Avraham Barkai. "Wehr Dich!": Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893 - 1938. München: C.H. Beck Verlag, 2002. 496 S. EUR 44.90 (cloth), ISBN 978-3-406-49522-9.
Reviewed by Silvia Cresti (CISE, Universita' di Pisa)
Published on H-German (June, 2005)
_ber zwiefache Hingabe: Deutschtum und Judentum deutscher Juden vom
Am 3. September 1939, am Tag der englisch-franzsischen Kriegserklrung, schrieb Hans Reichmann, der ab 1933 geschftsfhrender Syndikus des C.V. war, aus seinem Londoner Exil folgenden Berichtsbrief:
"Das Erlebnis dieser sechs Jahre und die Erkenntnis, da solche Katastrophen wieder ber die jdische Gemeinschaft hereinbrechen knnen, lt eine andere zweifelnde Stimme hren. Sie spricht scharf und unerbittlich logisch: Lohnt es sich, die Qual zu verewigen? Um welches Zieles willen leben wir dieses Leben zwiefacher Hingabe, bekennen wir uns zum alten Judentum und zum Volk um uns? Soll Ahasver in immer neuen Generationen durch die Welt schweifen, das Stigma des Fremden in und an uns tragen, neue Spannungen beschwrend, angstvoll neunen Haausbruchs gewrtig? ... War das nicht unser Schicksal schon 1933? War nicht blind und vermessen, wer seine Erfllung aufhalten wollte, doppelt vermessen dann, wenn er die Mglichkeit der Vernichtung immer vor sich sah? Wohl die Mglichkeit, aber nicht die schicksalhafte Notwendigkeit dieses Ausganges. Es war kein Naturgesetz, da alles so gekommen ist, so kommen mute. Ich habe nicht gengend Abstand zu mir selbst, um fr mein Urteil Gltigkeit zu fordern; jenes Urteil, das diesen Kampf und dieses Ende, deutsches Judenschicksal seit 1933 und die Haltung, in der es bestanden wurde, tragisch nennt und unseren Untergang im Lichte der groen Tragdie sieht" (quoted, S. 367-368).
Diese Zeilen knnten als Fazit fr Denkweise und Einstellung des Centralvereins deutscher Staatsbrger jdischen Glaubens (C.V.) stehen, jener politischen Organisation deutscher Juden, die 1893 zur Abwehr des Antisemitismus gegrndet und 1938 von der Gestapo aufgelst wurde. Laut Zitat waren fr den C.V. zwei Aspekte charakteristisch: zum einen das doppelte, balancierte Bekenntnis zum Judentum und Deutschtum, das Glauben an Emanzipation und Aufklrung voraussetzte; zum anderen das Festhalten an einem unteleologischen Geschichtsverstndnis auch angesichts der sich anbahnenden Katastrophe.
Der ideengeschichtlichen Entwicklung dieser grten und wichtigsten jdischen Vereinigung widmet sich Avraham Barkai in seinem Buch, das er als Rehabilitation jener Organisation versteht, die damals schon von der Zionistischen Vereinigung fr Deutschland (ZVfD) fr ihr Assimilantentum verschrien wurde. In der Intention des Autors--ein in einem Kibbuz lebenden israelischen Historiker, der zahlreiche Bcher und Aufstze zur deutsch-jdischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert und zum Nationalsozialismus publiziert hat[2]--trifft sich diese moralische Motivation mit einer wissenschaftlichen, da eine systematische Geschichte des C.V. bislang fehlte. Diese wissenschaftliche Lcke mchte nun das Buch fllen. Wissenschaftliche Voraussetzung dafr war die Wiederentdeckung des Archivs des C.V., das lange als verschollen galt, im sogenannten Moskauer Sonderarchiv, auf das sich Barkais Buch wesentlich sttzt.
