs zwischen 1977 und 1987 erschienenen Bänden eingeschlafen zu sein. Nun aber ist nach Herbert Obenaus' Monographie über Preußen (1984) und der Darstellung von Hartwig Brandt über Württemberg (1987) ein dritter Band erschienen, der sich dem parlamentarischen Geschehen im Vormärz widmet: Der in Würzburg lehrende Dirk Götschmann, 1993 durch eine Studie über das bayerische Innenministerium im 19. Jahrhundert hervorgetreten, hat sich den bayerischen Parlamentarismus vor 1848 vorgenommen.
Ohne Zweifel hatte der vom Autor eingangs zitierte Heinz Gollwitzer recht, als er anmerkte, eine Darstellung des frühen Parlamentarismus in Bayern sei "überfällig" (Vorwort). Ausführliche Vorarbeiten über das Wahlrecht im Vormärz von Josef Leeb oder die Erste Kammer nach 1848 von Bernhard Löffler wurden erst 1996 vorgelegt.[1] Götschmann fügt in seiner Einleitung noch weitere Argumente hinzu, die klarstellen sollen, warum die Untersuchung ein "Beitrag zur Analyse des deutschen Parlamentarismus im Vormärz" sei (S. 17). Einleuchtend ist dies allein deshalb, weil das deutsche parlamentarische Leben vor 1867/71, sieht man einmal von der Ausnahmesituation der Revolutionsjahre 1848-1850 ab, in den Ländern stattfand. Außerdem, so Götschmann, weise die bayerische Geschichte dieser Epoche "Eigentümlichkeiten" auf, sei das Wirken der Münchener Ständeversammlung "singulär" und besitze eine "eigene Prägung" (S. 15). So erwartet man mit Spannung die Lektüre eines Bandes, der mit fast 1.000 Seiten zunächst einen abschreckenden Umfang zu besitzen scheint.
Götschmann geht der Geschichte des Parlamentarismus in Bayern in der Phase von Restauration und Vormärz minutiös nach. Er gliedert seine Darstellung in zwei Teile. Im ersten behandelt er auf rund dreihundert Seiten systematisch die Grundlagen des parlamentarischen Wirkens, indem er die Vorgeschichte und die Verfassung von 1818, Wahlen und Zusammensetzung der beiden Kammern, den institutionellen Rahmen (Landtagsgebäude, Archiv und Verwaltung, Organisation und Finanzen) und schließlich den formellen Ablauf eines Landtags sowie die Arbeitsweise der Kammern (Geschäftsordnung und Ausschußwesen) untersucht. Der zweite Teil mit 570 Seiten Länge wird von der Chronologie dominiert. Götschmann zeichnet die zwölf Landtage zwischen 1819 und 1848 in allen ihren Facetten nach. Drei Phasen gilt es ihm zufolge zu differenzieren: 1. den "Parlamentarismus im Zeichen der Restauration" unter König Maximilian Joseph I. bis 1825, 2. den "Parlamentarismus in der Defensive" in der Regierungszeit Ludwigs I. und schließlich die "'letzte' Ständeversammlung von 1848, die nach der Thronübergabe an Maximilian II. unter den Bedingungen der Revolution tagte.
Der innere Aufbau der Kapitel ist parallel angeordnet: Vorbereitung, Formierung, Verlauf und Resümee. Die strenge Struktur der voluminösen Studie garantiert somit eine optimale Orientierung innerhalb des Bandes, der zudem durch Personen-, Orts- und Sachregister gut erschlossen ist. Zudem ist ein Vergleich verschiedener Entwicklungsphasen des bayerischen Parlamentarismus dadurch leichter möglich. Erkauft wird dies freilich durch eine wenig erfrischende und ermüdend abgespielte Verlaufsschilderung, die jedem Landtag geradezu buchhalterisch vierzig Seiten zugesteht. Alles ist gründlich recherchiert und sachlich dargeboten, aber es fehlt ein wenig der stilistische Schwung, der den Leser von der Vielzahl der Quelleninterpretationen aufrüttelte. Der Autor verschenkt dabei auch sich bietende Chancen: denn selbst der letzte Landtag, der am 22. März 1848, zwei Tage nach dem durch die Lola-Montez-Affäre veranlaßten Thronwechsel eröffnet wurde, wird von der stereotypen Binnengliederung nicht verschont, auch wenn er die doppelte Seitenzahl beansprucht. Die Dynamik vieler parlamentarischer Vorgänge wird bei Götschmann von chronikalischer Sorgfalt und akribischer Strenge überlagert.
