Ulrike Tischler. Die habsburgische Politik gegenÖ¼ber den Serben und Montenegrinern 1791-1822. FÖ¶rderung oder Vereinnahmung? MÖ¼nchen: R. Oldenbourg Verlag, 2000. 403 S. DM 98,00 (gebunden), ISBN 978-3-486-56525-6.
Reviewed by Maurus Reinkowski (Universität Bamberg, Lehrstuhl für Turkologie)
Published on HABSBURG (June, 2001)
War Metternich Entwicklungspolitiker?
War Metternich Entwicklungspolitiker?
Ulrike Tischlers Arbeit ist durch ihre Beobachtung motiviert, dass die oesterreichische Orientpolitik (in den Augen der Autorin identisch mit dem Begriff "Balkanpolitik") erst von den 1820er Jahren an gut bekannt ist. Das besondere Interesse an der Genese der suedosteuropaeischen Nationalstaaten habe die Aufmerksamkeit der Historiker auf die zweite Haelfte des 19. Jahrhunderts gelenkt. Die Forschung ueber Metternichs Politik angesichts der Orientalischen Frage habe sich wiederum vor allem mit dem griechischen Unabhaengigkeitskampf in den 1820er Jahren beschaeftigt. Tischler untersucht daher die oesterreichische Haltung gegenueber dem ersten serbischen Aufstand (1804-1813) und dem Unabhaengigkeitsstreben Montenegros im Zeitraum von 1791 bis 1822, besonders aber fuer die Zeit ab 1809, als Metternich das oesterreichische Aussenamt uebernahm.
Die in einem leicht antiquierten Stil geschriebene, aber gut lesbare diplomatiegeschichtliche Untersuchung widmet sich im ersten Abschnitt einem "Historisch-politischen Abriss der Beziehungen zwischen Oesterreich und dessen suedslawischen Nachbarvoelkern, den Serben und den Montenegrinern" (S. 23-222). Die Position Oesterreichs im internationalen System und die sich daraus ergebende Anlage oesterreichischer Politik stehen dabei im Mittelpunkt. Der Teil ueber die Haltung Oesterreichs gegenueber der Serbien-Frage basiert auf einer kompletten Durcharbeitung von Aleksa Ivics Sammlung oesterreichischer Dokumente ueber den ersten serbischen Aufstand. [1] Fuer den weitaus kuerzeren Abschnitt zu Montenegro im ersten Teil wurden dagegen nahezu ausschliesslich unveroeffentlichte Quellen aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, aber auch aus anderen Archiven Wiens, herangezogen.
Der zweite Abschnitt widmet sich zuerst dem "Entscheidungsfindungsprozess" (S. 225-287) der oesterreichischen Aussenpolitik in der Aera Metternichs. Tischler stellt hier das oesterreichische System der Informationssammlung ueber den Balkan und das Zusammmenspiel der beteiligten oesterreichischen Behoerden vor. Im zweiten Teil dieses Abschnitts ("Oesterreichische Projekte einer Entwicklungspolitik fuer die tuerkischen Serben und die Montenegriner als Beitrag zur 'europaeischen' Friedenssicherung", S. 291-374) diskutiert die Autorin (gruppiert um einen oesterreichischen Verfassungsentwurf fuer Serbien aus dem Jahr 1810 und ein Memorandum Metternichs zu Montenegro aus dem Jahr 1820) ausfuehrlich die Frage, welche grundsaetzlichen Ziele und Auffassungen hinter Metternichs Balkanpolitik gestanden haben moegen.
Unter den drei in den Balkan verwickelten grossen Maechten Russland, Osmanisches Reich und Oesterreich zeigt die Autorin wenig Sympathien fuer die ersten beiden. Das Osmanische Reich, gepraegt durch "Lethargie" (S. 123, 130, 244) und "nur noch sehr bedingt" als legitim zu bezeichnen (S. 210), ist ein hilfloses Sorgenkind europaeischer Politik geworden. Nach Tischler wird die Politik des Osmanischen Reiches von den Befehlen des Koran bestimmt. So scheiterten etwa die Gespraeche mit der Pforte ueber den Status von Serbien "letztlich doch immer wieder am beharrlichen Festhalten der tuerkischen Regierung an den Gesetzen des Koran, also an einer typisch 'orientalischen' Sichtweise der Dinge, mit der die tuerkische Regierung wohl stets ihr brutales Vorgehen gegen die serbischen Aufstaendischen wuerde rechtfertigen koennen" (S. 321).
Ueberraschender ist die Abwertung Russlands als rein destruktivem Akteur in Suedosteuropa. Waehrend Oesterreichs Politik auf Ausgleich bedacht und "europaeisch" ausgerichtet gewesen sei, haette Russland nur eine ruecksichtslose "einzelstaatlich ausgerichtete Interessenpolitik" betrieben (S. 16 und aehnliche Formulierungen passim). Tischler steht wohl unter dem Einfluss einer in den Primaer-, und teilweise wohl auch Sekundaerquellen tradierten anti-osmanischen und anti-russischen Einstellung. Ihre einseitig negative Einschaetzung Russlands und des Osmanischen Reiches muss allerdings die Grundanlage der Arbeit nicht beschaedigen.