Mit seinem Buch wendet sich Barkai somit implizit gegen die Dominanz zionistischer Geschichtsschreibung in Israel; dabei widerlegt er die zionistische Kritik am C.V., die besagt, da seine Mitglieder ihr Judentum gnzlich aufgegeben htten. Die Geschichte des C.V. ist nach Barkai eben nicht die einer Preisgabe jdischer Identitt, sondern fhrt im Gegenteil zu einer progressiven, neuen jdischen Selbstfindung. Das Buch, das chronologisch strukturiert ist, dokumentiert den ideologischen Wandel, den der C.V. vom Kaiserreich ber die Weimarer Republik bis hin zur nationalsozialistischen Diktatur durchgemacht hat: als Abwehrverein gegrndet, entwickelte sich der Verein schon im spten Kaiserreich zu einem Gesinnungsverein, der zu einer progressiven Neuentdeckung jdischer Identitt seitens jener politisch liberalen und religis reformierten jdischen Deutschen fhrte, die die Mitglieder des C.V. ausmachten.
Dieser ideologische Wandel wird nach Barkai auf verschiedenen Ebenen nachvollzogen: zum einen mit einem strukturellen Wandel, als die oligarchische Grndungsgeneration in der Zeit der Weimarer Republik abgelst wurde, was eine Demokratisierung und Dezentralisierung der Strukturen des C.V. mit sich brachte. Gleichzeitig vernderte sich auch das Sozialprofil des Vorstandes: die Honoratioren, die berwiegend Juristen waren und ehrenamtlich fr den C.V. arbeiteten, wurden von einer jngeren Generation von Funktionren abgelst, die fr ihre Arbeit bezahlt wurden und sich in verschiedenen Bereichen spezialisierten. Im Zuge dieser Demokratisierung und Professionalisierung vernderte sich die Grundeinstellung des C.V., da der Verein von der Defensive zu einer neuen, positiven Einstellung zum Judentum gelangte. Diese Entwicklung zu einem assertiven Judentum setzte schon im spten Kaiserreich ein, wie aus folgenden Beispielen ersichtlich wird: 1898 spricht der C.V. Vorstand noch von Weihnachtsgratifikationen, die ab 1902 Chanukka-Gratifikationen genannt werden; ab 1905 wird das Berliner Bro am Samstag geschlossen und dafr am Sonntag geffnet (p. 47). Allen Ebenen des Wandels--der ideologischen, der strukturellen, der sozialen und psychologischen-- ist nach Barkai gemeinsam, dass der C.V. eben zu einem affirmativen Judentum gelangt.
Ein erster Kritikpunkt des Buches knnte da einsetzen, wo Barkai die Entwicklung des C.V. als interne jdische Entwicklung auffat und analysiert, ohne sie in einen eingehenden historischen Kontext zu setzen. Somit erscheint die Wende zu einem affirmativen Judentum als selbstreferentielle Entwicklung des C.V. und lt unbercksichtigt, was Reichmann noch 1939 anspricht: da nmlich seine Identitt historisch sich aus zweifacher Hingabe zusammengesetzt hat, neben dem Judentum eben dem "Volk um uns."
Tatschlich ist die Interdependenz von Deutschtum und Judentum jener deutschen Juden, die sich zu einem humanistisch-rationalistischen Liberalismus bekannten, von hchster Brisanz, da die beiden Entitten von Deutschtum und Judentum in Folge der sich abwechselnden Regierungsformen und deren sich ergebenden Loyalitten jeweils anders dekliniert wurden: so wie das Bekenntnis zum alten Judentum in uns, das Reichmann 1939 ausspricht, etwas anderes meint als ein analoges Bekenntnis zum Judentum, das 1893 oder 1918 ausgesprochen worden wre, so bleibt auch das Deutschtum fr den C.V. Vorstand keine konstante Gre.
