Gerhard Senft. Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des StÖ¤ndestaates. Ö?sterreich 1934-1938. Wien: BraumÖ¼ller, 2002. 550 S. EUR 64.00 (gebunden), ISBN 978-3-7003-1402-8.
Reviewed by Jürgen Nautz (Institut für Wirtschaftswissenschaften, Universität Wien und Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Universität Kassel)
Published on HABSBURG (April, 2004)
Wirtschaftsideologie und Wirtschaftspolitik des Ständestaates
Wirtschaftsideologie und Wirtschaftspolitik des Ständestaates
Der Titel des Buches verspricht eine Abhandlung über die Wirtschaftspolitik in Österreich zwischen 1934 und 1938. Die überwiegende Anzahl der Ökonomen und Wirtschaftshistoriker dürfte aber in ihren Erwartungen an eine Geschichte der Wirtschaftspolitik wenn nicht enttäuscht, so doch irritiert sein, da sich der Verfasser sehr ausführlich mit wirtschaftsphilosophischen Fragen und mit der allgemeinen Ständestaatsideologie befasst, bevor er sich dem "wirtschaftspolitischen Handeln" in sektoraler Gliederung zuwendet. Den Anfang macht jedoch eine umfängliche Einleitung unter dem Titel "Von der großen Krise zum Ständestaat". Hier versucht Gerhard Senft eine Synthese der bisherigen Forschungen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Ersten Republik, welcher er einen Exkurs über Modernisierungstheorien folgen lässt.
Es wird zurecht darauf hingewiesen, dass die Zwischenkriegsjahre von andauernden Verteilungskämpfen geprägt waren. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik sei, so der Befund, in Österreich zu sehr an dem überkommenen Ziel der Geldwertstabilität und eines ausgeglichenen Budgets ausgerichtet gewesen. Den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise sei mit unzureichenden Mitteln, nämlich mit Deflationspolitik, entgegengetreten worden. Die zunehmende Unruhe im Lande (Streiks, Parlamentskrise, politische Gewalt) habe Kanzler Dollfuß genutzt, um die demokratischen Institutionen in Österreich auszuhebeln. Nach dem Bürgerkrieg setzte das Dollfußregime eine neue Verfassung durch, die Gewerkschaften wurden zerschlagen und die Arbeiterkammern gleichgeschaltet (spätestens jetzt fragt man sich, ob die Katastrophe nicht schon längst begonnen hat, wenngleich einem dann die Worte fehlen für die Zeit des Nazi-Terrors.)
Zwar sind in diesem ersten Kapitel die ökonomische Entwicklung, die fiskalpolitischen Kalamitäten und die Verteilungsprobleme im wesentlichen richtig dargelegt. Dennoch gerät die Darstellung schon hier etwas in Schieflage. Bezeichnend ist die Summe, die Senft am Beginn des zweiten Kapitels aus seinem ersten zieht: "Im vorangegangen Kapitel wurde zu zeigen versucht, dass die Herausbildung diktatorischer bzw. autoritärer Systeme keineswegs als Zufallsprodukte oder schlichte Betriebsunfälle des historischen Prozesses zu werten sind, sondern dass sie im Gegenteil als 'Crux und Angelpunkt' der neuzeitlichen Geschichte betrachtet werden müssen. Diktaturen und andere 'Sozialpathologien der Moderne' finden ihren Ursprung in einer ungleichmäßigen und einseitigen kapitalistischen Rationalisierung der Gesellschaft [...] In Österreich stellten die 20er Jahre eine Zeitspanne dar, in der der Konflikt zwischen Moderne und Gegenmoderne einem neuen Höhepunkt zustrebte" (S. 47). Spätestens jetzt wird klar, wozu es des Exkurses zu den Modernisierungstheorien bedurfte.