Oesterreich habe dagegen wegen aussenpolitischer (Mittellage, Erstarken Russlands und Frankreichs) und innenpolitischer (Vielvoelkerstaat) Vorgaben eine Politik des "Temporierens" und des Ausgleichs verfolgt. Tischler erwaehnt zwar die Machtinteressen oesterreichischer Politik, ein wohlwollendes Verstaendnis ueberwiegt aber: Auf den ersten Blick egoistische Zuege oesterreichischer Politik wuerden sich naemlich durch die von Oesterreich betriebene europaeische Ausgleichspolitik erklaeren lassen. Tischlers Fazit lautet daher, dass Metternich systematisch eine konstruktive und verstaendnisvolle Politik gegenueber den Balkanvoelkern betrieben habe. Es sei dem Staatskanzler nicht um die Vereinnahmung oder Unterdrueckung der Balkanvoelker gegangen, sondern vielmehr habe er "mit staatsmaennischem Weitblick und Verantwortungsbewusstsein" gehandelt und eine "gezielte 'Foerderung' der Balkanvoelker durch Schaffung von 'Kulturregionen'" angestrebt: "Deshalb wird das bisher vorherrschende und meist negativ belegte Bild von Metternich als dem 'Unterdruecker', als dem 'Verhinderer' wohl einer starken Revision unterzogen werden muessen" (S. 377).
Als Hauptindizien fuer eine solch positive Deutung der Balkanpolitik Metternichs dienen Tischler der Verfassungs- und Organisationsentwurf fuer die Provinz Serbien von 1810 und Metternichs Gutachten zu Montenegro von 1820. Das Ziel des detailliert ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs war, den unterentwickelten Zustand von Serbien beseitigen zu helfen und "die in Eigenregie geleistete Entwicklungshilfe der oesterreichisch-serbischen Untertanen wieder eher unter staatliche Kontrolle zu bringen" (S. 310). Metternichs Gutachten zu Montenegro, das nicht von Oesterreich direkt kontrolliert werden sollte, zielte vor allem auf Massnahmen zur Abschaffung der Blutrache und Stammespartikularismen, sowie auf Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Nach dem Urteil der Verfasserin liegt beiden Schriftstuecken die "zivilisatorische Idee einer 'moralischen' Eroberung der Serben bzw. der Montenegriner zugrunde, die darin bestand, das Empfinden dieser Voelkerschaften fuer eine Zugehoerigkeit zu 'Europa' zu sensibilisieren und aus ihnen allmaehlich 'moralisch' bessere, eben 'europareife' Menschen zu machen" (S. 370).
Dieser Interpretation muss man sich nicht anschliessen. Der Verfassungsentwurf fuer Serbien liesse sich genauso gut als Plan zu einer klammheimlichen Uebernahme Serbiens unter dem Deckmantel einer vollstaendig entleerten osmanischen Oberhoheit verstehen, das Gutachten Metternichs zu Montenegro als eine modernisierte und verfeinerte Variante traditioneller Kooptierungspraktiken.
Tischler kommt auch deswegen zu einem so positiven Urteil, weil sie die Terminologie der emanzipatorisch gesinnten Entwicklungspolitik des 20. Jahrhunderts auf die oesterreichische Grossmachtpolitik am Anfang des 19. Jahrhunderts uebetraegt. So spricht die Autorin von einer pazifistischen Einstellung Metternichs, der die Grundlagen fuer einen Demokratisierungsprozess in Suedosteuropa habe legen wollen. Die oesterreichische Politik sei "als Teilaspekt einer praeventiven Sicherheitspolitik bzw. als Beitrag zur 'europaeischen' Friedenssicherung zu verstehen" (S. 310) und koenne als eine ambitionierte "Entwicklungspolitik" (S. 310, 367) begriffen werden. Auch die wiederholte Betonung eines angeblichen Metternichschen Vorhabens, Serbien, Montenegro und alle anderen Gebiete des Balkans zu "europaeisieren", ueberzeugt nicht so recht. Russland war jedenfalls nach Tischler kein Teil von Europa, denn eines der Ziele Oesterreichs war, die orthodoxe Bevoelkerung des Balkans "von ihrer hauptsaechlich durch Religionsfanatismus bedingten Anhaenglichkeit an Russland weg nach 'Europa' hinzuziehen" (370).
Das Archivmaterial, das von Tischler gruendlich und ueberzeugend praesentiert wird, traegt dazu bei, das Bild Metternichs als einem reinen Obstruktionisten und Reaktionaer zu erschuettern. Zu einem Kollegen von Bodo Hombach sollte man Metternich dennoch nicht stilisieren.
Anmerkung:
[1]. Aleksa Ivic, Spisi beckih arhiva o Prvom srpskom ustanku. 11 Bde. (Beograd: Srpska Kraljevska Akademija, 1935-1977).
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Maurus Reinkowski. Review of Tischler, Ulrike, Die habsburgische Politik gegenÖ¼ber den Serben und Montenegrinern 1791-1822. FÖ¶rderung oder Vereinnahmung?.
HABSBURG, H-Net Reviews.
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