Die "Pflege deutscher Gesinnung" zum Beispiel, der sich der C.V. laut Paragraph 1 der Grndungssatzung zu widmen hat, intendierte schon whrend der Weimarer Republik etwas anders, obwohl der Paragraph erst 1935 gendert wurde. Gleichzeitig erweiterte sich die Definition des Judentums, das im Kaiserreich allein als Religion aufgefat wurde, schon zur Zeit des ersten Weltkriegs, und dann eindeutig in der Weimarer Republik, um Termini wie Stammes- und Schicksalsgemeinschaft. Dieser Wandel ist ein Zeichen dafr, da die rein religise Definition des Judentums ab der Weimarer Republik um eine andere Dimension erweitert wurde, die eine kollektive Identitt jenseits der Religion postulierte. Diese kollektive Identitt konnte verstndlicherweise nicht die der Zionisten sein, die sich als Volk verstanden. Und doch subsumiert die gemeinsam erlebte (Leidens)Geschichte und die gemeinsame Abstammung als Signum des Judentums das implizite Scheitern der Emanzipation mit ihrem individualisierenden Anspruch und deutet auf eine ethnisierende Wende hin.
So wie das Auftauchen des Terminus Stammes- und Schicksalsgemeinschaft auf eine Krise hindeutet, so signalisiert spiegelbildlich der Terminus Volksgenossen, der in den C.V.-Publikationen ab der ersten Phase der Weimarer Republik floriert, die gleiche Krise. Lange bevor die NSDAP den Terminus Volksgenosse fr sich allein in Anspruch nahm, deutete sein Auftauchen und seine Verwendung in der politischen Sprache der frhen Weimarer Republik auf eine vlkische Wende im Verstndnis der nationalen Angehrigkeit hin: der Terminus bedeutete eine schon ethnisch gefrbte Zugehrigkeit zum deutschen Volk. Seine Verwendung in den verschiedenen Publikationen des C.V. in der frhen Weimarer Republik hrt sich wie eine Beschwrung dieser vlkischen Wende an und kann als implizites Pldoyer fr eine andere, nicht-ethnische Auffassung von Volk verstanden werden. Volksgenosse wurde in diesen Publikationen als das Band verstanden, das jdische und nicht-jdische Deutsche zusammenhielt. Erst in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik kommt es zu einer ersten Klrung der vlkischen Wende mit den bahnbrechenden Analysen ber diesen neuen Antisemitismus. Die Geschichte des C.V. ist somit nicht nur jdische Geschichte, sondern gleichzeitig auch ein gutes Stck deutscher Geschichte.
Neben der internen Perspektive, die Barkai fr seine Darstellung whlt, gilt ein weiterer Kritikpunkt der Art der Darstellung von Barkais Buch: diese ist wenig analytisch und sehr deskriptiv, wobei die Zitate aus Dokumenten und Briefen von Mitgliedern des C.V. Vorstandes lange Seiten fllen. Solche Dokumente sind zweifellos sehr wichtig, weil sie einen internen Einblick gewhren; vor allem in der Zeit der NS-Diktatur belegen die Dokumente die moralische Statur der Mitglieder. Da jedoch solche Zitate stellenweise lnger sind als der explizierende Text Barkais, stellt sich die Frage, weshalb die Form der wissenschaftlichen Publikation und nicht beispielweise die einer Anthologie der Briefe und Dokumente des C.V. gewhlt wurde.
Notes
[1]. Avraham Barkai,Wehr Dich!, S. 367-368, zitiert aus: Hans Reichmann, Deutscher Brger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ Sachsenhausen 1937-1939, bearbeitet von Michael Wildt, Mnchen 1998, S. 277 u. ff.
[2]. Vgl. Avraham Barkai, Hoffnung und Untergang: Studien zur deutsch-jdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Hamburg: Christians, 1998); und idem, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus: der historische und ideologische Hintergrund 1933-1936 (Kln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1977).
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Citation:
Silvia Cresti. Review of Barkai, Avraham, "Wehr Dich!": Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893 - 1938.
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