Ein solches Erkenntnisinteresse ist durchaus legitim und vermittelt interessante Einblicke. Allerdings erscheint es problematisch, die wirtschaftliche Entwicklung und die Wirtschaftspolitik der zwanziger Jahre als Beleg für Gesetzmäßigkeiten privatwirtschaftlich orientierter Gesellschaften zu benutzen. Zumindest ist der Rezensent dieses Buches von der Offenheit historischer Prozesse überzeugt. Es macht diese Offenheit aus, dass es keine gesetzmäßige Festlegung des Kräfteverhältnisses der Antinomien der Moderne gibt. Schließlich hat es in den nationalen Wirtschaften Europas vergleichbare Problemzonen gegeben, ohne dass der Weg in die Diktatur oder in den Terror gewählt worden wäre. Etwa gab es in den Niederlanden angesichts des NS-Regimes in Deutschland eine Zensur der sozialdemokratischen Medien und der katholische Klerus fühlte sich Rom verbunden, aber es gab keinen Terror. Freilich haben die österreichische Unternehmerschaft und große Teile des Bürgertums die Errungenschaften der Demokratie vor allem als Kostenbelastung und Einschränkung der property rights gesehen, aber diese Personen sind nicht auf die Rolle des homo oeconomicus zu beschränken, sondern sie sind durch vielfältige Determinanten, etwa die Erziehung, bestimmt.
In der Konsequenz der Dramaturgie des Buches folgt nun in Kapitel 2 eine Abhandlung über die "Ideologie des Ständestaates". Hier werden anschaulich und sehr kompetent die geistesgeschichtlichen Grundlagen dieser Ideologie im 19. und 20. Jahrhundert herausgearbeitet. Die Lektüre zeigt aber auch, dass die Traditionen der ständestaatlichen Ideologie in einem verwandten Umfeld existiert haben: Es gab neben der katholischen Soziallehre andere Antiliberalismen und Antisozialismen. Etwa hat Lujo Brentano die Idee von paritätisch besetzten korporativen Selbstverwaltungskörperschaften vertreten, die die industriellen Beziehungen regeln sollten.
Weitere Unterkapitel sind den "Architekten des Ständestaates" gewidmet: "Karl Freiherr von Vogelsang und die christlichen Sozialreformer", "Der Solidarismus von Heinrich Pesch bis Johannes Messner", "Othmar Spann und sein Kreis", "Die Beiträge Ignaz Seipels", schließlich die "dynamischen Einflüsse des italienischen Faschismus" und zum Schluss die Enzyklika "Quadragesimo anno" von Papst Pius XI. Hier finden sich in den Ideen Vogelsangs oder Messners über selbstverwaltete Berufsstände Konstruktionen, die, für sich betrachtet, nicht fern jenen Positionen standen, wie sie z.B. der gerade genannte Kathedersozialist Brentano vertreten hat. Othmar Spanns Vorstellungen von den notwendigen Entscheidungsstrukturen berufständischer Selbstverwaltung macht dann aber die Differenz deutlich, wenn Spann die Entscheidungsgewalt beim Unternehmer, dem "Wirtschaftsführer" vorsieht. Vielleicht in Anknüpfung an die Vorstellung vom "Ganzen Haus" geht Spann davon aus, dass der Unternehmer, der Hausvater, am besten weiß, was gut für die "Gefolgschaft", die Arbeitnehmer, ist.
Aber hier zeigt sich auch, dass die ständestaatliche Ideologie in ihrer Zeit nicht sehr avantgardistisch war, was im Buch denn auch sehr gut herausgearbeitet wird. Dass Arbeitskonflikte per gemeinsamem Rosenkranzbeten gelöst werden sollten, wie eine Forderung in einem frühen Heimwehrprogramm lautet, ist vielleicht blauäugig und kurios, aber per se noch nicht anti-demokratisch. Die Protagonisten des Ständestaates, so mag ein Fazit des Kapitels sein, konnten einerseits auf originäre theoretische Vorarbeiten zurückgreifen, oft aber haben sie für ihre autoritäre Ideologie geistesgeschichtliche Stränge vereinnahmt, die eine ganz andere Grundorientierung hatten. So stellt Senft auch heraus, dass sich die politische Rolle der Enzyklika Quadragesimo anno in der Zwischenkriegszeit in Österreich auf eine "reine Feigenblatt-Funktion" reduziert (S. 105).