Das formal scheinende Monitum einer starren chronologisch-systematischen Ordnung schlägt sich in vielen Fällen leider auch im Text nieder. Der Anspruch auf (relative) Vollständigkeit bei der Schilderung des parlamentarischen Alltags führt zu einer übertrieben ausführlichen Darstellung der Gesetzgebungsarbeit. Auch wartet der Autor bisweilen mit kurios anmutenden Details auf. Über das Amt des Landtagsarchivars handelt Götschmann beispielsweise auf rund einem Dutzend Seiten, vergißt dabei keine Gehaltserhöhung und erst recht keinen Stellenwechsel. Dagegen sucht man vergebens nach lebendigen Porträts einzelner besonders markanter Parlamentarier, die mit ihrem inner- und außerparlamentarischen Wirken den bayerischen Landtag auch jenseits der Staatsgrenzen repräsentierten. Weder der bis zu seinem Ausschluß aus der Zweiten Kammer besonders aktive liberale Würzburger Staatsrechtler Wilhelm Joseph Behr noch sein konservatives Pendant, der Erlanger Friedrich Julius Stahl, erhalten mehr Würdigung ihrer Persönlichkeit als eine Anmerkung mit den nackten Lebensdaten.
Dem Autor gebühren allerdings dort Meriten, wo die bisherige (bayerische) Parlamentarismus-Forschung Lücken aufwies. Dankbar ist man neben der Schilderung bisher unbekannter Interaktionen zwischen Regierung und Landtag beispielsweise für die Darstellung der Baulichkeiten des provisorisch wirkenden Münchener Landtagsgebäudes oder für die Bemerkungen zur Tätigkeit des Landtagsstereotypisten Franz Xaver Gabelsberger, dem die Erfindung der später gängigen Kurzschrift zu namentlicher Berühmtheit verhalf. Auch die nähere Betrachtung des Ausschußwesens ist verdienstvoll, während der Autor bei der Schilderung der Wahlen zur Zweiten Kammer kaum über Leebs grundlegende Studie hinausgelangt. Es fällt lediglich auf, daß er viele Diagramme darbietet, deren Nutzen für generelle Aussagen sich aber oft in Grenzen hält.
Götschmann läßt ganz offenbar wenige Fragen über die bayerische parlamentarische "Speisefolge" im Vormärz unbeantwortet--freilich über den Tellerrand, nach den sonstigen süd- oder mitteldeutschen "Tischsitten", hat er nicht gesehen. Er bleibt dem Freistaat verpflichtet und schert sich nicht um den Rest. Auch der Deutsche Bund gerät kaum in seinen Blick. Bezeichnenderweise fehlt Hambach sowohl im Orts- als auch im Sachregister, obwohl das dortige Fest 1832 vorgeblich zur Feier des bayerischen Verfassungsjubiläums stattfand. Aber weil der bayerische Landtag zufällig in diesem Jahr pausierte, erspart sich Götschmann alle diesbezüglichen Ausführungen. Überhaupt hätte eine weitere Einbeziehung der Außenperspektive nicht geschadet. Der Autor hat sich ganz auf den Fundus der in München lagernden Archivalien beschränkt und weder den Niederschlag der Parlamentsarbeit in der Presse (selbst nicht die Berichte der in Augsburg erscheinenden Allgemeinen Zeitung Cottas) noch die Berichte der auswärtigen Gesandten aus der bayerischen Hauptstadt herangezogen.
So nimmt es letztlich kaum Wunder, daß Götschmann auch die Kritik an den bisherigen Handbuch-Bänden zum deutschen Parlamentarismus, die Thomas Kühne 1998 äußerte, offensichtlich übersehen hat. Da wurde das Reihen-Konzept als veraltet gescholten und eine Neubesinnung angemahnt. Nach einer "kreativen Pause" von einem Jahrzehnt müßten sich nunmehr die "alltags-, erfahrungs- und kulturgeschichtlichen Erweiterungsprozesse der Sozialhistorie" im Handbuch niederschlagen, um "konzeptionelle Stagnationstendenzen" zu überwinden.[2] Nicht daß man nun jede Forderung Kühnes hätte umsetzen müssen, aber zumindest eine Auseinandersetzung in der Einleitung wäre doch zwingend geboten gewesen.
So legt der Leser am Ende rund tausend Seiten einer schwergewichtigen Studie beiseite in dem Gefühl, belehrt zu sein in vielen Details und dennoch den Überblick zu vermissen. Götschmanns Werk hat den bayerischen Parlamentarismus des Vormärz buchstäblich "in Ordnung" gebracht und einem starren chronologisch-systematischen Schema bisweilen prokrustesartig unterworfen. Dafür wird ihm der nachforschende Regionalhistoriker dankbar sein. Derjenige aber, der in komparatistischer Absicht Orientierung über den frühen deutschen oder gar europäischen Parlamentarismus sucht, wird sich vermutlich ein überschaubareres Werk gewünscht haben.
Notes:
[1]. Josef Leeb, Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818-1845) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996); Bernhard Löffler, Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848 bis 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik (München: C. H. Beck, 1996).
[2]. Thomas Kühne, "Parlamentarismusgeschichte in Deutschland. Probleme, Erträge und Perspektiven einer Gesamtdarstellung," Geschichte und Gesellschaft 24 (1998): S. 323-338, hier S. 335, 338.
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Citation:
Ewald Grothe. Review of Götschmann, Dirk, Bayerischer Parlamentarismus im Vormärz: Die Ständeversammlung des Königreiches Bayern 1819-1848.
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