Ein drittes Kapitel widmet Gerhard Senft dem "Wesen und Aufbau des 'real existierenden' Ständestaates", wobei er zunächst den Weg zur Verfassung vom Mai 1934 nachzeichnet, um sich dann den berufsständischen Elementen der "Mai-Charta" von 1934 zuzuwenden. Es war kaum zu erwarten, etwas grundlegend Neues über den Weg in den Ständestaat zu erfahren. Es geht dem Autor in diesem Kapitel wohl vor allem darum, den neu gestalteten Rahmen für Interessenpolitik herauszuarbeiten, um die Spielräume einzelner sozialer Gruppen unter dem neuen Regime ausloten zu können.
Senft arbeitet im nachfolgenden Kapitel 4 heraus, dass sich keineswegs eine starke Ausprägung ständischer Selbstverwaltung herausgebildet hat. Ein anderer Befund hätte zweifelsohne überrascht. (Allerdings erscheint die Frage interessant, wie weit die "ständischen Initiativen" auf die Richtung der ordnungspolitischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere auf die Entwicklung des Kammerwesens Einfluss nehmen konnten; dies gilt auch für Deutschland). Es ging ja den einflussreichen Personen und Gruppen unter den Proponenten der ständischen Ordnung weniger um die Schaffung einer gottgefälligen "Insel der Seeligen" als um optimalere Bedingungen für Kapitalrenten, wozu die Beseitigung der einseitig als Kostenbelastung empfundenen republikanischen Institutionen gehörte. Wenn der Verfasser die Entwicklung der Gewerkschaften, aber auch anderer Interessenorganisationen ausbreitet, wird dies bestätigt.
Mit Kapitel 5 "Sektoren des wirtschaftspolitischen Handelns", das im Vorwort als "Kernstück der Schrift" bezeichnet wird, will uns Senft eine "beschreibend-analystische Darstellung" (S. 1) der österreichischen Wirtschaftspolitik bieten, aufgegliedert in die Sektoren Geld- und Währungspolitik, Finanzpolitik, Außenhandels-, Industrie- und Infrastrukturpolitik, Gewerbepolitik, Landwirtschaftspolitik und schließlich Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Vor dieser sektoralen Betrachtung befasst es sich mit allgemeinen Leitlinien der ständestaatlichen Wirtschaftspolitik.
Nach der Lektüre dieses Kapitels stellt man fest, dass das überkommene Bild von der wirtschaftspolitischen Entwicklung in Österreich keiner einschneidenden Revision bedarf: Die dominanten Linien der Wirtschaftspolitik der dreißiger Jahre blieben auch unter dem Ständestaatsregime die gleichen und passten weiterhin recht gut in das europäische Umfeld, sieht man einmal von dem deutschen Weg ab 1933 ab. Diese Kontinuität ist schon in früheren Studien zur Wirtschaftspolitik deutlich geworden. Besonders evident ist dies für die Bereiche Währung und Finanzen, gilt aber auch für die Bereiche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Daneben dominierten diskretionäre Strategien, Pragmatismus, gelegentlich auch (so die Einschätzung des Rezensenten), wie schon vor dem Staatsstreich, Hilflosigkeit. Senft kommt, indem er konsequent immer wieder die wirtschaftspolitische Realität und ständestaatliche Ideologie miteinander in Verbindung setzt, zu dem wenig verblüffenden Ergebnis, dass die ständestaatliche Ideologie kaum eine Prägekraft für die Wirtschaftspolitik entfalten konnte (und dies sicher auch nicht sollte). Sie diente wohl vor allem der Popularisierung dieses Weges, gehörte zur "Schaupolitik", während die "Entscheidungspolitik" von anderen Rationalitäten und Zwängen geprägt war.
In einem letzten Kapitel befasst sich Senft mit der "ökonomischen Entwicklung, Wirtschaftspolitik und wirtschaftspolitischen Alternativen im Österreich der 30er Jahre", eine seit Knut Borchardts Studie sehr beliebte Thematik.[1] Der Rezensent hätte sich statt dessen ein Kapitel gewünscht, in dem nochmals die verschiedenen Argumentationslinien des Buches zusammengeführt und mit einem Resümee abgeschlossen werden. Dies unterlässt der Autor bedauerlicherweise, statt dessen werden uns verschiedene Topoi der österreichischen Skandalgeschichte, des Präkeynesianismus und anderes vor Augen geführt.
Nach der Lektüre auch dieses Kapitels stellt sich für den Rezensenten die Frage, welchen Erkenntnisgewinn er aus diesem Buch gezogen hat. Sicher waren die Passagen über die Entwicklung der ständestaatlichen Ideologie lesenswert und gewinnbringend. Die Entfaltung der ökonomischen Entwicklung und der wirtschaftspolitischen Linien der zwanziger und dreißiger Jahre brachte allerdings keine neuen Erkenntnisse. Auch die Diskrepanz zwischen ständestaatlicher Ideologie und realer Wirtschaftspolitik können kaum überraschen.
Problematisch für die Entwicklung der Argumentation dieser Studie ist genau das, was der Titel befürchten lässt: Senft konstruiert eine zu starke Gesetzmäßigkeit zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Durchsetzung antidemokratischer Strukturen in Österreich. Diese Entwicklung war nicht zwangsläufig vorprogrammiert.
Senft breitet eine Vielzahl von Details vor seinen Lesern aus, und sein Anmerkungsapparat zeugt von großer Belesenheit. Dennoch erscheint die Literaturauswahl gelegentlich doch etwas zu kursorisch. Dies gilt auf jeden Fall für die Ausführungen zur Außenhandels- und zur Währungs- und Finanzpolitik. Etwa negiert Senft völlig die unter Dollfuß und Schuschnigg initiierten Aktivitäten (zum Teil gemeinsam mit der Tschechoslowakei) zur Belebung des innereuropäischen Handels unter Ausschaltung des Deutschen Reiches. Gescheitert sind solche Initiativen nicht an der autoritären oder faschistischen Mentalität der österreichischen Eliten, sondern an der politischen Schwäche anderer europäischer Staaten. Man weiß nicht, ob dies ein Versehen ist oder ob dies der löblichen Ablehnung des ständestaatlichen Regimes geschuldet ist.
Wenn man einmal die letzten Seiten des Buches als Resümee des Autors nimmt, fragt man sich unweigerlich nach dem Kontext zur Wirtschaftspolitik. Senft wiederholt hier wieder sein Glaubensbekenntnis aus der Einleitung und stellt fest, dass die Resistenz gegenüber dem deutschen Nationalsozialismus in Österreich "nur schwach ausgeprägt" geblieben sei, hätte vor allem ökonomische Ursachen. "In der vom Ständestaat-Regime geschaffenen Zwangslage [...] blieb kein Weg aus der wirtschaftlichen Misere offen, ein Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit des Landes war so nicht herzustellen" (S. 523). Da ist etwas dran, aber es beantwortet nicht die Frage, weshalb es in Deutschland und in Österreich soviel Aufgeschlossenheit für erbarmungslose Diktatur gegeben hat, nicht aber in anderen europäischen Ländern, die ebenfalls mit massiven wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatten. Aber dies ist wohl eine andere Geschichte...
Anmerkung
[1]. Knut Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 50, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1982).
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Jürgen Nautz. Review of Senft, Gerhard, Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des StÖ¤ndestaates. Ö?sterreich 1934-1938.
HABSBURG, H-Net Reviews.
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